EuTopia ruft

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Zu Eutopia, dem Land des Glücks, fühlen wir uns schon immer hingezogen. Wen wundert es also, dass bereits verschiedene Projekte danach benannt wurden. Die Sehnsucht nach dem Paradies, dem „guten Ort“, um eine weitere Bedeutung des Begriffs Eutopia zu verwenden, wird uns auch weiterhin begleiten. Wenn wir versuchen wollen, diesen Wunsch lebendig werden zu lassen, dann dürfen wir uns allerdings nicht die Mühe ersparen, die gegebenen Verhältnisse zu analysieren und allfällige Realisierungschancen zu erörtern. Danach erst sollten wir zur Tat schreiten bzw dazu einladen. Das Paradies auf Erden fällt schließlich nicht ohne unser Zutun vom Himmel.

Zunächst also die Analyse:

Beginnen wir unsere Untersuchungen bei den aktuellen Preissteigerungen, wie wir sie seit einem Menschenleben nicht mehr erlebt haben. Die damit verbundene Krise ist aber nur eine von mehreren, die uns seit einigen Jahren herausfordern.

Wie kam es dazu und welche Schritte können wir setzen, um deren Vermehrung einzubremsen und ihre Auswirkungen zu lindern?

Offensichtlich hat die zunehmende Krisenanfälligkeit unserer westlichen Gesellschaften etwas mit unseren politisch-wirtschaftlichen Gegebenheiten zu tun. Weil nur der Erfolg zählt haben wir uns in Abhängigkeiten begeben, durch die ein einziger Unfall im Suezkanal zu weltweiten und monatelangen Lieferverzögerungen führt. Hinzu kommen soziale Ausgrenzungen von Menschen und die zerstörerische Ausbeutung der Natur.

Lange Zeit wurden die Schattenseiten der willkommenen Wohlstandsvermehrung verschwiegen oder gar in Abrede gestellt. So veröffentlichte das Magazin Spektrum der Wissenschaft bereits im November 2015 die Hintergrundrecherche: „Wie Exxon den Klimawandel entdeckte – und leugnete“. Doch erst Jahre später wird breit darüber berichtet und diskutiert. Kaum bekannt sind auch die Analysen von Per Molander und Michael J. Sandel. Beide beschreiben dasselbe gesellschaftsimmanente Phänomen der Erbaristokratie. Wie sehr das in Leistungsgesellschaften unter Druck geratene Gemeinwohl mittlerweile Demokratien gefährdet, darauf weist der US-amerikanische Moralphilosoph Sandel in seinem 2020 erschienenen Werk „Vom Ende des Gemeinwohls“ hin: „Die Reichen und Mächtigen haben das System manipuliert, um ihre Privilegien zu behalten; die Akademiker haben herausgefunden, wie sie ihre Vorteile an ihre Kinder weitergeben können, wodurch die Meritokratie zu einer Erbaristokratie geworden ist.“ (S 191)

Drei Jahre davor berichtete Per Molander in der Originalausgabe von „Condorcets Irrtum – Warum nur ein starker Staat die Demokratie retten kann“ über Vergleichbares in Venedig:

„In bestimmten Situationen kann eine Meritokratie über die Aristokratie gestellt werden. Ein bekanntes Beispiel ist die spätmittelalterliche Verwandlung der Handelsrepublik Venedig von einer regionalen Großmacht mit dynamischer Ökonomie in einen Stadtstaat unter vielen. Die Entwicklung des Überseehandels im 9. und 10. Jahrhundert hatte dazu geführt, dass das Amt des Dogen, das in der Praxis vererbbar gewesen war, seit dem Jahr 1032 durch Wahlen besetzt wurde. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts wurde ein Kontrollgremium gebildet, der große Rat, das Machtzentrum der Republik. Er wurde jedoch zunehmend von einer Gruppe mächtiger Familien dominiert, und gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurden nach und nach mehrere Verfassungsänderungen vorgenommen, um den Zugang zu begrenzen. Die 1297 verfügte Schließung des Rats, La Serrata, die Venedig zu einer Erbaristokratie machte, wurde im Jahr 1319 endgültig besiegelt.“ Die Folgen waren damals wie heute dieselben: „… die Wirtschaftspolitik entfernte sich von den Prinzipien der Offenheit und des Wettbewerbs.“ (S 190, mehr dazu in: Erbaristokratie versus Gemeinwohl)

