Das Armutsnetzwerk Steiermark veranstaltete am 27. 9. 2022 seine Tagung22 zum Thema „Wie krisenfest ist unsere Gesellschaft?“ Im Demokratie-Workshop wurde plangemäß versucht, eine – allenfalls auch noch eine zweite – Frage an die (dann doch nicht) anwesenden Volksvertreter·innen aus dem Bundesland Steiermark zu erarbeiten.
Vorwort: Österreich wurde vom V-Dem-Institut in Göteborg von einer liberalen Demokratie zu einer Wahldemokratie herabgestuft. Um ein weiteres Abrutschen in Richtung illiberale Demokratie zu vermeiden, soll durch „mehr Möglichkeiten der Teilnahme, mehr Transparenz und die Stärkung des Parlaments“ das „Vertrauen der Bevölkerung in die Politik“ gestärkt werden. Soweit Jörg Leichtfried als Reaktion darauf. Ein weiterer Abgeordneter zum Nationalrat äußerte zudem den Wunsch zur Durchführung einer Parlamentsreform-Kommission.
Vorzugsweise beginnen wir unsere Arbeit mit Hinweisen
1. Aus der Praxis
Wenn selbst Rockbands wie Die Toten Hosen und Die Ärzte bereit sind, für klimapositive und nachhaltige Veranstaltungen „Opfer zu bringen“ und dabei wissen, dass sie viel verlangen, wenn sie ihr Publikum „da mit ins Boot holen„, dann darf für die Politik keine Ausrede mehr gelten. So zeigen auch die Erfahrungen des Klimarates, dass Bürgerinnen und Bürger „um vieles weiter gehen [würden], als es die Entscheidungsträger bisher geglaubt haben, weil sie verstanden haben, dass es notwendig ist.“ Die Erkenntnisse aus dem Hoffnungsanker Klimarat mögen dazu führen, „neue Beteiligungsformen in die repräsentative Demokratie [zu] integrieren.“ In der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien führte ein vom Parlament im Jahr 2017 organisierter Bürgerdialog genau dazu, weil: „Bestärkt durch die positiven Echos der Beteiligten entstand die Idee, aus dieser einmaligen Initiative etwas Beständigeres zu machen.“ Mittlerweile wurde das Modell einer permanenten Bürgerbeteiligung – das sogenannte „Ostbelgien-Modell“ – ausgearbeitet und umgesetzt.
Frage: Wieso sollten wir uns als Armutsnetzwerk Steiermark für „neue Beteiligungsformen“ in der repräsentativen Demokratie beschäftigen? Denn auch in unserem Bundesland gibt es ein Ressort, das sich – so hoffen wir – nicht nur auf dem Papier der Bekämpfung von Armut widmet. Lesen wir allerdings zB nach bei Judith Butler, so wird uns dann doch einiges klarer:
„Unterstützung zur Überwindung von Prekarität ist gut, aber werden damit auch die strukturellen Formen der Gewalt und eine Wirtschaftsordnung, die Bevölkerungsgruppen einer nicht mehr lebbaren Prekarität aussetzt, in den Blick genommen und bekämpft?“ (Die Macht der Gewaltlosigkeit, 2021, S 232)
Die Frage von Judith Butler blickt also über die herkömmliche Form der Armutsbekämpfung hinaus und verweist auf die in einer Demokratie gestaltbaren “strukturellen Formen der Gewalt”. Gesund ist das für viele sicher nicht. Das ist mittlerweile hinlänglich bekannt: „Arme erkranken eher schwer, verunfallen häufiger und sterben früher.“ (Peter Stoppacher/Marina Edler, in: Armut in der Steiermark, 2016, S 79)
2. Aus der Theorie
Womit wir bei unserem ersten Begriff sind, den wir näher begutachten: Resilienz.
