Jetzt übernehmen wir!

Am besten funktionieren solche Veränderungen, an die man sich gewöhnen kann und die zumindest nicht disruptiv sind. (Armin Nassehi, in: Unbehagen, S 330)

Wege zum repräsentativen Parlament

Das Motto der 14. Armutskonferenz in St. Virgil, Salzburg, ist kein Aufruf zur Revolution. Es wäre vermessen zu glauben, eine Umkehrung der Machtverhältnisse führt zu wohlstandsmehrenden Lebensverhältnissen für die zuvor Benachteiligten. Ein gutes Leben für alle braucht in einer offenen Gesellschaft auf Dauer das gesamte Meinungsspektrum in den Institutionen der Volksvertretung. Genau deshalb, weil dieses durch die bestehenden Repräsentationslücken derzeit nicht gegeben ist, benötigen die politischen Entscheidungsgremien vielmehr eine partizipative Aufwertung.

Verschiedene Formen stehen dafür zur Auswahl. Zwischen Bürger*innen-Rät*innen und Losbewegungen ist vieles sinnvoll. Nicht vertreten hingegen ist dabei die Idee eines Jean Jacques Rousseau, der in seinem Gesellschaftsvertrag meinte: wenn es denn schon Teilgesellschaften – sprich: Parteien – geben soll, dann „ist es wichtig, ihre Zahl zu vervielfachen und ihrer Ungleichheit vorzubeugen“ (Nr. 320). Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Auch wenn das Angebot der KPÖ+ in Salzburg zahlreiche Bürger*innen wieder zurück an die Wahlurnen bewegt, wird dadurch auf Dauer kein vielfältiges Meinungsspektrum gewährleistet. Diese Garantie erfordert in letzter Konsequenz wie die nichtterritoriale Selbstverwaltung Bestimmungen im Bundes-Verfassungsgesetz (S 18). Demokratiestärkende Reformen sind allerdings erst – wie in anderen Ländern auch – nach entwicklungsfördernden Regierungskrisen zu erwarten. Es gibt aber noch weitere Barrieren zu überwinden:

Erfolge im Kampf gegen die relative Armut sind viel schwerer zu erringen als im Kampf gegen die absolute Armut, weil … die Bekämpfung der relativen Armut [erfordert], dass man den Reichtum antastet. (Christoph Butterwegge)

Wer die „selektive Responsivität“ als strukturelle Bevorzugung der Reichen in der Gesetzgebung aufheben will, kämpft gegen dieselben Windmühlen.

Dringend empfohlen: eine Kultur der Mitentscheidung

Zur Überwindung dieser Widerstände braucht es eine entsprechende Kultur (siehe zB Vorarlberg) zur Erzielung nachhaltiger Transformationserfolge auf dem Weg zu der von Hartmut Rosa vorgeschlagenen „Gemeinwohlkonzeption, weil Politik nicht einfach Interessendurchsetzung ist.“ Wenn durch diese das Volk souverän wirken können soll, hat sie nach Hans Kelsen eine Institution der Republik zu sein. Dazu brauchte es Tamara Ehs zufolge nicht einmal eine Gesetzesänderung: es reicht, „die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer [zu] interpretieren.“ (Krisendemokratie, 2020, S 101 f)

Das wäre zwar ein willkommener erster Schritt, doch dieser ist nicht ohne unser Engagement abseits von Krisen zu erwarten. Das zeigen beispielsweise die Ergebnisse einer parlamentarischen Enquete-Kommission aus dem Jahr 2014 zur „Stärkung der Demokratie in Österreich“. Damals wurden viele Überlegungen nicht einmal ignoriert – wie auch jene von Tamara Ehs:

„Wir haben gemeinsam dieses Grünbuch ‚#besserentscheiden‘ ausgearbeitet, und da kam die Idee auf, ob es nicht der Bundesrat sein könnte, der sich hier neu orientiert. Eine Neuorientierung des Bundesrates als eine Art politischer Think Tank, wo Expertinnen und Experten eingeladen werden, wo der Bundesrat aber auch Bürgerkonferenzen in den einzelnen Bundesländern organisiert, als zukunftsgerichteter Think Tank, eben auch nach Beispiel des finnischen Zukunftsausschusses, wo man Veränderung begleiten kann. Veränderung findet ja immer statt, es geht nur darum: Laufen wir quasi der Veränderung hinterher oder gestalten wir sie mit? – Da könnte der Bundesrat mit dem bereits angesprochenen Demokratiebüro zusammenarbeiten, einen Raum auch für alternative Ideen finden, wo Bürgerinnen und Bürger gemeinsam neue Formen der Demokratie überhaupt erst einmal ausarbeiten können.“ (a. a. O., S 308)

2023-10-27_mitentscheiden_ein-fest-fuer-alle_skizze-01Um nicht tatenlos auf eine reformbegünstigende Krise warten zu müssen, können wir jederzeit wichtige Schritte setzen zur Vorbereitung einer partizipativen Gesetzgebung. Diesbezüglich und zur möglichen Abwendung von Krisen bieten Demokratiefestivals* einen von vielen Wegen zur Entwicklung einer Mitentscheidungskultur, mit dem Ziel, angestrebte Reformvorhaben zu beschleunigen.

Gesuchter Meilenstein: Antworten auf die Kulturfrage

Eine dauerhaft wirkende Partizipationskultur etabliert sich allerdings erst durch dauerhaft Wirkende** in all ihrer Buntheit. Attraktive kulturelle Angebote von kooperierenden Playern der Zivilgesellschaft an verschiedenen Orten können die dargebotene „demokratische Kultur“ zur lebendigen Volkskultur werden lassen – mit entsprechenden Aufträgen*** an die Politik.

Was die Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit betrifft, so darf die im Jahr 2013 eingeführte Pass Egal Wahl von SOS Mitmensch als Vorbild genannt werden. Dadurch konnte erstmals neun Jahre später die Arbeiterkammer Wien zur Mitwirkung gewonnen werden.

Neben den bereits erwähnten Demokratiefestivals gibt es zB noch die Demokratiewoche in Telfs rund um den Internationalen Tag der Demokratie und viele andere interessante Formate mehr.

*| Siehe auch a) „Festival für Bürgerbeteiligung und deliberative Demokratie„, das vom Kompetenzzentrum für partizipative und deliberative Demokratie (CC-DEMOS) der Europäischen Kommission organisiert wird und b) Mitmacht, ein Festival von Faktor D.
**| Dieter Rucht erwartet sich von kontinuierlicher Arbeit „auf lange Sicht viel mehr als von den kurzzeitig aufflammenden Protesten von Hunderttausenden oder gar Millionen.“ (S 8)
***| Vgl. Druck auf politische Eliten in Bosnien-Herzegowina, sich um einen EU-Beitritt zu bemühen.

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Der Inhalt dieser Webseite vom MI 10. April 2024 als pdf-Datei


Ergänzende Hinweise

1. Publikationen und Medien, zusammengestellt von der Stiftung Mitarbeit.

2. Tamara Ehs in der oben erwähnten Enquete-KommissionStärkung der Demokratie in Österreich“ am 18. Dezember 2014:2024-03-14_Enquete-Kommission_Staerkung-Demokratie_2014_Tamara-Ehs_transparente-Gesetzgebung

3. Eine der Forderungen der Arbeiterkammer zur Stärkung der „Demokratie auf allen Ebenen“ lautet:

Den Umbau demokratisch gestalten: Politik lebt von der Mitwirkung. Die Maßnahmen des sozialen und ökologischen Umbaus sollten daher in breiten und partizipativen Diskussionsprozessen entwickelt und demokratisch entschieden werden. Dabei sollten innovative, sozial repräsentative und inklusive Formen von Partizpation angewandt werden, um der Bevölkerung effektive Möglichkeiten zur Mitwirkung zu geben.“

Quelle: Wirtschaft & Umwelt 1, 2024, S 21

4. Was es neben den bisherigen Bemühungen noch braucht: institutionalisierte Dauerhaftigkeit

2024-04-05_InterAct_25-Jahre_Legislatives-Theater_UniZentrum-WallPolitische Erfolge der Bürger*innenräte und des Legislativen Theaters sind wichtige Schritte auf dem Weg zu repräsentativen Parlamenten in Gemeinden, Städten, Regionen, Nationen und in supranationalen Institutionen. Ihre Schwerpunkte liegen in ausgewählten Themen. Zudem liefern sie wichtige kulturelle Beiträge („soziales Kapital„) zur Zukunftsfähigkeit von demokratischen Gesellschaften. Allerdings sind sie damit noch weit entfernt von einer dauerhaften Gemeinwohlkontrolle im Sinne eines Armuts-Checks von Gesetzen und Verordnungen, formuliert von Dr. Michael Landau im Jänner 2020. Die Steine auf dem Weg dorthin sind nur gemeinsam zu beseitigen. Einzelne Projekte oder Wortmeldungen – selbst jene von Willy Brandt in seiner Regierungserklärung im Jahr 1969, die da lautet: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ – bringen uns der wünschenswerten und zu fordernden Repräsentativität in der Gesetzgebung allenfalls nach schweren Krisen näher. Bislang aber nicht nahe genug.