Genau an dieser Stelle befinden wir uns heute wieder. Das von Hans Kelsen mit besonderem Nachdruck eingeführte Kontrollgremium Bundesrat konnte in mehr als 100 Jahren kaum jemals im ursprünglichen Sinne wirksam werden. Deshalb gibt es die nicht in der Verfassung genannte Landeshauptleutekonferenz, wodurch die Interessen der Bundesländer nicht wie vorgesehen in die Gesetzgebung des Bundes eingebracht werden. Der Bundesrat als zweite Kammer des Parlaments erfüllt damit und aufgrund des praktizierten Klubzwangs innerhalb der politischen Parteien nur fallweise und mehr zufällig seine Funktion im Rahmen des föderalen Verfassungsprinzips. Viele fragen sich, wie diese Kontrollinstitution zu reformieren sei. Eine Überlegung dazu betrifft das Gemeinwohl als einen Ausdruck des republikanischen Verfassungsprinzips. Darüber später mehr.

Kommen wir zurück zu den Schattenseiten einer willkommenen Wohlstandsvermehrung und den jahrelang vernachlässigten Berichten über Exxon:

Am Ende des fossilen Zeitalters folgen nun – mittlerweile unvermeidlich – die Tage der Abrechnung. Hoffen wir, dass in klimapolitischen Fragen endlich mehr auf das sogenannte „einfache Volk“ gehört wird. Dieses wäre nämlich – das zeigen die Ergebnisse der Beratungen des Klimarates – durchaus bereit zu selbstbegrenzenden Maßnahmen. Der Appell des Klimaforschers Georg Kaser bei der Präsentation am 4. Juli 2022 lautete nämlich: „Und das möchte ich allen Entscheidungsträgern ans Herz legen: Sie würden um vieles weiter gehen, als es die Entscheidungsträger bisher geglaubt haben, weil sie verstanden haben, dass es notwendig ist.“ Zur Kritik an der Auswahl der Teilnehmenden ist folgendes anzumerken: zwar wurde keine Methode einer „aufsuchenden Beteiligung“ gewählt und dennoch war die Gesamtbevölkerung durch die mehr als 80 Teilnehmenden „breit repräsentativ“ vertreten.

2022-01-10_SDGs_Global-Marshall-Plan-Initiative-Land-SteiermarkObwohl die Durchführung des Klimarates auf einem Entschließungsantrag des Nationalrats beruhte, in dem „Abgeordnete von ÖVP, Grünen und Neos die Bundesregierung um die Einsetzung eines Klimarats ersucht[en], wie er im Klimavolksbegehren gefordert worden war“, meinte der ÖVP-Umwelt- und Klimasprecher Johannes Schmuckenschlager einen Monat vor Veröffentlichung der Beratungsergebnisse: „Ich kritisiere nicht die Bürger, die sich da engagieren, aber ich kritisiere das Gremium als Institution.

Hier sind wir an einem interessanten Kritikpunkt angelangt. Denn nach Hans Kelsen, dem „Vater der Verfassung“ Österreichs, sind „nicht das Volk (dessen Wille ohnehin nur ein fiktiver sei), sondern die Republik und ihre Institutionen“ souverän.

2023-05-22_Rousseau_englische-Volk-glaubt-frei-zu-sein_Gesellschaftsvertrag

Genau darum geht es aber in einer Demokratie, dass – ganz im Sinne von Jean Jacques Rousseau – der Gemeinwille regiert und nicht die „Summe der individuellen privaten Einzelinteressen„, die sich aus „familiäre[n] oder wirtschaftliche[n] Bindungen […] bilden. […] Diese Mahnung lässt sich auch gegen politische Parteien wenden, sofern sie Klientelpolitik treiben.“

Wie bereits erwähnt, zählt heute mehr denn je nur der private Erfolg jedes Einzelnen. Von „einer spezifischen vertu oder Tugend, an das Gemeinwohl des Ganzen zu denken“ ist in wirtschaftsliberalen Kreisen nichts zu erkennen. Dies wäre ja geradezu blasphemisch hinsichtlich der zu vertretenden Ideologie eines grenzenlosen Wachstums. Das gilt für profitmaximierende Unternehmen ebenso, wie für politische Parteien. Während uns noch die Worte von Papst Franziskus aus seinem apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium aus dem Jahr 2013 gut in Erinnerung sind, die da lauten: „Diese Wirtschaft tötet.“ (S 238), träumt derselbe Papst mittlerweile von einer „anderen Wirtschaft“, wenn er sagt: „Die Wirtschaft muss immer sozial sein und dem Sozialen dienen.