Dieser bezeichnet für Thomas Klie „nicht nur […] die Fähigkeit von Personen, Krisensituationen und Stress zu überstehen, sondern“ er verwendet ihn auch „für Regionen und Kommunen“ und er meint dabei „in besonderer Weise die Anpassungsfähigkeit an neue Umweltbedingungen […] und die Fähigkeit, Zukunft zu antizipieren und sich gestaltend auf sie einzustellen.“
Damit sind wir auch schon beim zweiten Begriff angelangt, den Thomas Klie wie folgt definiert: „Demokratie bietet prinzipiell allen Bürger*innen Mitentscheidungs-, Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten in ihrem Gemeinwesen und ist auf die Identifikation der Bürger*innen mit diesem angewiesen. Demokratie stellt sowohl individuell als auch kollektiv eine Lebensform dar, die sich in ihren institutionellen Ausprägungen immer wieder neu bewähren muss. Dazu gehört auch die Nutzung verschiedener Spielarten und Formen der Demokratie mit dem Ziel, möglichst viele Bürger*innen zu aktiven Mitgestalter*innen des Gemeinwesens zu machen.“
Ich frage mich, inwieweit dies bereits realisiert ist, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger aktiv die verschiedenen Spielarten und Formen der Demokratie nutzen.
Dazu Martina Zandonella und Tamara Ehs in: Die Auswirkungen von sozialer Ungleichheit auf die Demokratie:
“Je prekärer die soziale Lage der Wiener*innen, desto seltener gehen sie zur Wahl …
„Der österreichische Sozialstaat“, so meinen sie, fängt zwar „immer noch viele Risiken auf, […] Doch das Sozialeigentum – und damit die Anrechte auf soziale Sicherungsleistungen, Pensionen, öffentliche Güter und Dienstleistungen – ist in den vergangenen Jahren geschrumpft. Damit einher ging ein dominierender politischer Diskurs, der die Empfänger*innen dieser Sicherungsleistungen abwertet, ausgrenzt und für ihre Situation ausschließlich selbst verantwortlich macht. […]
Als Folge dieser Entwicklungen wird auch der sozio-ökonomische Spalt des Nichtwählens weiter aufgehen. Werden jedoch hauptsächlich die ressourcenstarken Stimmen gehört, geht das Recht nicht mehr vom Volk bzw. von einem repräsentativen Querschnitt des Volkes, sondern nur mehr von einem exklusiven Teil davon aus. Die durchgeführte Studie bestätigt, dass weder rechtliche Gleichheit allein noch die bloße Ausweitung des Beteiligungskataloges zu mehr politischer Beteiligung führen, denn diese beruht weniger auf Freiwilligkeit denn auf sozio-ökonomischen Prämissen.
Mehr „formale Bildung“ erhöht zwar phasenweise die Produktivität. Wie das Beispiel USA zeigt, kann sie sich allerdings auch äußerst ungünstig auswirken auf „die Entwicklung in Richtung mehr Gleichheit und Gerechtigkeit.“
Daher geht es vielmehr darum, der (zunehmenden) sozio-ökonomischen Ungleichheit entgegen zu wirken, um (wieder) mehr Menschen in demokratische Prozesse einzubinden. Die entscheidenden Faktoren für politische Partizipation sind ökonomische und soziale Sicherheit: formale Bildung, Einkommen, ein gesicherter Arbeitsplatz und gesellschaftliche Anerkennung. Politik, die mehr Menschen (wieder) gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, stärkt die Demokratie.”
Frage: Wie können wir die Demokratie stärken, wenn “ökonomische und soziale Sicherheit” zum Teil weiterhin prekär bleiben, weil politische Interessen dem Wunsch nach mehr sozialer Gleichheit entgegenstehen?
3. Aus der Politik
Die Politik in einer resilienten Demokratie wirkt präventiv .
Zurück zu den Erfahrungen, die im Rahmen des Klimarates gemacht wurden. Wird nun mit Zustimmung der ÖVP tatsächlich ein den Durchschnitt der Gesamtbevölkerung abbildender Klimarat eingerichtet und macht dieser dann auch noch nach herkömmlichem Politikverständnis unattraktive Vorschläge wie “90 km/h auf Bundesstraßen”, so antwortet bereits “im Vorfeld der Veröffentlichungen” derselbe ÖVP-Klimasprecher, der den „unselbständigen Entschließungsantrag“ miteingebracht hatte, auf die “Frage, was mit den Empfehlungen geschehen soll […]: ‘Keine Ahnung. Das hat für mich keine Relevanz.’”