Deshalb braucht es noch zusätzlich Proteste als Demokratiegeneratoren (Armin Nassehi) ebenso wie Diskurse und Festivals, am besten in Form einer lebendigen Mitentscheidungskultur. Solange ausreichend viele „konkrete demokratische Erfahrungsräume fehlen“ (Jakob Fürst), sind wir aufgerufen, „Mitentscheidung einzufordern„. Wie sonst soll Armut als Risiko für [die] Demokratie jemals aus der Welt geschafft werden?

Demokratie als Lebensform wird mittlerweile bereits in Kindergärten praktiziert und gelernt. Gleichzeitig braucht es idealerweise auch eine verfassungsmäßig verankerte Gewährleistung einer repräsentativen Mitwirkung an öffentlich relevanten Entscheidungen. In der 14. Armutskonferenz wurde daher folgendes von den anwesenden „Minister*innen“ beschlossen:

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EuTopia ruft

Jeweiliger Link zu den Inhalten: Druck von unten durch fortschrittliche soziale Bewegungen, Losverfahren und Diskussion


Zu Eutopia, dem Land des Glücks, fühlen wir uns schon immer hingezogen. Wen wundert es also, dass bereits verschiedene Projekte danach benannt wurden. Die Sehnsucht nach dem Paradies, dem „guten Ort“, um eine weitere Bedeutung des Begriffs Eutopia zu verwenden, wird uns auch weiterhin begleiten. Wenn wir versuchen wollen, diesen Wunsch lebendig werden zu lassen, dann dürfen wir uns allerdings nicht die Mühe ersparen, die gegebenen Verhältnisse zu analysieren und allfällige Realisierungschancen zu erörtern. Danach erst sollten wir zur Tat schreiten bzw dazu einladen. Das Paradies auf Erden fällt schließlich nicht ohne unser Zutun vom Himmel.

Zunächst also die Analyse:

Beginnen wir unsere Untersuchungen bei den aktuellen Preissteigerungen, wie wir sie seit einem Menschenleben nicht mehr erlebt haben. Die damit verbundene Krise ist aber nur eine von mehreren, die uns seit einigen Jahren herausfordern.

Wie kam es dazu und welche Schritte können wir setzen, um deren Vermehrung einzubremsen und ihre Auswirkungen zu lindern?

Offensichtlich hat die zunehmende Krisenanfälligkeit unserer westlichen Gesellschaften etwas mit unseren politisch-wirtschaftlichen Gegebenheiten zu tun. Weil nur der Erfolg zählt haben wir uns in Abhängigkeiten begeben, durch die ein einziger Unfall im Suezkanal zu weltweiten und monatelangen Lieferverzögerungen führt. Hinzu kommen soziale Ausgrenzungen von Menschen und die zerstörerische Ausbeutung der Natur.

Lange Zeit wurden die Schattenseiten der willkommenen Wohlstandsvermehrung verschwiegen oder gar in Abrede gestellt. So veröffentlichte das Magazin Spektrum der Wissenschaft bereits im November 2015 die Hintergrundrecherche: „Wie Exxon den Klimawandel entdeckte – und leugnete“. Doch erst Jahre später wird breit darüber berichtet und diskutiert. Kaum bekannt sind auch die Analysen von Per Molander und Michael J. Sandel. Beide beschreiben dasselbe gesellschaftsimmanente Phänomen der Erbaristokratie. Wie sehr das in Leistungsgesellschaften unter Druck geratene Gemeinwohl mittlerweile Demokratien gefährdet, darauf weist der US-amerikanische Moralphilosoph Sandel in seinem 2020 erschienenen Werk „Vom Ende des Gemeinwohls“ hin: „Die Reichen und Mächtigen haben das System manipuliert, um ihre Privilegien zu behalten; die Akademiker haben herausgefunden, wie sie ihre Vorteile an ihre Kinder weitergeben können, wodurch die Meritokratie zu einer Erbaristokratie geworden ist.“ (S 191)

Drei Jahre davor berichtete Per Molander in der Originalausgabe von „Condorcets Irrtum – Warum nur ein starker Staat die Demokratie retten kann“ über Vergleichbares in Venedig:

„In bestimmten Situationen kann eine Meritokratie über die Aristokratie gestellt werden. Ein bekanntes Beispiel ist die spätmittelalterliche Verwandlung der Handelsrepublik Venedig von einer regionalen Großmacht mit dynamischer Ökonomie in einen Stadtstaat unter vielen. Die Entwicklung des Überseehandels im 9. und 10. Jahrhundert hatte dazu geführt, dass das Amt des Dogen, das in der Praxis vererbbar gewesen war, seit dem Jahr 1032 durch Wahlen besetzt wurde. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts wurde ein Kontrollgremium gebildet, der große Rat, das Machtzentrum der Republik. Er wurde jedoch zunehmend von einer Gruppe mächtiger Familien dominiert, und gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurden nach und nach mehrere Verfassungsänderungen vorgenommen, um den Zugang zu begrenzen. Die 1297 verfügte Schließung des Rats, La Serrata, die Venedig zu einer Erbaristokratie machte, wurde im Jahr 1319 endgültig besiegelt.“ Die Folgen waren damals wie heute dieselben: „… die Wirtschaftspolitik entfernte sich von den Prinzipien der Offenheit und des Wettbewerbs.“ (S 190, mehr dazu in: Erbaristokratie versus Gemeinwohl)

Genau an dieser Stelle befinden wir uns heute wieder. Das von Hans Kelsen mit besonderem Nachdruck eingeführte Kontrollgremium Bundesrat konnte in mehr als 100 Jahren kaum jemals im ursprünglichen Sinne wirksam werden. Deshalb gibt es die nicht in der Verfassung genannte Landeshauptleutekonferenz, wodurch die Interessen der Bundesländer nicht wie vorgesehen in die Gesetzgebung des Bundes eingebracht werden. Der Bundesrat als zweite Kammer des Parlaments erfüllt damit und aufgrund des praktizierten Klubzwangs innerhalb der politischen Parteien nur fallweise und mehr zufällig seine Funktion im Rahmen des föderalen Verfassungsprinzips. Viele fragen sich, wie diese Kontrollinstitution zu reformieren sei. Eine Überlegung dazu betrifft das Gemeinwohl als einen Ausdruck des republikanischen Verfassungsprinzips. Darüber später mehr.

Kommen wir zurück zu den Schattenseiten einer willkommenen Wohlstandsvermehrung und den jahrelang vernachlässigten Berichten über Exxon:

Am Ende des fossilen Zeitalters folgen nun – mittlerweile unvermeidlich – die Tage der Abrechnung. Hoffen wir, dass in klimapolitischen Fragen endlich mehr auf das sogenannte „einfache Volk“ gehört wird. Dieses wäre nämlich – das zeigen die Ergebnisse der Beratungen des Klimarates – durchaus bereit zu selbstbegrenzenden Maßnahmen. Der Appell des Klimaforschers Georg Kaser bei der Präsentation am 4. Juli 2022 lautete nämlich: „Und das möchte ich allen Entscheidungsträgern ans Herz legen: Sie würden um vieles weiter gehen, als es die Entscheidungsträger bisher geglaubt haben, weil sie verstanden haben, dass es notwendig ist.“ Zur Kritik an der Auswahl der Teilnehmenden ist folgendes anzumerken: zwar wurde keine Methode einer „aufsuchenden Beteiligung“ gewählt und dennoch war die Gesamtbevölkerung durch die mehr als 80 Teilnehmenden „breit repräsentativ“ vertreten.

