Eine Kirche für das Volk!

Eine der beiden Kammern eines Parlamentes kann im übertragenen Sinne wie eine Kirche für das Volk verstanden werden. Das entsprechende Bild dafür lieferte uns Ildefonso Falcones in seinem Historienroman „Die Kathedrale des Meeres„:

„Gefällt sie dir?“, fragte Berenguer de Montagut unvermittelt.
Ob sie ihm gefiel? Diese Frage hatte er sich nie gestellt. Er sah, wie die Kirche wuchs, ihre Mauern, ihre Apsiden, ihre herrlichen schlanken Säulen, ihre Strebepfeiler, aber … Gefiel sie ihm?
„Es heißt, sie wird die schönste aller Kirchen werden, die je auf der Welt für die Jungfrau errichtet wurde“, sagte er schließlich.
Berenguer sah Arnau an und lächelte. Wie sollte er einem Jungen, einem Bastaix, erklären, wie diese Kirche aussehen sollte, wenn nicht einmal Bischöfe und Adlige imstande waren, die Größe seines Projekts zu erahnen?
„Wie heißt du?“
„Arnau.“
„Nun gut, Arnau, ich weiß nicht, ob es die schönste Kirche der Welt wird.“ Arnau vergaß seinen Fuß und sah den Baumeister an. „Aber ich versichere dir, dass sie einzigartig sein wird, und einzigartig bedeutet weder besser noch schlechter, sondern einfach nur das: einzigartig.“
Berenguer de Montagut ließ seinen Blick über den Bau schweifen, dann sprach er weiter: „Hast du schon einmal von Frankreich oder der Lombardei gehört, von Genua, Pisa, Florenz?“ Arnau nickte. Natürlich hatte er von den Feinden seines Landes gehört. „Nun, an all diesen Orten werden ebenfalls Kirchen erbaut. Es sind große Kathedralen, prächtig und über und über mit Schmuckelementen verziert. Die Herrschenden dieser Orte wollen, dass ihre Kirchen die größten und schönsten auf der ganzen Welt sind.“
„Wollen wir das denn nicht?“
„Ja und nein.“ Berenguer de Montagut sah ihn an und lächelte. „Wir wollen, dass dies die schönste Kirche der Menschheitsgeschichte wird. Doch das wollen wir mit anderen Mitteln erreichen als die anderen. Wir wollen, dass das Haus der Schutzpatronin des Meeres das Haus aller Katalanen ist, im selben Geist ersonnen und erbaut, der uns zu dem gemacht hat, das wir sind, indem wir auf unsere ureigenen Elemente zurückgreifen: das Meer und das Licht. Begreifst du?“
Arnau dachte einige Sekunden nach. Dann schüttelte er den Kopf.
„Wenigstens bist du ehrlich“, lachte der Baumeister. „Die Herrschenden handeln zu ihrem eigenen, persönlichen Ruhm. Anders hingegen wir. Ich habe gesehen, dass ihr eure Lasten manchmal zu zweit mit Hilfe einer Stange tragt statt auf dem Rücken.“
„Ja, wenn sie zu groß sind, um sie auf dem Rücken zu tragen.“
„Was würde geschehen, wenn wir die Länge der Stange verdoppelten?“
„Sie würde zerbrechen.“
„Nun, genauso ist es mit den Kirchen der Herrschenden … Nein, ich will damit nicht sagen, dass sie einstürzen“, erklärte er angesichts der erschreckten Miene des Jungen. „Aber weil sie so groß, so hoch und so lang sein sollen, muss man sie sehr schmal bauen. Hoch, lang und schmal, verstehst du?“ Diesmal nickte Arnau. „Unsere wird das genaue Gegenteil sein. Sie wird weder so lang werden noch so hoch, dafür aber sehr breit, damit alle Katalanen hineinpassen, vor ihrer Jungfrau vereint. Wenn sie eines Tages fertig ist, wirst du es sehen. Es wird Raum für alle Gläubigen da sein, ohne Unterschiede, und der einzige Schmuck wird das Licht sein, das Licht des Mittelmeeres. Mehr Schmuck brauchen wir nicht. Nur den Raum und das Licht, das dort hineinfallen wird.“ Berenguer de Montagut deutete auf das Gewölbe und beschrieb eine Handbewegung bis zum Boden. Arnau folgte seiner Hand mit dem Blick. „Diese Kirche wird für das Volk erbaut werden, nicht zum höheren Ruhme eines Fürsten.“
„Meister …“ Einer der Gesellen war zu ihnen getreten. Die Pflöcke und Schnüre waren wieder in Ordnung gebracht.
„Begreifst du nun?“
Eine Kirche für das Volk!

2022-06-24_Beitragsbild_Mehr-Demokratie-Wagen

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