Um dies erreichen zu können, braucht es das demokratische Gegenüber als Regulator für den wirtschaftlichen Wettbewerb. Stattdessen führte dieser zu einer Demokratie, von der Emanuel Towfigh im Jahr 2015 meinte: „Aber die Parteiendemokratie hat sich offenkundig überlebt, die Nachteile dieses Systems werden immer deutlicher sichtbar.“

Fast drei Jahrhunderte davor formulierte Jean Jacques Rousseau daher folgende Überlegungen: „Um wirklich die Aussage des Gemeinwillens zu bekommen, ist es deshalb wichtig, dass es im Staat keine Teilgesellschaften gibt und dass jeder Bürger nur seine eigene Meinung vertritt. […] Wenn es aber Teilgesellschaften gibt, ist es wichtig, ihre Zahl zu vervielfachen und ihrer Ungleichheit vorzubeugen […].“ (Vom Gesellschaftsvertrag …, 320 ff) Wollen wir nun – endlich -, dass mehr das Gemeinwohl „regiert“ und weniger die Partikularinteressen der großen Einflüsterer, dann stellt sich uns diese nächste Frage:

2023-05-08_UNRISD_Krisen-der-Ungleichheit_Allianzen

Wie bringen wir nun den aus zwei Kammern bestehenden Vertretungskörper Parlament dazu, mehr auf alle Menschen im Land zu hören, und nicht nur auf ihre jeweiligen Teilgesellschaften?

Gemäß den Erhebungen der Politikwissenschafterin Erica Chenoweth müssen wir lediglich 3,5 Prozent der Bevölkerung mobilisieren (vgl. Harald Welzer), um ein „Umschwenken der Politik“ zu erzielen. Wichtige Nebenerkenntnis ihrer Forschungen: „Gewaltfreie Bewegungen führten in 53 Prozent zu politischen Veränderungen, verglichen mit nur 26 Prozent bei den gewalttätigen Protesten.“

Von diesen Untersuchungsergebnissen dürfen wir uns aber auch nicht blenden lassen für unser eigenes Tun. Denn aus dem Lichtermeer vom 23. Jänner 1993 in Wien ging zwar die NGO SOS Mitmensch hervor, doch Helmut Schüller als einer ihrer Initiatoren stellt 30 Jahre danach ernüchtert fest: „Denn so, wie es aussieht, ist es noch einigermaßen weit zu einer Politik für Geflüchtete, die ihr Maß an den Menschenrechten nimmt.“ (MO 69: Geflüchtete als Spielball)

Seit 2013 bietet dieselbe Flüchtlingsorganisation daher allen Steuerzahlenden ohne österreichischen Reisepass die Möglichkeit einer Stimmabgabe via „Pass Egal Wahl„. Trotz des hohen Bekanntheitsgrades der Organisation und der bisherigen Erfolge wurde erst neun Jahre nach Beginn der Aktion erstmals im Jahr 2022 ein Wahllokal in der AK Wien eingerichtet.

Neben den bekannten Abwehrmechanismen zur Verteidigung der bereits erwähnten Klientelpolitik gilt es auch noch Widerstände in der „medialen Berichterstattung“ zu berücksichtigen. Co-Autor Quirin Dammerer zu den Ergebnissen der im Mai 2021 publizierten Studie „Die Vermögenssteuer-Debatte in österreichischen Tageszeitungen“: „Es ist interessant, dass wir auf der einen Seite sehen, dass es Mehrheiten für eine Vermögenssteuer in der Bevölkerung gibt und gleichzeitig diese veröffentlichte Meinung stark von dieser befürwortenden Haltung abweicht.“

Wo setzen wir also an, wenn es darum geht, sich als Gesellschaft für kommende Krisen besser vorzubereiten?