Schicksal Bürgerbeteiligung am Beispiel Klimarat

2022-01-10_SDGs_Global-Marshall-Plan-Initiative-Land-SteiermarkObwohl die Durchführung des Klimarates auf einem Entschließungsantrag des Nationalrats beruhte, in dem „Abgeordnete von ÖVP, Grünen und Neos die Bundesregierung um die Einsetzung eines Klimarats ersucht[en], wie er im Klimavolksbegehren gefordert worden war“, meinte der ÖVP-Umwelt- und Klimasprecher Johannes Schmuckenschlager einen Monat vor Veröffentlichung der Beratungsergebnisse: „Ich kritisiere nicht die Bürger, die sich da engagieren, aber ich kritisiere das Gremium als Institution.

Hier sind wir an einem interessanten Kritikpunkt angelangt. Denn nach Hans Kelsen, dem „Vater der Verfassung“ Österreichs, sind „nicht das Volk (dessen Wille ohnehin nur ein fiktiver sei), sondern die Republik und ihre Institutionen“ souverän.

2023-05-22_Rousseau_englische-Volk-glaubt-frei-zu-sein_Gesellschaftsvertrag

2023-12-13_SN_Parteitaktik-versus-Gemeinwohl_Auszug
Zudem gibt es Repräsentationslücken, die nicht einfach durch neue Parteien behoben werden können: https://demokratiefestivals.net/2023/10/19/mitentscheiden/#comment-4

Genau darum geht es aber in einer Demokratie, dass – ganz im Sinne von Jean Jacques Rousseau – der Gemeinwille regiert und nicht die „Summe der individuellen privaten Einzelinteressen„, die sich aus „familiäre[n] oder wirtschaftliche[n] Bindungen […] bilden. […] Diese Mahnung lässt sich auch gegen politische Parteien wenden, sofern sie Klientelpolitik treiben.“

Wie bereits erwähnt, zählt heute mehr denn je nur der private Erfolg jedes Einzelnen. Von „einer spezifischen vertu oder Tugend, an das Gemeinwohl des Ganzen zu denken“ ist in wirtschaftsliberalen Kreisen nichts zu erkennen. Dies wäre ja geradezu blasphemisch hinsichtlich der zu vertretenden Ideologie eines grenzenlosen Wachstums. Das gilt für profitmaximierende Unternehmen ebenso, wie für politische Parteien. Während uns noch die Worte von Papst Franziskus aus seinem apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium aus dem Jahr 2013 gut in Erinnerung sind, die da lauten: „Diese Wirtschaft tötet.“ (S 238), träumt derselbe Papst mittlerweile von einer „anderen Wirtschaft“, wenn er sagt: „Die Wirtschaft muss immer sozial sein und dem Sozialen dienen.

Um dies erreichen zu können, braucht es das demokratische Gegenüber als Regulator für den wirtschaftlichen Wettbewerb. Stattdessen führte dieser zu einer Demokratie, von der Emanuel Towfigh im Jahr 2015 meinte: „Aber die Parteiendemokratie hat sich offenkundig überlebt, die Nachteile dieses Systems werden immer deutlicher sichtbar.“

Fast drei Jahrhunderte davor formulierte Jean Jacques Rousseau daher folgende Überlegungen: „Um wirklich die Aussage des Gemeinwillens zu bekommen, ist es deshalb wichtig, dass es im Staat keine Teilgesellschaften gibt und dass jeder Bürger nur seine eigene Meinung vertritt. […] Wenn es aber Teilgesellschaften gibt, ist es wichtig, ihre Zahl zu vervielfachen und ihrer Ungleichheit vorzubeugen […].“ (Vom Gesellschaftsvertrag …, 320 ff) Wollen wir nun – endlich -, dass mehr das Gemeinwohl „regiert“ und weniger die Partikularinteressen der großen Einflüsterer, dann stellt sich uns diese nächste Frage:

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Wie bringen wir nun den aus zwei Kammern bestehenden Vertretungskörper Parlament dazu, mehr auf alle Menschen im Land zu hören, und nicht nur auf ihre jeweiligen Teilgesellschaften?

Gemäß den Erhebungen der Politikwissenschafterin Erica Chenoweth müssen wir lediglich 3,5 Prozent der Bevölkerung mobilisieren (vgl. Harald Welzer), um ein „Umschwenken der Politik“ zu erzielen. Wichtige Nebenerkenntnis ihrer Forschungen: „Gewaltfreie Bewegungen führten in 53 Prozent zu politischen Veränderungen, verglichen mit nur 26 Prozent bei den gewalttätigen Protesten.“

Von diesen Untersuchungsergebnissen dürfen wir uns aber auch nicht blenden lassen für unser eigenes Tun. Denn aus dem Lichtermeer vom 23. Jänner 1993 in Wien ging zwar die NGO SOS Mitmensch hervor, doch Helmut Schüller als einer ihrer Initiatoren stellt 30 Jahre danach ernüchtert fest: „Denn so, wie es aussieht, ist es noch einigermaßen weit zu einer Politik für Geflüchtete, die ihr Maß an den Menschenrechten nimmt.“ (MO 69: Geflüchtete als Spielball)

Seit 2013 bietet dieselbe Flüchtlingsorganisation daher allen Steuerzahlenden ohne österreichischen Reisepass die Möglichkeit einer Stimmabgabe via „Pass Egal Wahl„. Trotz des hohen Bekanntheitsgrades der Organisation und der bisherigen Erfolge wurde erst neun Jahre nach Beginn der Aktion erstmals im Jahr 2022 ein Wahllokal in der AK Wien eingerichtet.

Neben den bekannten Abwehrmechanismen zur Verteidigung der bereits erwähnten Klientelpolitik gilt es auch noch Widerstände in der „medialen Berichterstattung“ zu berücksichtigen. Co-Autor Quirin Dammerer zu den Ergebnissen der im Mai 2021 publizierten Studie „Die Vermögenssteuer-Debatte in österreichischen Tageszeitungen“: „Es ist interessant, dass wir auf der einen Seite sehen, dass es Mehrheiten für eine Vermögenssteuer in der Bevölkerung gibt und gleichzeitig diese veröffentlichte Meinung stark von dieser befürwortenden Haltung abweicht.“

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Wo setzen wir also an, wenn es darum geht, sich als Gesellschaft für kommende Krisen besser vorzubereiten?

Mit dieser Frage verlassen wir nun endgültig die Analyse und gelangen zum konstruktiveren Teil, genauer: zu konstruierenden Aspekten, die uns künftige Krisen leichter bewältigen helfen sollen oder gar vermeiden. Vielleicht sind es wieder die Jungen wie Greta Thunberg, die den älteren Generationen darin ein Vorbild sein können, aktiv zu werden. So stellt auch Selina Thaler in ihrem UniStandard-Beitrag „Nur nicht abstürzen“ fest: „In all den Krisen seien viele Junge politisch aktiv geworden. Die Welt zu einem besseren Ort zu machen sei für einige ein Antreiber.“

Die nächste Frage wird noch deutlicher:

Wo könnten wir ansetzen und wie sollten wir uns dann engagieren, um 3,5 Prozent unserer Mitmenschen zu motivieren, politisch aktiv und damit auch erfolgreich zu werden?

Die Politikwissenschafterin Tamara Ehs hat im ersten Pandemiejahr ihren Essay „Krisendemokratie“ veröffentlicht, in dem sie sieben Lektionen aus der Coronakrise beschreibt. Eine davon lautet: „Pluralismus der Meinungen ist das Wesen der Demokratie. Die Vielfalt zu hören und aufzunehmen ist Gelingensvoraussetzung des demokratischen Staates und führt zu besseren Entscheidungen.“ Das gilt nicht nur für Wahlen in Krisenzeiten, auf die sie diese Lektion bezieht. Deutlich wird dies im Schlusskapitel „Utopie“, in dem sie festhält: „Im Grunde ist es auch egal, wo wir mit der Demokratisierung beginnen; wichtig ist nur anzufangen.“ Nachfolgend beschreibt sie verschiedene Ansatzpunkte für demokratiestärkende Veränderungen und zivilgesellschaftliches Engagement. Einen für mich zentralen Punkt formuliert sie so: „Um Lehren aus der Krise zu ziehen, muss man bereits den Regelzustand verändern. Hierzu könnte man […] auch ohne Gesetzesänderung die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer interpretieren.“ (S 101 f)

Ergänzende Anmerkung. Tamara Ehs konkretisiert an anderer Stelle mit den Worten: „Für Österreich würde dies auf Nationalstaatsebene bedeuten, den Bundesrat als Bürgerrat neu zu gründen.