Ist dem so, “dass informierte Bürgerinnen und Bürger bereit sind, weiter zu gehen als die Politik” (Reinhard Steurer, BOKU Wien), dann sollten wir diese angesichts der anstehenden und gesellschaftlich herausfordernden Transformationen mitwirken lassen an der Gesetzgebung. So regte Caritas-Präsident Michael Landau bereits an: “Wir würden uns beispielsweise wünschen, dass künftige Gesetze und Verordnungen nicht nur einem Klima-Check, sondern auch einem Armuts-Check unterzogen werden, …”
Frage: Wie soll diese Idee umgesetzt werden?
Der in Deutschland tätige „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) hatte dazu bereits im Jahr 2011 in seinem Hauptgutachten „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ die Einrichtung einer Zukunftskammer empfohlen:
„Um Zukunftsinteressen institutionell [Anm.: s. Kelsen, Müller u. v. a., AN] zu verankern, empfiehlt der WBGU zu erproben, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren um eine deliberative ‚Zukunftskammer‘ zu erweitern. Um interessens- und parteipolitische Einmischung zu vermeiden, könnte die Zusammensetzung dieser Kammer beispielsweise durch Losverfahren ermittelt werden.“
> vgl. Sozial- und Wirtschaftsrat von Anthony B. Atkinson
Das führt mich zur Überlegung, einen
4. Bundes- und Gemeinwohlrat
einzurichten. Eine zweite Kammer, die sich neben den (föderalistischen) Länder- auch um die (republikanischen) Gemeinwohlinteressen bemüht, hat den Vorteil, jeden einzelnen zur Debatte stehenden Gesetzesvorschlag auf seine entsprechende Tauglichkeit zu überprüfen. Herkömmliche Bürger·innenräte (Citizens‘ Assemblies, Wisdom Councils) dagegen werden allenfalls zu bestimmten Themen eingerichtet, durch die sich die Politik vor ihren Entscheidungen (unverbindlich) beraten lässt.
Wir könnten dazu aufrufen, mehr Demokratie zu wagen mit dem Ziel, die Interessen sozialer Randgruppen mehr als bisher zu berücksichtigen. Wird dadurch „Armut trotz Arbeit“ (D 2022, Ö 2019) verringert, so bringt dieser Effekt auch Vorteile für die Gesamtgesellschaft, also für alle. Ein weiteres Beispiel ist „Housing First“, wodurch Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, eine kleine Wohnung und Beratung erhalten. Quintessenz: „Das ist für den Staat billiger als die Obdachlosigkeit.“
Tamara Ehs, in: Krisendemokratie (2020), S 22: „Demokratie hat allerdings den Pluralismus und damit die Notwendigkeit der Einholung einer Diversität von Meinungen nicht nur idealerweise zur Voraussetzung, sondern eine [Anm.: die „selektive Responsivität“ konterkarierende] breitere Entscheidungsfindung führt auch zu besseren, weithin akzeptierten Gesetzen.“
Tamara Ehs & Stefan Vospernik in ihrem Beitrag zu „Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie“ (2020), S 113: „Da klassische Parteien auch aufgrund des Vertrauensverlusts längst nicht mehr dazu in der Lage sind, die BürgerInnen umfassend zu repräsentieren, führt an einer verstärkten unmittelbaren Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen kein Weg vorbei.“
Dieser Befund trifft offensichtlich auch auf die bestehenden Netzwerke zu, wenn es darum geht, die unterschiedlichen Interessen einer „zunehmend fragmentierten Gesellschaft“ (Therese Stickler, Umweltbundesamt) in der Gesetzgebung zu berücksichtigen. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die Einrichtung eines Bundes- und Gemeinwohlrates bessere Ergebnisse erwarten lässt.
Nachträgliche Gedanken zum Workshop „Resiliente Demokratie …“
Die Frage, die wir an die Anwesenden aus der Landespolitik stellen wollten, wurde gleich nach dem Impulsreferat formuliert: „Wie Politik von unten gestalten?“ Nachdem bis auf den Abgeordneten zum Steirischen Landtag Klaus Zenz sonst niemand aus der steirischen Landespolitik das Angebot zum Diskurs angenommen hatte, blieb auch diese Frage letzten Endes unbeantwortet bzw. sie wurde erst gar nicht gestellt.