Mit dieser Frage verlassen wir nun endgültig die Analyse und gelangen zum konstruktiveren Teil, genauer: zu konstruierenden Aspekten, die uns künftige Krisen leichter bewältigen helfen sollen oder gar vermeiden. Vielleicht sind es wieder die Jungen wie Greta Thunberg, die den älteren Generationen darin ein Vorbild sein können, aktiv zu werden. So stellt auch Selina Thaler in ihrem UniStandard-Beitrag „Nur nicht abstürzen“ fest: „In all den Krisen seien viele Junge politisch aktiv geworden. Die Welt zu einem besseren Ort zu machen sei für einige ein Antreiber.“

Die nächste Frage wird noch deutlicher:

Wo könnten wir ansetzen und wie sollten wir uns dann engagieren, um 3,5 Prozent unserer Mitmenschen zu motivieren, politisch aktiv und damit auch erfolgreich zu werden?

Die Politikwissenschafterin Tamara Ehs hat im ersten Pandemiejahr ihren Essay „Krisendemokratie“ veröffentlicht, in dem sie sieben Lektionen aus der Coronakrise beschreibt. Eine davon lautet: „Pluralismus der Meinungen ist das Wesen der Demokratie. Die Vielfalt zu hören und aufzunehmen ist Gelingensvoraussetzung des demokratischen Staates und führt zu besseren Entscheidungen.“ Das gilt nicht nur für Wahlen in Krisenzeiten, auf die sie diese Lektion bezieht. Deutlich wird dies im Schlusskapitel „Utopie“, in dem sie festhält: „Im Grunde ist es auch egal, wo wir mit der Demokratisierung beginnen; wichtig ist nur anzufangen.“ Nachfolgend beschreibt sie verschiedene Ansatzpunkte für demokratiestärkende Veränderungen und zivilgesellschaftliches Engagement. Einen für mich zentralen Punkt formuliert sie so: „Um Lehren aus der Krise zu ziehen, muss man bereits den Regelzustand verändern. Hierzu könnte man […] auch ohne Gesetzesänderung die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer interpretieren.“ (S 101 f)

Die Idee eines partizipativeren Parlamentarismus ist nicht neu. So haben bereits Anthony Barnett & Peter Carty im Jahr 2008 (s. Anmerkung 7) darauf hingewiesen, das House of Lords, die zweite Kammer des britischen Parlaments, „nicht abzuschaffen oder ihre Kompetenzen einzugrenzen, sondern den Bestellungsmodus dahingehend zu ändern, dass ein Teil seiner Mitglieder künftig unter allen britischen Bürgern ausgelost würde.“ (Hubertus Buchstein, 2009)

Losverfahren

Fünf Jahre später veröffentlichte der Belgier David Van Reybrouck sein Buch „Gegen Wahlen„, in dem er die Vorteile des Losverfahrens bereits in der Athener Demokratie verortete und dabei folgendes hervorhob: sein Gebrauch „fiel häufig mit dem Höhepunkt von Wohlstand, Prosperität und Kultur zusammen“, es sorgte „in der Regel für weniger Konflikte und größere Beteiligung der Bürger“ und „wurde immer in Kombination mit Wahlen praktiziert, um Kompetenz zu garantieren“. Schließlich stellt er fest: „Staaten, die das Losverfahren anwandten, erlebten häufig Jahrhunderte der politischen Stabilität, trotz großer interner Unterschiede zwischen rivalisierenden Gruppen.“ (S 83) Sich auf Montesquieu und Rousseau beziehend meint Van Reybrouck: „Die zwei wichtigsten Bücher über politische Philosophie aus dem achtzehnten Jahrhundert stimmen […] darin überein, dass das Losverfahren demokratischer sei als Wahlen und dass eine Kombination beider Methoden für eine Gesellschaft von Vorteil sei. Die aleatorischen und elektoralen Verfahren könnten einander stärken.“ (a. a. O., S 85; vgl. Hubertus Buchstein) Diese Kombination bezeichnet Van Reybrouck als „birepräsentatives Modell“ oder „birepräsentatives System“.