Die Idee eines partizipativeren Parlamentarismus ist nicht neu. So haben bereits Anthony Barnett & Peter Carty im Jahr 2008 (s. Anmerkung 7) darauf hingewiesen, das House of Lords, die zweite Kammer des britischen Parlaments, „nicht abzuschaffen oder ihre Kompetenzen einzugrenzen, sondern den Bestellungsmodus dahingehend zu ändern, dass ein Teil seiner Mitglieder künftig unter allen britischen Bürgern ausgelost würde.“ (Hubertus Buchstein, 2009)

Losverfahren

Fünf Jahre später veröffentlichte der Belgier David Van Reybrouck sein Buch „Gegen Wahlen„, in dem er die Vorteile des Losverfahrens (s. a. Hubertus Buchstein) bereits in der Athener Demokratie verortete und dabei folgendes hervorhob: sein Gebrauch „fiel häufig mit dem Höhepunkt von Wohlstand, Prosperität und Kultur zusammen“, es sorgte „in der Regel für weniger Konflikte und größere Beteiligung der Bürger“ und „wurde immer in Kombination mit Wahlen praktiziert, um Kompetenz zu garantieren“. Schließlich stellt er fest: „Staaten, die das Losverfahren anwandten, erlebten häufig Jahrhunderte der politischen Stabilität, trotz großer interner Unterschiede zwischen rivalisierenden Gruppen.“ (S 83) Sich auf Montesquieu und Rousseau beziehend meint Van Reybrouck: „Die zwei wichtigsten Bücher über politische Philosophie aus dem achtzehnten Jahrhundert stimmen […] darin überein, dass das Losverfahren demokratischer sei als Wahlen und dass eine Kombination beider Methoden für eine Gesellschaft von Vorteil sei. Die aleatorischen und elektoralen Verfahren könnten einander stärken.“ (a. a. O., S 85; vgl. Hubertus Buchstein) Diese Kombination bezeichnet Van Reybrouck als „birepräsentatives Modell“ oder „birepräsentatives System“.

Übertragen auf Österreich hieße das: die Wahl von Abgeordneten in den Nationalrat erfolgt wie bisher, die Entsendung in den Bundesrat als zweite Kammer des Parlaments jedoch erfolgt nicht mehr per indirekte Wahl in den Landtagen, sondern per Los.

Demokratie der Zukunft

2023-09-05_Markt-der-Zukunft_Festival

Mit einer partizipativer gestalteten Wahl der Abgeordneten zum Bundesrat könnten wir damit beginnen, unsere Gesetzgebung dem funktionierenden Bikameralismus in der Schweiz anzunähern. Die Ergebnisse des Klimarates stützen diese Überlegung ebenso wie der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) in Deutschland. Dieser hatte bereits im Jahr 2011 in seinem Hauptgutachten „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ die Einrichtung einer Zukunftskammer (Anm.: nicht zu verwechseln mit dem Zukunftsrat) empfohlen:

2023-03-26_mehr-demokratie-huerden„Um Zukunftsinteressen institutionell zu verankern, empfiehlt der WBGU zu erproben, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren um eine deliberative ‚Zukunftskammer‘ zu erweitern: Um interessens- und parteipolitische Einmischung zu vermeiden, könnte die Zusammensetzung dieser Kammer beispielsweise durch Losverfahren ermittelt werden.“ (S 10 f)

Damit sind wir an einem Punkt, an dem wir aufgerufen sind zu handeln. Unser politisches Engagement ist gefragt. Das gilt übrigens auch für die katholische Kirche und ihre Gläubigen. Denn anlässlich der „Ansprache von Papst Franziskus an die Schüler der von Jesuiten geführten Schulen in Italien und Albanien“ antwortete dieser auf eine Frage des Spanischlehrers Jesús Maria Martínez: „Wir müssen uns in die Politik einmischen, denn die Politik ist eine der höchsten Formen der Nächstenliebe, denn sie sucht das Gemeinwohl. Und die Laien müssen sich in der Politik einsetzen.“ Wir sind somit gefordert, uns für eine krisenresistentere Zukunft in einer resilienten Demokratie zu engagieren. Meine bisherigen Ausführungen mögen dabei unterstützend wirken.

2023-03-15_Paul-Ginsborg_Wie-Demokratie-leben_Zivilgesellschaft_aktive-und-kritische-Buerger

Abschließend habe ich nur noch folgende Hinweise:

Sofern die im Nationalrat, der Kammer mit gewählten Abgeordneten, getroffenen Entscheidungen nicht ausreichend partizipativ zustande gekommen sind, gilt das Wort: „Macht braucht Kontrolle“. In einem Artikel aus dem Jahr 2003 zur Reform des Bundesrates in Deutschland heißt es dazu:

„In vordemokratischen Zeiten wurde die Fähigkeit der Gemeinwohlsicherung sozial hervorgehobenen Persönlichkeiten zugeschrieben. Mit dem britischen Oberhaus hat sich bis heute eine solchermaßen geprägte Institution erhalten. Die Form der Bestellung, die sich mit der Idee der Gemeinwohlkorrektur von Parlamentsentscheidungen verbindet, ist diejenige der vererbten Mitgliedschaft in der Zweiten Kammer oder moderner: der Ernennung.“ In den beiden Jahrzehnten seither hat sich viel getan. Es wurden nicht nur Bücher und zahlreiche Artikel über die Verwendung von Losverfahren als Ersatz für die erwähnte „Ernennung“ geschrieben, es wurden mittlerweile auch unterschiedliche Bürgerbeteiligungsmodelle in verschiedenen Ländern erfolgreich in bestehende Entscheidungsstrukturen implementiert.

Weil EuTopia, das Paradies auf Erden, nicht vom Himmel fällt, liegt Krisenbewältigung weiterhin und weitestgehend in unseren Händen. Naturbedingte Krisen, beispielsweise aufgrund von Erdbeben, sind hier keine Ausnahme, denn durch erdbebensicheres Bauen kann viel Leid vermieden werden. Wer sich nicht um entsprechenden Erkenntnisgewinn bemüht, um ihn dann in steigende Lebensqualität zu transformieren anstelle von Wohlstandsvermehrung um jeden Preis, macht sich mitverantwortlich für vermeidbare Folgen. Um die zu bewältigenden Aufgaben gemeinsam besser lösen zu können, bedarf es einer stärkeren Demokratie als bisher. Neben der Wahrung von Bundesländerinteressen braucht es zur Abwehr von Spaltungstendenzen in einer immer differenzierteren Gesellschaft in gleichem Ausmaß eine Institution zur Durchsetzung nichtterritorialer Gemeinwohlinteressen. Wer sich dafür begeistern kann und engagieren will ist herzlich eingeladen zur Gründung eines interdisziplinären Arbeitskreises Demokratie. Glück Auf!

2023-03-08_eutopia-ruft_eine-einladung-zur-mitwirkung

Text dieses Referates als pdf-Datei


Diskussion

Abseits einer liberalen Demokratie lebt es sich weniger frei. Jede und jeder ist davon betroffen. Dies wird von Regierenden zum Teil erkannt, doch in vielen Ländern wird darauf – sofern überhaupt – nur halbherzig reagiert. Wer will schon ohne entsprechenden politischen Druck (von der Straße) etwas von seiner Macht abgeben? So werden „Mitbestimmung, Teilhabe und Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung“ im deutschen Entwurf für ein Demokratiefördergesetz (S 18) zum Idealfall einer Kultur erklärt. Institutionelle Vorkehrungen, die eine über die Bundesländer hinausreichende Mitbestimmung durch die Vielen (zB via Gemeinwohlkontrolle) auch ermöglichen, sind keine vorgesehen. Annäherungen an diesen Idealfall gibt es aber mittlerweile in einigen Ländern Europas. Um dies auch anderswo erreichen zu können und um die zivilgesellschaftlichen Bemühungen zu verstärken, bieten Demokratie-Festspiele eine ebenso unterhaltsame wie kulturell nachhaltige Möglichkeit. Karl R. Popper:

Wir dürfen nicht mehr andere Menschen tadeln, wir dürfen auch nicht die dunklen ökonomischen Dämonen hinter der Szene anklagen. Denn in einer Demokratie besitzen wir den Schlüssel zur Kontrolle der Dämonen. Wir können sie zähmen. Es ist wichtig, daß wir diese Einsicht gewinnen und die Schlüssel gebrauchen; wir müssen Institutionen konstruieren, die es uns erlauben, die ökonomische Gewalt auf demokratische Weise zu kontrollieren und die uns Schutz vor der ökonomischen Ausbeutung gewähren.