In der Diskussion mit den TeilnehmerInnen des Workshops wurden die üblichen Themen gestreift: Politische Bildung und Partizipation. Bürgerbeteiligung sollte lebensnah in den Kommunen beginnen und sich bis auf die nationale Ebene fortsetzen. Das im Referat verwendete Zitat von Judith Butler weist uns diesbezüglich den Weg:
„Unterstützung zur Überwindung von Prekarität ist gut, aber werden damit auch die strukturellen Formen der Gewalt und eine Wirtschaftsordnung, die Bevölkerungsgruppen einer nicht mehr lebbaren Prekarität aussetzt, in den Blick genommen und bekämpft?“ (Die Macht der Gewaltlosigkeit, 2021, S 232)
Politische Bildung und Partizipation auf Gemeindeebene werden also nicht reichen für eine nachhaltige Armutsbekämpfung. Es braucht vielmehr eine beteiligungszentrierte Gemeinwohlkontrolle im Bereich der nationalen Gesetzgebung, die es noch zu etablieren gilt. Der „Hoffnungsanker Klimarat“ kann dafür eine wegweisende Initiative sein ganz im Sinne von Hans Kelsen: seiner Ansicht nach ist nicht das Volk souverän, sondern die Republik und ihre Institutionen.
Weitere Informationen
Wenn wir uns mit demokratischer Resilienz beschäftigen, dann stoßen wir schließlich auch auf a) innere und b) äußere Barrieren, die es mittels struktureller Veränderungen zu überwinden gilt:
a) In unseren westlichen Leistungsgesellschaften wohnt der wirtschaftsliberale Geist, der von Sozialhilfeempfänger·innen Gegenleistungen einfordert. Im Anne Will Talk vom 19. Juli 2013 entgegnet Richard David Precht nach entsprechenden Erläuterungen, die sich auf die “alle[n] Bevölkerungsschichten” innewohnende “spätrömische Dekadenz” (“Ich zock mir was günstiges ab”) beziehen, mit dieser Frage: „Mit welchem Recht können wir einfordern, dass Hartz-IV-Empfänger die besseren Menschen sein sollen und eine höhere Bereitschaft auf Gegenleistung zeigen als der Rest der Gesellschaft?“
b) Politikforscher Herfried Münkler auf die Frage: “Müssen sich die westlichen Demokratien auf massive Wohlstandsverluste einstellen?
Ich nehme an, dass wir auf lange Zeit den Höhepunkt unseres Wohlstands überschritten haben. Es herrscht wieder Knappheit, etwa an Energie. Meine Generation hat gedacht, dass dies mit der Nachkriegszeit zu Ende gegangen ist. Bei uns gab es die Vorstellung, dass wir allenfalls eine Art Selbstverknappung in einer Überflussgesellschaft brauchen, um nicht die Natur zu übernutzen. Die neue Erfahrung von Knappheit wird die Grundmentalität unserer Bevölkerung verändern und sie in vielerlei Hinsicht aggressiver machen.”
Wenn nun für Thomas Klie die „demokratische Resilienz“ nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie „in besonderer Weise Herausforderungen ausgesetzt“ ist, sollten wir uns – über die erwähnten Barrieren hinaus – weiter fragen, an welchen grundlegenden Stellschrauben wir zu drehen haben, um eine „resiliente Demokratie“ gewährleisten zu können.