Übertragen auf Österreich hieße das: die Wahl von Abgeordneten in den Nationalrat erfolgt wie bisher, die Entsendung in den Bundesrat als zweite Kammer des Parlaments jedoch erfolgt nicht mehr per indirekte Wahl in den Landtagen, sondern per Los.

Mit einer partizipativer gestalteten Wahl der Abgeordneten zum Bundesrat könnten wir damit beginnen, unsere Gesetzgebung dem funktionierenden Bikameralismus in der Schweiz anzunähern. Die Ergebnisse des Klimarates stützen diese Überlegung ebenso wie der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) in Deutschland. Dieser hatte bereits im Jahr 2011 in seinem Hauptgutachten „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ die Einrichtung einer Zukunftskammer empfohlen:

2023-03-26_mehr-demokratie-huerden„Um Zukunftsinteressen institutionell zu verankern, empfiehlt der WBGU zu erproben, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren um eine deliberative ‚Zukunftskammer‘ zu erweitern: Um interessens- und parteipolitische Einmischung zu vermeiden, könnte die Zusammensetzung dieser Kammer beispielsweise durch Losverfahren ermittelt werden.“ (S 10 f)

Damit sind wir an einem Punkt, an dem wir aufgerufen sind zu handeln. Unser politisches Engagement ist gefragt. Das gilt übrigens auch für die katholische Kirche und ihre Gläubigen. Denn anlässlich der „Ansprache von Papst Franziskus an die Schüler der von Jesuiten geführten Schulen in Italien und Albanien“ antwortete dieser auf eine Frage des Spanischlehrers Jesús Maria Martínez: „Wir müssen uns in die Politik einmischen, denn die Politik ist eine der höchsten Formen der Nächstenliebe, denn sie sucht das Gemeinwohl. Und die Laien müssen sich in der Politik einsetzen.“ Wir sind somit gefordert, uns für eine krisenresistentere Zukunft in einer resilienten Demokratie zu engagieren. Meine bisherigen Ausführungen mögen dabei unterstützend wirken.

2023-03-15_Paul-Ginsborg_Wie-Demokratie-leben_Zivilgesellschaft_aktive-und-kritische-Buerger

Abschließend habe ich nur noch folgende Hinweise:

Sofern die im Nationalrat, der Kammer mit gewählten Abgeordneten, getroffenen Entscheidungen nicht ausreichend partizipativ zustande gekommen sind, gilt das Wort: „Macht braucht Kontrolle“. In einem Artikel aus dem Jahr 2003 zur Reform des Bundesrates in Deutschland heißt es dazu:

„In vordemokratischen Zeiten wurde die Fähigkeit der Gemeinwohlsicherung sozial hervorgehobenen Persönlichkeiten zugeschrieben. Mit dem britischen Oberhaus hat sich bis heute eine solchermaßen geprägte Institution erhalten. Die Form der Bestellung, die sich mit der Idee der Gemeinwohlkorrektur von Parlamentsentscheidungen verbindet, ist diejenige der vererbten Mitgliedschaft in der Zweiten Kammer oder moderner: der Ernennung.“ In den beiden Jahrzehnten seither hat sich viel getan. Es wurden nicht nur Bücher und zahlreiche Artikel über die Verwendung von Losverfahren als Ersatz für die erwähnte „Ernennung“ geschrieben, es wurden mittlerweile auch unterschiedliche Bürgerbeteiligungsmodelle in verschiedenen Ländern erfolgreich in bestehende Entscheidungsstrukturen implementiert.

Weil EuTopia, das Paradies auf Erden, nicht vom Himmel fällt, liegt Krisenbewältigung weiterhin und weitestgehend in unseren Händen. Naturbedingte Krisen, beispielsweise aufgrund von Erdbeben, sind hier keine Ausnahme, denn durch erdbebensicheres Bauen kann viel Leid vermieden werden. Wer sich nicht um entsprechenden Erkenntnisgewinn bemüht, um ihn dann in steigende Lebensqualität zu transformieren anstelle von Wohlstandsvermehrung um jeden Preis, macht sich mitverantwortlich für vermeidbare Folgen. Um die zu bewältigenden Aufgaben gemeinsam besser lösen zu können, bedarf es einer stärkeren Demokratie als bisher. Neben der Wahrung von Bundesländerinteressen braucht es zur Abwehr von Spaltungstendenzen in einer immer differenzierteren Gesellschaft in gleichem Ausmaß eine Institution zur Durchsetzung nichtterritorialer Gemeinwohlinteressen. Wer sich dafür begeistern kann und engagieren will ist herzlich eingeladen zur Gründung eines interdisziplinären Arbeitskreises Demokratie. Glück Auf!