Karl R. Popper, in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2; geschrieben während des Zweiten Weltkriegs im Exil in Christchurch, Neuseeland

Unterstützt werden diese Überlegungen durch den im Jahr 2022 veröffentlichten UNRISD Flagship-Bericht „Krisen der Ungleichheit„. Darin lesen wir auf S 26:

Die Schlüsselfrage ist nun, wie wir die politische Unterstützung und die finanziellen Mittel für die Umsetzung dieser Vorschläge in die Praxis erreichen können. Die Bildung von Allianzen ist von entscheidender Bedeutung, um die Macht der Vielen wirksam zu nutzen, um den Einfluss der Wenigen zu zügeln und die bestehenden Machtstrukturen neu auszutarieren. […] UNRISD-Forschungen haben gezeigt, dass eine Kombination aus fortschrittlicher Führung, die vom Gemeinwohl und dem öffentlichen Interesse inspiriert ist, und Druck von unten durch protestierende Bürgerinnen und Bürger, fortschrittliche soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen, unterstützt von multilateralen Organisationen und Rahmenwerken, einen großen Beitrag zu nachhaltigeren und inklusiveren Entwicklungsansätzen leisten kann.

Die Durchführung von Veranstaltungen oder die Veröffentlichungen von Publikationen wie jene des „Zivilgesellschaftlichen Zukunftsbudgets 2017 – 2019“ oder des UNRISD-Berichts sind allenfalls ein Anfang auf dem Weg zu einer fortschrittlichen sozialen Bewegung in einer Größenordnung wie sie Erica Chenoweth beschrieben hat.

2024-02-08_Die-Furche_Craftivism_Winiwarter_AusschnittVermutlich braucht’s noch mehr als bisher die Aktivierung einer Protestkultur mit ausreichend Sexappeal als die bessere Alternative zu Cocooning-Angeboten. Im Sinne einer Weiterentwicklung der Demokratie könnte ihr Ziel die institutionalisierte Gemeinwohlkontrolle sein, zB in Form der bereits ausführlich beschriebenen Zukunftskammer.

Daher zum Schluss nochmals der Hinweis auf diesen Gedanken von Tamara Ehs:

„Im Grunde ist es auch egal, wo wir mit der Demokratisierung beginnen; wichtig ist nur anzufangen.“

2023-05-08_fes_Allianzen-des-Fortschritts

Einladung zur Mitwirkung

Die im Beitragsbild erwähnte Einladung zur Mitwirkung wendet sich an all jene, die sich durch den Inhalt des Impulsreferates „EuTopia ruft“ angesprochen fühlen und sich vorstellen können, sich in einem interdisziplinären Arbeitskreis Demokratie zu engagieren.

2023-04-01_Einladung_UTOPIA-Krisenbewaeltigung_KULM-Verein_Pischelsdorf

Eine Kirche für das Volk!

Eine der beiden Kammern eines Parlamentes kann im übertragenen Sinne wie eine Kirche für das Volk verstanden werden. Das entsprechende Bild dafür lieferte uns Ildefonso Falcones in seinem Historienroman „Die Kathedrale des Meeres„:

„Gefällt sie dir?“, fragte Berenguer de Montagut unvermittelt.
Ob sie ihm gefiel? Diese Frage hatte er sich nie gestellt. Er sah, wie die Kirche wuchs, ihre Mauern, ihre Apsiden, ihre herrlichen schlanken Säulen, ihre Strebepfeiler, aber … Gefiel sie ihm?
„Es heißt, sie wird die schönste aller Kirchen werden, die je auf der Welt für die Jungfrau errichtet wurde“, sagte er schließlich.
Berenguer sah Arnau an und lächelte. Wie sollte er einem Jungen, einem Bastaix, erklären, wie diese Kirche aussehen sollte, wenn nicht einmal Bischöfe und Adlige imstande waren, die Größe seines Projekts zu erahnen?
„Wie heißt du?“
„Arnau.“
„Nun gut, Arnau, ich weiß nicht, ob es die schönste Kirche der Welt wird.“ Arnau vergaß seinen Fuß und sah den Baumeister an. „Aber ich versichere dir, dass sie einzigartig sein wird, und einzigartig bedeutet weder besser noch schlechter, sondern einfach nur das: einzigartig.“
Berenguer de Montagut ließ seinen Blick über den Bau schweifen, dann sprach er weiter: „Hast du schon einmal von Frankreich oder der Lombardei gehört, von Genua, Pisa, Florenz?“ Arnau nickte. Natürlich hatte er von den Feinden seines Landes gehört. „Nun, an all diesen Orten werden ebenfalls Kirchen erbaut. Es sind große Kathedralen, prächtig und über und über mit Schmuckelementen verziert. Die Herrschenden dieser Orte wollen, dass ihre Kirchen die größten und schönsten auf der ganzen Welt sind.“
„Wollen wir das denn nicht?“
„Ja und nein.“ Berenguer de Montagut sah ihn an und lächelte. „Wir wollen, dass dies die schönste Kirche der Menschheitsgeschichte wird. Doch das wollen wir mit anderen Mitteln erreichen als die anderen. Wir wollen, dass das Haus der Schutzpatronin des Meeres das Haus aller Katalanen ist, im selben Geist ersonnen und erbaut, der uns zu dem gemacht hat, das wir sind, indem wir auf unsere ureigenen Elemente zurückgreifen: das Meer und das Licht. Begreifst du?“
Arnau dachte einige Sekunden nach. Dann schüttelte er den Kopf.
„Wenigstens bist du ehrlich“, lachte der Baumeister. „Die Herrschenden handeln zu ihrem eigenen, persönlichen Ruhm. Anders hingegen wir. Ich habe gesehen, dass ihr eure Lasten manchmal zu zweit mit Hilfe einer Stange tragt statt auf dem Rücken.“
„Ja, wenn sie zu groß sind, um sie auf dem Rücken zu tragen.“
„Was würde geschehen, wenn wir die Länge der Stange verdoppelten?“
„Sie würde zerbrechen.“
„Nun, genauso ist es mit den Kirchen der Herrschenden … Nein, ich will damit nicht sagen, dass sie einstürzen“, erklärte er angesichts der erschreckten Miene des Jungen. „Aber weil sie so groß, so hoch und so lang sein sollen, muss man sie sehr schmal bauen. Hoch, lang und schmal, verstehst du?“ Diesmal nickte Arnau. „Unsere wird das genaue Gegenteil sein. Sie wird weder so lang werden noch so hoch, dafür aber sehr breit, damit alle Katalanen hineinpassen, vor ihrer Jungfrau vereint. Wenn sie eines Tages fertig ist, wirst du es sehen. Es wird Raum für alle Gläubigen da sein, ohne Unterschiede, und der einzige Schmuck wird das Licht sein, das Licht des Mittelmeeres. Mehr Schmuck brauchen wir nicht. Nur den Raum und das Licht, das dort hineinfallen wird.“ Berenguer de Montagut deutete auf das Gewölbe und beschrieb eine Handbewegung bis zum Boden. Arnau folgte seiner Hand mit dem Blick. „Diese Kirche wird für das Volk erbaut werden, nicht zum höheren Ruhme eines Fürsten.“
„Meister …“ Einer der Gesellen war zu ihnen getreten. Die Pflöcke und Schnüre waren wieder in Ordnung gebracht.
„Begreifst du nun?“
Eine Kirche für das Volk!

2022-06-24_Beitragsbild_Mehr-Demokratie-Wagen

Das Soziale ist die beste Medizin!