Dazu gibt uns Stephan Lessenich ua folgende Hinweise: „Und machen wir uns nichts vor: Nicht der geringste Gegner in diesem Prozess sind – jedenfalls in den reichen Demokratien des Westens – wir selbst. […] Eine entscheidende Frage solidarischer Praktiken wird daher lauten, ob wir dazu bereit und in der Lage sein werden, unserer eigenen Berechtigung Grenzen zu setzen, die Angemessenheit unserer eigenen Privilegierung in Zweifel zu ziehen. […]
Es würde dies auch bedeuten, in unseren Weltdeutungen und Handlungsorientierungen umzuschalten, nämlich von der sich immer wieder selbst bestätigenden Behauptung unserer individuellen Ohnmacht angesichts der vermeintlichen Übermacht des strukturell Gegebenen – auf die Einsicht in die Machtposition, die uns von den weltgesellschaftlichen Verhältnissen gegeben ist, und in die daraus erwachsende, kollektiv-geteilte Verantwortung. Das wiederum würde die Voraussetzung dafür sein, uns als potenziell handlungsfähige kollektive Akteure zu sehen, also als Agenten der Solidarität, die – den politischen Willen dazu vorausgesetzt – durchaus in der Lage wären, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und an der Schaffung von gesellschaftlichen Institutionen mitzuwirken, die einerseits die Grenzen sozialer Berechtigung dehnen und andererseits die ‚kollektive Selbstbegrenzung‘ mit Blick auf die Entrechtung der Natur organisieren.“
Tamara Ehs & Stefan Vospernik: „Da klassische Parteien auch aufgrund des Vertrauensverlusts längst nicht mehr dazu in der Lage sind, die BürgerInnen umfassend zu repräsentieren, führt an einer verstärkten unmittelbaren Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen kein Weg vorbei.“
Die Unterzeichner·innen von ProjectTogether im Oktober 2021 machen darauf aufmerksam:
„Die Zivilgesellschaft ist ein Inkubator für gesellschaftliche Innovationen, deren Entwicklung häufig im bürgerschaftlichen Engagement beginnt. Die Studie ‚Wenn aus klein systemisch wird‘ von McKinsey & Company und Ashoka (2019) zeigt, dass in diesen gesellschaftlichen Innovationen ein Milliardenpotential für den Staat liegt, wenn es gelingt, den Ideenreichtum der Gesellschaft mit der Umsetzungskraft etablierter Institutionen zu verbinden.“
diese Webseite auszugsweise in der Fassung vom 2022-07-10 als pdf
Hinweis auf „Die resiliente Demokratie ist solidarischer„
Inhalte dieser Webseite als Impulsreferat
Gedanken zum Workshop
Die Frage, die wir im Anschluss an die Anwesenden aus der Landespolitik stellen wollten, wurde gleich nach dem Impulsreferat formuliert: „Wie Politik von unten gestalten?“ Nachdem bis auf den Abgeordneten zum Steirischen Landtag Klaus Zenz sonst niemand aus der steirischen Landespolitik das Angebot zum Diskurs angenommen hatte, blieb auch diese Frage letzten Endes unbeantwortet bzw. sie wurde erst gar nicht gestellt.
In der Diskussion mit den TeilnehmerInnen des Workshops wurden die üblichen Themen gestreift, die da sind Politische Bildung und Partizipation. Bürgerbeteiligung sollte lebensnah in den Kommunen beginnen und sich bis auf die nationale Ebene fortsetzen. Das im Referat verwendete Zitat von Judith Butler weist uns diesbezüglich den Weg:
„Unterstützung zur Überwindung von Prekarität ist gut, aber werden damit auch die strukturellen Formen der Gewalt und eine Wirtschaftsordnung, die Bevölkerungsgruppen einer nicht mehr lebbaren Prekarität aussetzt, in den Blick genommen und bekämpft?“ (Die Macht der Gewaltlosigkeit, 2021, S 232)
Politische Bildung und Partizipation auf Gemeindeebene werden also nicht reichen für eine nachhaltige Armutsbekämpfung. Es braucht vielmehr eine beteiligungszentrierte Gemeinwohlkontrolle im Bereich der nationalen Gesetzgebung, die es noch zu etablieren gilt. Der „Hoffnungsanker Klimarat“ kann dafür eine wegweisende Initiative sein ganz im Sinne von Hans Kelsen: seiner Ansicht nach ist nicht das Volk souverän, sondern die Republik und ihre Institutionen.