2023-03-08_eutopia-ruft_eine-einladung-zur-mitwirkung

Text dieses Referates als pdf-Datei


Diskussion

Abseits einer liberalen Demokratie lebt es sich weniger frei. Jede und jeder ist davon betroffen. Dies wird von Regierenden zwar erkannt, doch in vielen Ländern wird darauf – sofern überhaupt – nur halbherzig reagiert. Wer will schon ohne entsprechenden politischen Druck (von der Straße) etwas von seiner Macht abgeben? So werden „Mitbestimmung, Teilhabe und Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung“ im deutschen Entwurf für ein Demokratiefördergesetz (S 18) zum Idealfall einer Kultur erklärt. Institutionelle Vorkehrungen, die diese – über die Bundesländer hinausreichende – Mitbestimmung durch die Vielen (zB via Gemeinwohlkontrolle) auch ermöglichen, sind keine vorgesehen. Annäherungen an diesen Idealfall gibt es aber mittlerweile in einigen Ländern Europas. Um dies auch anderswo erreichen zu können und um die zivilgesellschaftlichen Bemühungen zu verstärken, bieten Demokratie-Festspiele eine ebenso unterhaltsame wie kulturell nachhaltige Möglichkeit. Karl R. Popper:

Wir dürfen nicht mehr andere Menschen tadeln, wir dürfen auch nicht die dunklen ökonomischen Dämonen hinter der Szene anklagen. Denn in einer Demokratie besitzen wir den Schlüssel zur Kontrolle der Dämonen. Wir können sie zähmen. Es ist wichtig, daß wir diese Einsicht gewinnen und die Schlüssel gebrauchen; wir müssen Institutionen konstruieren, die es uns erlauben, die ökonomische Gewalt auf demokratische Weise zu kontrollieren und die uns Schutz vor der ökonomischen Ausbeutung gewähren.

Karl R. Popper, in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2; geschrieben während des Zweiten Weltkriegs im Exil in Christchurch, Neuseeland

Unterstützt werden diese Überlegungen durch den im Jahr 2022 veröffentlichent UNRISD Flagship-Bericht „Krisen der Ungleichheit„. Darin lesen wir auf S 26:

Die Schlüsselfrage ist nun, wie wir die politische Unterstützung und die finanziellen Mittel für die Umsetzung dieser Vorschläge in die Praxis erreichen können. Die Bildung von Allianzen ist von entscheidender Bedeutung, um die Macht der Vielen wirksam zu nutzen, um den Einfluss der Wenigen zu zügeln und die bestehenden Machtstrukturen neu auszutarieren. […] UNRISD-Forschungen haben gezeigt, dass eine Kombination aus fortschrittlicher Führung, die vom Gemeinwohl und dem öffentlichen Interesse inspiriert ist, und Druck von unten durch protestierende Bürgerinnen und Bürger, fortschrittliche soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen, unterstützt von multilateralen Organisationen und Rahmenwerken, einen großen Beitrag zu nachhaltigeren und inklusiveren Entwicklungsansätzen leisten kann.

Die Durchführung von Veranstaltungen oder die Veröffentlichungen von Publikationen wie jene des „Zivilgesellschaftlichen Zukunftsbudgets 2017 – 2019“ oder des UNRISD-Berichts sind allenfalls ein Anfang auf dem Weg zu einer fortschrittlichen sozialen Bewegung in einer Größenordnung wie sie Erica Chenoweth beschrieben hat.