Auf der Suche nach einem guten Leben für alle bietet uns die Geschichte von Dr. Faust eine interessante Vorlage, die wir uns näher ansehen wollen:

Als Margarete ihre Kleider einräumen wollte entdeckt sie ein Schmuckkästchen und fragt sich: „Wie kommt das schöne Kästchen hier herein?“ Verführerisch „hängt ein Schlüsselchen am Band“, sie benützt dieses und probiert schließlich die „Herrlichkeit“ von einer Kette, mit der „eine Edelfrau am höchsten Feiertage gehn“ könnte. Margarete fragt sich: „Was hilft euch Schönheit, junges Blut?“ und kommt zur Erkenntnis: „Man lobt euch halb mit Erbarmen. Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Ach wir Armen!“

Reich durch unser Engagement für andere

Werden wir in dem Moment, als unser Herz dem äußeren Glanz verfällt zu lebloser Materie? Was sonst könnte Johann Wolfgang von Goethe mit „alles“ gemeint haben? Jedenfalls sind wir arm, sobald wir nach irdischem Reichtum streben.

Reich hingegen werden wir durch unser Engagement zur Abwendung von absoluter und relativer Armut. Doch an dieser Stelle scheiden sich bereits die Geister. Christoph Butterwegge:

Erfolge im Kampf gegen die relative Armut sind viel schwerer zu erringen als im Kampf gegen die absolute Armut, weil die Einkommensverteilung so beeinflusst werden muss, dass niemand zu weit nach unten vom Mittelwert abweicht. Denn im Unterschied zur absoluten Armut, der man auf karitativem Wege, das heißt mit Lebensmitteltafeln, Kleiderkammern und Möbellagern begegnen kann, erfordert die Bekämpfung der relativen Armut, dass man den Reichtum antastet.

Quelle: Die Verharmlosung der Armut, 2016-10-21

Solidarität, die sich rechnet

Der Kampf gegen Armut und für sozialen Frieden muss nicht mit Entbehrungen verbunden sein, die als belastend empfunden werden. Er darf auch intelligent geführt werden. So, dass am Ende alle siegen.

Beispiel: „Housing first“. Dieses politische Konzept der Unterstützung von Obdachlosen (über-)fordert diese nicht, sondern es gibt. Andere würden stattdessen von den Betroffenen erwarten, „sich einen Job zu suchen und sich von psychischen Problemen oder Suchterkrankungen selbst zu befreien. Erst dann gibt es Hilfe bei der Wohnungssuche.“1

2021-03-18_kontrast-at_housing-firstDabei wäre es so einfach und gleichzeitig hilfreich für die Mitte der Gesellschaft wie für die sozial Ausgegrenzten:

Soziale Ungleichheit schadet allen, also auch den Reichen

Um den Blick frei zu bekommen dafür, müssen wir uns verabschieden von verschiedenen Überzeugungen, die wir uns angeeignet haben im Glauben an die Versprechungen nach mehr Freiheit für alle. Darin ist eine ganz andere Kette verborgen als die, mit der wir uns zu schmücken versuchen. Denn am Ende aller Flexibilisierung steht Burnout, am Ende aller Ausbildungserfolge 2021-03-22_Einband_Das-Gift-der-Ungleichheit_Dierk-Hirschel_smallbleiben die guten Arbeitsplätze knapp und für viele fehlen sie ganz. Dierk Hirschel: „Die unzähligen Taxifahrer und Paketboten mit akademischem Abschluss legen davon Zeugnis ab. Hier werden häufig Ursache und Wirkung verwechselt. Ein gerechtes Bildungssystem, das alle Kinder zum Abitur und Studium führt, schafft nicht automatisch mehr Verteilungsgerechtigkeit. […] Das spricht nicht gegen notwendige Bildungsreformen, aber gegen die weit verbreitete Illusion, mit Bildungspolitik für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen zu können.“ (Das Gift der Ungleichheit, 2020, S 126 f)

Wir müssen keinem Wachstumsfetisch um jeden Preis anhängen, um Studienergebnisse des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der OECD zu akzeptieren, wonach soziale Ungleichheit der Prosperität eines Landes schadet. Anika Stitz und Silke Birgitta Gahleitner in ihrer Rezension zu Gleichheit ist Glück (…) von Richard Wilkinson und Kate Pickett: „Soziale Probleme sind zwar, wie die AutorInnen hervorheben, vermehrt in den ärmeren Schichten einer Gesellschaft festzustellen, aber häufiger in Gesellschaften, die eine hohe Ungleichheit aufweisen.“3

Reich durch den Kampf gegen Erwerbsarmut und Arbeitslosigkeit

2021-04-26_kontrast_VOEST-reduzierte-Normalarbeitszeit_weniger-Arbeitslose_weniger-Burnout

In diesem Sinne machen wir uns allen einen Gefallen, indem wir uns gewerkschaftlich organisieren, auf der Basis von solidarisch-nachhaltigen Konzepten zivilgesellschaftlich vernetzen und gemeinsam mobilisieren. Dazu müssen wir aufklären. Mitunter auch darüber, dass es Gesetze gibt, die es einzuhalten gilt. Wir müssen aber auch aufklären darüber, dass wir der Souverän in unseren Demokratien sind, die hier Lebenden und Arbeitenden, und nicht das Finanzkapital4. Dessen letzter Zweck darf nicht die Maximierung des Profits um jeden Preis sein, sondern es soll uns ein gutes Leben ermöglichen. Andernfalls wären wir als Menschen genauso arm wie Margarete, wenn sie den gefundenen Schmuck nicht von sich weisen würde, indem sie Marthe gegenüber meint: „Ach Gott! der Herr ist gar zu gut: Schmuck und Geschmeide sind nicht mein.“

So gesehen bereichern wir uns im doppelten Sinne, wenn wir einerseits gegen soziale Ausgrenzung auf den Arbeitsmärkten kämpfen und andererseits dafür volkswirtschaftlich prosperieren. Kulturelle Bildung kann uns dabei helfen, sofern wir „unseren Blick für die Potentiale öffnen, die im Spiel der Wirklichkeit stecken.


Anmerkungen

1 | In: „Finnland hat es geschafft: Es gibt fast keine Obdachlosen mehr!„, veröffentlicht am 10. 11. 2020, 9:21 MEZ

2 | Dierk Hirschel in Das Gift der Ungleichheit: „Die Lohnspreizung spiegelt sich auch in den Monatslöhnen wider. Monatslöhne sind ungleicher verteilt als Stundenlöhne, da die Arbeitnehmer unterschiedlich lange arbeiten. Niedriglohnbezieher schufteten unfreiwillig weniger.“ (S 27) Wie sich Ungleichheit zudem negativ auf alle Steuerzahlenden auswirkt: „Die Ungleichheit in der Primärverteilung ist gewaltig. Was in der ersten Runde der Einkommensverteilung schiefläuft, kann der Staat anschließend nur mühsam mittels Steuern, Abgaben und Transfers korrigieren. Umgekehrt entlastet eine egalitäre Primärverteilung den Staat, da er dann weniger bedürftige Bürger unterstützen muss. Der soziale Ausgleich und somit die Wirksamkeit des Sozialstaats lässt jedoch nach.“ (S 29)

2021-03-21_DIW-Berlin-2019_Entwicklung-der-verfuegbaren-Haushaltseinkommen-nach-Dezilen

3 | Anika Stitz/Silke Birgitta Gahleitner. Rezension vom 07.06.2011 zu: Richard Wilkinson, Kate Pickett: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Haffmans & Tolkemitt (bei Zweitausendeins) 2009. 2. Auflage. ISBN 978-3-942048-09-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11444.php, Datum des Zugriffs 30.03.2021

4 | Zwei Aspekte sind hier zu erwähnen, die einander verstärken: einerseits führt Arbeitslosigkeit und materielle Armut neben gesundheitlichen Folgen auch zu sozialer und politischer Ausgrenzung zB durch eine geringere Wahlbeteiligung und andererseits wirkt „selektive Responsivität“ im Rahmen der Gesetzgebung.

Dr. Joseph Kuhn am Schluss seines Beitrages „Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Ergebnisse aus der bayerischen Gesundheitsberichterstattung“ resümierend: „Zu starke soziale Ungleichheit scheint, wie internationale Studien zeigen, gesundheitlich für alle abträglich zu sein, auch für die wohlhabenderen Gruppen (Wilkinson/Pickett 2010). Von einer erfolgreichen Umsetzung des „Health in all Policies“-Ansatzes würde also die Gesellschaft insgesamt profitieren.“ (S 15)

Mit anderen Worten: Das Soziale ist die beste Medizin! (S 6)

Dieser mittlerweile oft zitierte Gedanke wurde vermutlich erstmals von Ilona Kickbusch als Bezeichnung verwendet für ihren gleichnamigen Vortrag auf dem Kongress „Armut und Gesundheit“ im Dezember 2000.