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Zum Nachdenken:
„Hinzu komme dann noch die Naivität der NROen gegenüber ihrer eigenen Rolle und Position in der Gesellschaft und die politische Abstinenz vieler NROen, die zwar von Empowerment sprechen, aber sich mit den sozialen und politischen Machtverhältnissen auf lokaler Ebene nicht anlegen wollen oder bei ihrer Arbeit auf lokaler Ebene zusammen mit ihrem Klientel die größeren politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen aus dem Blick verlieren.“
Michaela von Freyhold: https://www.budrich-journals.de/index.php/peripherie/article/viewFile/24481/21347, S 288
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Allein die Erfahrungen aus dem (Hoffungsanker) Klimarat in der ersten Jahreshälfte 2022 und das Ostbelgien-Modell als ein Beispiel dafür, was an Partizipation möglich ist, machen Mut, sich endlich mehr für die Umsetzung der Empfehlung des WBGU aus dem Jahr 2011 zur Einführung einer deliberativen „Zukunftskammer„ zu interessieren.
Stimmen, die diese Sichtweise teilen werden mehr. So lesen wir beispielsweise bei Dierk Hirschel in „Das Gift der Ungleichheit“: „Brandaktuell ist somit das bereits unter Willy Brandt postulierte Bündnis von Mitte und Unten. Die soziale Frage ist dafür zentral, reicht aber als alleiniges Bindeglied nicht aus. Sie muss um die ökologische Frage und Antworten auf neue Ungleichheiten erweitert werden. Der Kampf für höhere Löhne, Umverteilung, bezahlbares Wohnen, eine Lebensstandard-sichernde Rente und gute Pflege muss mit dem Engagement für mehr Klimaschutz sowie dem Kampf gegen Rassismus, Homophobie, Islamfeindlichkeit und Antisemitismus verbunden werden.“ (S 117)
Gleichzeitig haben alle etwas von (höheren) Mindestlöhnen, weil damit auch die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität steigt. Ebenso wie im Fall von Housing First, denn „Menschen eine Wohnung zu geben kostet weniger als sie auf der Straße zu lassen„. Dabei geht es um konkrete Verteilungspolitik, die die Schatten einer liberalen Wirtschaftspolitik ausgleicht. Einer dieser Schatten ist der Ruf nach mehr Bildung als allein seligmachender Ausweg aus sozialer Ungleichheit. Dazu Michael J. Sandel: „Die Vorstellung, ‚die besten und hellsten Köpfe‘ seien besser für die Staatsgeschäfte geeignet als ihre weniger mit Referenzen gesegneten Mitbürger, ist ein aus meritokratischer Überheblichkeit geborener Mythos.“ (Vom Ende des Gemeinwohls, 2020, S 159)
Ausführlicher Andreas Reckwitz: „Die Gesellschaft ist in ihrer Funktionsfähigkeit von der Arbeit der sogenannten Geringqualifizierten mindestens genauso abhängig wie von der der Hochqualifizierten, und ihr stünde eine erhebliche Zerreißprobe bevor, wenn sie auf Dauer den Nichtakademikern in den Routinetätigkeiten und körperlich anspruchsvollen Berufen die ihnen zustehende soziale Anerkennung verwehrt (oder gar ein größeres Segment in die Arbeitslosigkeit und eine bloße Grundsicherung abdrängt). Entscheidend ist, dass die Lösung des Problems hier gerade nicht in dem schlichten Ruf nach mehr Bildung bestehen kann, weil dies nur die aktuelle Gewinner-Verlierer-Situation reproduzierte, selbst und gerade dann, wenn alle Begabungsreserven ausgeschöpft sind. Es bedarf vielmehr eines neuen Gesellschaftsvertrags, …“ (Das Ende der Illusionen, 2019, S 294)
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Literaturempfehlungen
Gisela Riescher / Sabine Ruß / Christoph M. Haas (Hrsg.): Zweite Kammern, ISBN: 3486250892
Wolfgang Streeck: Zwischen Globalismus und Demokratie
Reinhard Heinisch (Hrsg.): Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie
Anthony B. Atkinson: Ungleichheit
Fabio Wolkenstein: Die dunkle Seite der Christdemokratie – Geschichte einer autoritären Versuchung
Per Molander: Condorcets Irrtum – Warum nur ein starker Staat die Demokratie retten kann
Per Molander: Die Anatomie der Ungleichheit
Jan-Werner Müller: Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit – Wie schafft man Demokratie?
Paul Collier: Sozialer Kapitalismus!
Stephan Schulmeister: Der Weg zur Prosperität
Tamara Ehs: Krisendemokratie
Armin Nassehi: Unbehagen – Theorie der überforderten Gesellschaft
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