Daher zum Schluss nochmals der Hinweis auf diesen Gedanken von Tamara Ehs:

„Im Grunde ist es auch egal, wo wir mit der Demokratisierung beginnen; wichtig ist nur anzufangen.“

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Gedanken zur Gründung eines interdisziplinären Arbeitskreises Demokratie

„Nur wenn es demokratische Utopien gibt, ist die (Zukunft der) Demokratie gesichert.“
Tobias Doppelbauer, 2019

Die Verantwortung für die Leitung von politischen Gemeinschaften wird üblicherweise per Wahlen an unattraktive Parteien übertragen. Die daraus entstandene Parteiendemokratie hat sich allerdings nach Ansicht von Emanuel Towfigh mittlerweile „offenkundig überlebt„. Was es nun braucht sind breitenwirksame Aktivitäten zur Beschleunigung eines üblicherweise langsamen Erneuerungsprozesses der Demokratie in Richtung Etablierung eines birepräsentativen Modells auf allen Ebenen der Volksvertretung.

Nach ihrem erfolgreichsten Jahrhundert in ihrer zweieinhalb Jahrtausende währenden Geschichte zeigt die Demokratie Ermüdungserscheinungen. Oliver Marchart zufolge ist sie nicht nur „strukturell prekär“, sondern die „Prekarisierung des Sozialen“ stellt noch zusätzlich eine „Gefahr für die Demokratie“ selbst dar. Vergleichbar Herfried Münkler über „die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg und die […] Empörung einer in prekäre Beschäftigungsverhältnisse abgesunkenen Arbeiterschaft […]: In diesen Bevölkerungsgruppen findet eine liberale, weltoffene Politik keine Resonanz mehr.“ (S 97) Gleichzeitig entstehen zahlreiche Zellen der Erneuerung. Sie tragen unterschiedliche Namen wie Olympiaden der Demokratie, Bürgerbeteiligungssatzung, Citizens‘ Assemblies, Wisdom Councils, Ständiger Bürgerrat für Paris, dem ersten permanenten kommunalen Bürgerrat Deutschlands in Aachen oder Bürgerdialog in Ostbelgien.

Partizipation ist mittlerweile nicht nur zum Schlagwort avanciert, sondern sie findet auch Einzug in viele Lebens- & Arbeitsbereiche, zB in Form der „partizipatorischen Demokratie“ in den politischen Alltag. Allerdings gibt es zu deren Verbreitung Hürden zu überwinden. Katrin Praprotnik: „Generell muss man die Bürgerinnen und Bürger mehr einbinden. Und dann auf die Vorschläge angemessen reagieren. Es reicht nicht, zu fragen und dann zu ignorieren.“ (Kleine Zeitung, S 19)

2022-12-18_FES_Allianzen-des-Fortschritts_zivilgesellschaftliche-Buendnisse-in-der-pluralen-Demokratie

„Die aktive Zivilgesellschaft auf den Straßen begehrt zwar auf, sie ist aber meist nicht in der Lage, die staatlichen Gewaltverhältnisse nachhaltig zu ändern.“
Sieglinde Rosenberger, 2023

Gemeinwohlkontrolle mittels Checks von Gesetzen & Verordnungen

So meinte auch Caritas-Präsident Dr. Michael Landau im Jänner 2020: „Wir würden uns beispielsweise wünschen, dass künftige Gesetze und Verordnungen nicht nur einem Klima-Check, sondern auch einem Armuts-Check unterzogen werden, also jeweils überprüft wird, dass sie Kinder- und Altersarmut sinken und nicht steigen lassen.“ (Kurier, 2020-01-12)

Ähnliche Ambitionen hegt Andreas Kollross in seiner Funktion als Bürgermeister der niederösterreichischen Gemeinde Trumau: „Wer auf Bundesebene Aufgaben und Auswirkungen auf die Gemeindeebene beschließt, hat auch für die finanzielle Deckung zu sorgen. Ein verpflichtender Gemeindecheck diesbezüglich würde da schon genügen.“ Diese Aufgabe verortet er in einem mit „mehr Kompetenzen“ ausgestatteten Bundesrat. Auch eine Zukunftskammer des WBGU oder ein Bundes- & Gemeinwohlrat könnten diesen Wunsch erfüllen. Ebenso ließe sich nach Hubertus Buchstein das „Demokratiedefizit der Europäischen Union“ durch die „Einführung einer gelosten Zweiten Kammer des Europäischen Parlaments […] reduzieren, denn ein solches ‚House of Lots’ (Haus der Ausgelosten) trüge gleichzeitig zur Stärkung der Beteiligung der Bürger als auch zur sachlichen Qualität von politischen Entscheidungen auf Ebene der EU bei.“