Aus der Fülle konkreter Anwendungen seien Social Prescribing und gesellschaftliche Teilhabe genannt. Die Rahmenbedingungen dafür und für jede weitere soziale Innovation sind so zu gestalten, dass sie diese zeitnah und bundesweit fördern.


Nachsatz

Was muss geschehen, dass Gesetze und Verordnungen „das Soziale als die beste Medizin“ fördern? Aktionismus wird dazu nicht reichen, denn wie wir gesehen haben, konnten 100.000 Demonstrierende gegen den 12-Stunden-Tag diesen nicht verhindern. Jahre später gibt es ihn noch immer, inklusive der geöffneten Tür zur Sonntagsarbeit. Vermutlich werden wir so etwas wie eine zivilgesellschaftliche Mitentscheidung brauchen, zB in Form von Räten bei der Formulierung von Gesetzen und Verordnungen oder als Kontrollinstanz.

Auch innerhalb der Interessensvertretungen gilt es hinsichtlich der Zielabwägungen aufzupassen. Insbesondere dann, wenn der „Health in All Policies„-Ansatz als Argument dafür dient, um in einer zunehmend von Erwerbslosigkeit und prekären Arbeitssituationen gebeutelten Arbeitswelt einen späteren Pensionsantritt zu unterstützen (siehe FSG-Antrag 8).

Räte für Sorgearbeit: weil Kompetenz zählt, nicht Ideologie

Im Rahmen der interaktiven Online-Konferenz „Mehr für Care!“ im Februar 2021 fand sich eine Arbeitsgruppe zum Thema Mehr für Care-Räte. Die dabei besprochenen Aspekte enthielten erste Hinweise für die nachfolgenden Überlegungen.

Während in Deutschland der Indikator „Gender Care Gap“ in den „Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung“ eingeführt wurde, hat in Österreich die Diskussion darüber erst begonnen.

Die ökonomischen und sozialen Folgen der seit jeher ungleichen Verteilung der Sorgearbeit wurden mit der Corona-Pandemie nochmals weiter verstärkt. Rasch wurde deutlich, wie wichtig politisch agierende Initiativen sind, um FAIRbesserungen zu erzielen. Bereits am 14. September 2020 wurde daher das „Bündnis Sorgearbeit“ der Öffentlichkeit präsentiert. Das Bündnis engagiert sich dafür,

  • Sorge-/Hausarbeit und Erwerbsarbeit fair undgerecht zwischen den Geschlechtern zu verteilen
  • gleiche Verwirklichungschancen für alle Geschlechter herzustellen
    strukturelle Benachteiligungen abzubauen
  • geschlechterstereotype Vorstellungen aufzubrechen
  • den Blick auf die gesellschaftliche Organisationvon Arbeit zu weiten und Erwerbs- und Sorgearbeit zusammenzudenken
  • die „Sorgelücke“ zu schließen.

2021-11-18_Furche_Unzureichende-Gendergerechtigkeitsdebatten-in-Pflegedienstzimmern

2021-05-25_Elisabeth-Wagner_Gender-Pay-Gap_strukturelle-Probleme_Wert-von-Frauen-auf-den-ArbeitsmaerktenInwieweit zivilgesellschaftliche Forderungen* und Empfehlungen politisch angenommen werden, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Einer davon ist ein umfassend integrierendes Thema. Obwohl seit langem bekannt, führt die Erkenntnis, wonach das Soziale die beste Medizin ist, bis heute nur unzureichend zu – auch von der WHO unterstützten – „Health-in-All-Policies„-Maßnahmen. Einen zweiten Faktor finden wir im Bereich Demokratie & Partizipation. Was beispielsweise in Weyarn auf regionaler Ebene funktioniert, muss auf der nationalen nicht erwünscht sein, obgleich sich bereits einiges auf diesem Gebiet bewegt: Citizens‘ Assemblies in Irland seit 2016, der permanente Bürgerdialog in Ostbelgien oder der erste Bürgerrat in Deutschland zu Beginn des Jahres 2021. Mag sein, dass dieser den Beginn einer resilienten Demokratie markiert; die fehlende Unterstützung durch den Bundestag in der Frage der Finanzierung lässt allerdings mangelnde Ambition in diese Richtung vermuten.

2021-10-10_Netzwerk-Buergerbeteiligung_Laenderebene_demokratiepolitische-Agenda-2021

Wieviel Macht brauchen die besseren Entscheidungen?

2021-06-09_sos-mitmensch_pass-egal-wahl-2019Letzten Endes geht es daher immer um die Beantwortung der Machtfrage: wieweit wird den Bürger*innen im weiteren Sinne, also auch jenen, die zuvor nicht wählen durften (siehe „Pass Egal Wahl“ [2019]), das Mitregieren zugestanden? Wird über andere hinwegentschieden oder entscheiden die Betroffenen mit? Inwieweit wird es für eine nachhaltige Reform unserer Demokratien reichen, wenn Bürgerräte „nur“ fallweise zu ausgewählten Themen Empfehlungen für die Regierenden ausarbeiten dürfen?

2021-06-10_standard_kunststachel-in-der-grazer-stadtpolitik_rathaus-der-herzen_moeglichkeitsort-fuer-zukunftsmodelleWenn eine niederschwellige Möglichkeit gefunden wird, den Themenkomplex Care/Sorgearbeit und alles was dazugehört in einem würdigenden und gleichzeitig „verspielten“ Design wie die „Pass Egal Wahl“ in Richtung parlamentarische Mitgestaltungsrechte zu transformieren, dann dürfen auch wir eines Tages erwarten, dass unsere Träume in Erfüllung gehen werden. Wie jene der Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch, die nach Jahren ihres Bemühens die SPÖ-Vorschläge für einen „leichteren Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft“ begrüßt. Erst durch die Mitwirkung bei der Entstehung von Gesetzen und Verordnungen können regionale Sorgeräte ihren Beitrag zu einem „guten Leben für alle“ soweit zur Entfaltung bringen, dass die „neun Grundbedürfnisse“ dabei weitestgehend berücksichtigt werden.

Screenshot_20210513-105105~2 Inwieweit braucht es darüberhinaus eine zweite Kammer mit der erweiterten Aufgabe zur Gemeinwohlkontrolle? Solange skandinavische Alternativen kulturell nicht bis zu uns ausstrahlen (S 6) wird es mit Bürgerräten allein wohl nicht getan sein. Ohne entsprechende Gegenmacht wird sich „aufgrund von Widerständen“ (S 45) gegenüber Modellen der Mischarbeit auch auf den Arbeitsmärkten nicht viel bewegen.

An dieser Stelle sollten wir innehalten und uns bei der Planung von Räten fragen, was wir wollen: Reicht uns die Gründung eines Netzwerks, das „sich als ein überparteiliches, unabhängiges und überkonfessionelles Gegenüber von Politik und Verwaltung, aber auch von Wirtschaft und Medien versteht“ oder braucht es mehr formelle Einbeziehung in politische Entscheidungen? Welche Rolle würde einem Nationalen Sorgerat dabei zufallen? Genügt das Aufgabenniveau eines Österreichischen Seniorenrates oder darf es gemeinsam (siehe Gemeinwohlrat) auch mehr sein?

Vermutlich werden beratende Gremien wie Beiräte auf Dauer zu wenig gehört und ihre Attraktivität für zivilgesellschaftliches Engagement schwindet wieder, wie damals nach dem ersten landesweiten Salzburger BürgerInnen-Rat im Jahr 2014. Dieses Vertrauen von weiten Teilen der Bevölkerung in die besseren Entscheidungen muss ein außerparlamentarisches Gremium erst einmal erlangen, um vom Gesetzgeber wahrgenommen und respektiert zu werden. Schon bisher gab und gibt es zahlreiche Organisationen, die sich um soziale (und ökologische) Anliegen bemühen, die selektive Responsivität wirkt trotzdem! Solange es nicht auch eine repräsentative Institution zur Begutachtung von Gesetzen und Verordnungen auf deren Gemeinwohlgehalt gibt, bleiben die geäußerten Bedürfnisse (Beispiel: Arbeitszeitverkürzung zur gerechteren Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit [aus dem Jahr 2009]) entweder weitestgehend ungehört oder 2021-07-04_Die-Alternative_Zeitbewusst!-Warum-die-Arbeitszeit-verkuerzt-werden-muss_Karin-Stangerbestehende Errungenschaften werden wieder abgebaut**.

Mitunter betrifft dies selbst jahrzehntelang gepflegte Praktiken, dass sie ohne formelle Mitentscheidungskompetenz aus der politischen Tagesordnung verschwinden: „Nicht nur einmal spielte die Regierung die Opposition aus und verzichtete bei Gesetzen auf eine Begutachtung oder die Einbindung der Sozialpartner.“ So geschehen in Österreich, ein gutes Jahrzehnt nachdem die „sonstige (nichtterritoriale) Selbstverwaltung“ – eine besondere Form der öffentlichen Verwaltung – in die Bundesverfassung aufgenommen wurde.

Um es zu verdeutlichen: auch wenn seit der Pandemie 2020 die Forderungen nach einer „Zeitgerecht!„eren Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zugenommen haben, bleiben die Erfahrungen, wonach unzählige Betriebsräte im ganzen Land trotz jahrhundertelang geprüfter gewerkschaftlicher Organisationsmacht soziale Ausgrenzung durch die sogenannte Agenda-Politik nicht verhindern konnten. Dierk Hirschel vermerkt dazu in „Das Gift der Ungleichheit“ (S 136):

Ende Mai 2003 organisierten die Gewerkschaften unter dem Motto „Reformen ja, Sozialabbau, nein danke!“ bundesweite Massenproteste. Die IG Metall mobilisierte mit einer Unterschriftensammlung die Beschäftigten in den Betrieben. Jeden Montag demonstrierten in zahlreichen deutschen Städten tausende Menschen gegen die so genannten Arbeitsmarktreformen. Als jedoch der neoliberale Politikentwurf seinen Weg ins Gesetzesblatt gefunden hatte, ebbten die Proteste ab.

2021-07-13_jbi_bruttopensionen-von-frauen-und-maennern-im-vergleich

Health in All Policies

Aufgrund der Tatsache, dass das Soziale die beste Medizin ist (S 6), sollten wir uns nach jahrzehntelangen Bemühungen „eines intersektoralen Zugangs zur Förderung der Gesundheit“ endlich dazu aufmachen, neben dem bestehenden Obersten Sanitätsrat beim Gesundheitsministerium – ganz nach der österreichischen (nicht: deutschen [u. a. deshalb]) Art von Klimaräten – einen Solidaritätsrat*** einzurichten, der auch in weiteren Ministerien beratend tätig ist. Regionale Sorgeräte könnten darin mit Sitz und Stimme vertreten sein.

Ohne diese Vorgehensweise wird Identitätspolitik in einer sich immer stärker ausdifferenzierenden Gesellschaft nicht erfolgreich sein können. Günstige Bedingungen dafür sind ein „kritisches Bewusstsein“ und eine „radikale Solidarität“ (Dominik Gruber), die „die verschiedenen Kämpfe einen“ (Annika Lüttner) können. Darauf weisen Lea Susemichl und Jens Kastner in ihrem Werk Identitätspolitiken hin: „Wie jede Identitätspolitik muss auch sie anerkennen, dass die eigene Homogenität lediglich eine Hilfsfiktion ist und sie muss Differenz als konstituierendes und sogar konstruktives Merkmal bejahen.“ (S 136)

Das wichtigste Projekt der Vielen steht noch aus: Geschlossenheit zu zelebrieren und dauerhaft zu leben.

2021-11-22_Ehs-Vospernik_Kelsen-souveraen-Volk-Republik-Institutionen

Gemeinwohlrat als nationale Perspektive

2021-03-27_Stadtentwicklung-Berlin_Wer-macht-mit-im-Quartiersrat
Innovatives Beispiel für die Zusammensetzung von Räten

Die Arbeit zur Gründung von Räten für Sorgearbeit bietet eine gute Gelegenheit, sich weitergehende Gedanken darüber zu machen, wie zivilgesellschaftliche Anliegen eines Tages generell stärker in die Gesetzgebung einbezogen werden. Die Etablierung eines Gemeinwohlrates als zusätzliches Kontrollorgan betreffend braucht es möglicherweise nicht einmal die Gründung einer neuen Instanz, eine Reform des Bundesrates sollte genügen. Dessen Aufgaben und Ziele würden dann nicht mehr „nur“ dem föderalistischen Verfassungsprinzip dienen, sondern auch dem Gemeinwohl als Ausdruck des republikanischen Prinzips. Ganz im Sinne dieser wichtigen Wortmeldung auf Seite 9 der gemeinsamen Erklärung des bereits erwähnten Salzburger BürgerInnen-Rates:

Durch den BürgerInnen-Rat könnte sich die Politik von Partikularinteressen befreien. Er könnte dabei helfen, wieder das Gemeinwohl zu erkennen.

Verstehen wir mit Gabriele Winker die „Krise der Sorgearbeit als Folge der kapitalistischen Überakkumulationskrise„, so bieten die von ihr vorgeschlagenen „Care-Räte“ genau diese Möglichkeit: die Befreiung von Partikularinteressen durch mehr Demokratie! Gelingen kann dies vermutlich nur durch ein langfristig aktives Bündnis von Engagierten und Organisationen aus verschiedenen Bereichen der Zivilgesellschaft. Letztlich wird es dazu aber auch parlamentarische Mehrheiten benötigen und verfassungsmäßig legitimierte Kontrolle durch eine breite Allianz der Vielen.

2021-07-28_EESC-Report_Towards-the-uber-isation-of-Care

Empfehlungen

Webseiten: Care Revolution – Schritte in eine solidarische Gesellschaft von Gabriele Winker

Ernährungsrat Wien: Organisationsstruktur

Buch: „Equal Care – Über Fürsorge und Gesellschaft“ von Almut Schnerring und Sascha Verlan

Politische Forderung von AK Präsident Erwin Zangerl zur Einführung von Gleichbezahlungsbeauftragten

2021-06-08_bpb_Equal-Care


Anmerkungen

*| Beginnend bei der Forderung nach mehr Ausbildungsplätzen für Hebammen

2021-05-21_Mehr-fuer-Care-Aktionstag_2021-05-29

2021-06-20_Uni-Bremen_carat_caring-all-together_Sonja-Bastin_Andrea-Schaefer**| Welche Alternativen bieten sich? Der politische Druck verblasst mit der Dauer einer Bewegung, die Gründung von Parteien garantiert keine nachhaltige Berücksichtigung von Gruppeninteressen und eine hierarchiefreie politische Kultur abseits von Repräsentation und Delegation ist auch nicht zielführend: „Für Arbeitnehmer und Bürger mit familiären Verpflichtungen und begrenztem Zeitbudget war die radikaldemokratische Inklusion der permanenten Versammlungsdemokratie in der Praxis real exkludierend.“ (Oliver Nachtwey, 2016, S 210) Und selbst dort, wo Bürgerräte von der Politik gewünscht werden, erfahren wir in einer Zwischenbilanz aus dem Jahr 2014 von diesem Hauptkritikpunkt, wonach „das Thema und vor allem seine Umsetzung nach dem Bürgerrat ‚einschlafe‘.“ (S 11)

***| Vgl. erste Überlegungen dazu von Franz Groll zB in seinen „Vorschläge[n] für Transformationsschritte von der neoliberalen Politik zur zukunftsfähigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ (2017) oder in seinem Entwurf „Zur Bewahrung unserer Lebensgrundlagen“ aus dem Jahr 2019.

Nachdem mittlerweile sogar im skandinavischen Finnland der Staat als Gemeinwohlinstanz gegenüber privaten Gewinninteressen versagt beim patentfreien Herstellen von Corona-Vakzinen, ist es dringend geboten „neue Formen der Demokratie“ zu etablieren: „Finnland wird in den internationalen Medien oft als ein nordisches Traumland dargestellt. Während der Pandemie hat die neue Linksregierung das fortschrittliche Image des Landes weiter befördert. Man würde erwarten, dass eine solche Regierung der selbstverständlichste Befürworter einer öffentlich finanzierten und patentfreien Impfstofftechnologie ist. Doch die letzten Jahrzehnte des Neoliberalismus werfen einen langen Schatten.“

2021-03-11_Paul-Ginsborg_Wie-Demokratie-leben_Neue-Formen-der-Demokratie