Georg Mair: „Macht braucht Kontrolle. Ohne Opposition keine Demokratie.“ Eine Kontrolle durch die Vielen allerdings, also durch den Souverän im Sinne von J. J. Rousseau, gibt es nur ohne den Klubzwang in den von Partikularinteressen (Lobbies) – inkl. Bildungseliten (siehe Michael J. Sandel) – beeinflussten politischen Parteien. 2023-04-05_Direkte-Demokratie-in-der-Schweiz_Deliberation_Bundesrat-als-institutionell-anerkanntes-VerfahrenUm ihre volle ausgleichende Wirkung – mitunter auch gegen eine „Politik der Gesprächsverweigerung“ – entfalten zu können, benötigt sie eine permanent eingerichtete Institution mit Abgeordneten, die „großzügig Zeit und Energie an die Gesellschaft“ verschenken.

Um Lehren aus der Krise zu ziehen, muss man bereits den Regelzustand verändern. Hierzu könnte man […] auch ohne Gesetzesänderung die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer interpretieren.

Tamara Ehs
Krisendemokratie, 2020, S 101 f

Abschnitt „Gemeinwohlkontrolle“ als pdf-Datei. Inhalte weiter unten im Text: Anhang (Arbeitsfelder), Perspektiven, James Fishkin, Plädoyer für ein birepräsentatives Modell

2023-05-21_zeitschrift-luxemburg_freiheit-gleichheit-solidaritaet

Tragisch nur, dass die Solidarität unter den Menschen bereits lange vor dieser „kooperativen Lebensweise“ zu bröckeln beginnt (sofern sie zuvor überhaupt vorhanden war). Während „progressive gesellschaftliche Transformation“ nur gelingen kann, wenn alle mit mitgenommen werden, besteht die Schwierigkeit nun darin, die dafür erforderliche Solidarität einer „aktiven Zivilgesellschaft“ so lange zu organisieren, bis sie erfolgreich wird.

Im Anschluss an diesen Text aus dem ökumenischen Sozialwort 2003 ist auf Seite 51 eine Einladung formuliert „an einzelne, an kirchliche und gesellschaftliche Initiativen und Einrichtungen […], sich die Anliegen des Sozialworts zu eigen zu machen und gemeinsam weiterzuführen.“

2023-02-08_mastodon_arno-niesner_demokratiefoerdergesetz_regierungsentwurfSelbst wenn sie über die Welt der Kommunen hinausreichen, gehen die meisten Initiativen zur Förderung und Stärkung der Demokratie allerdings „nur“ (gewiss: Demokratie braucht „zunächst informierte Bürger„) den langen Bildungsweg der Aufklärung – vorzugsweise mit Jugendlichen. Und auch die programmatischen unter ihnen gehen mit ihren Forderungen für mehr direkte Demokratie mittels „Volksbegehren und Volksentscheiden“ nicht weit genug. Mitunter führt Bildung sogar in eine demokratiepolitische Sackgasse: vgl. Michael J. Sandel. So bliebe Gemeinwohlkorrektur hinter ihren Möglichkeiten zurück, sollte sie nur individuell-präventiven Ansprüchen genügen. Deshalb ist sie über all die sonstigen Anstrengungen hinaus auch institutionell (> Kelsen/Popper) zu denken, zu planen und zu realisieren.2023-01-07_NZZ_Francis-Fukuyama_Institutionen-schaffen_Vetokratie_Demokratie_Trump Selbst eine drohende „Vetokratie“, wie sie Francis Fukuyama bereits in den USA ortete, lässt diesen weiterhin verkünden: „Aber liberale Beschränkungen der Macht sollten als eine Art Versicherungspolice gesehen werden“ (S 106), denn „die Machtausübung überhaupt nicht zu beschränken, ist und bleibt ein gefährliches Versäumnis, weil wir die Identität zukünftiger Machtinhaber nicht im Voraus kennen können.“ (S 107)

2023-01-15_Postkarte_Francis-Fukuyama_Liberalismus_Wahlrecht-ausweiten_Lernen-von-britischen-Konservativen

Jede grundsätzliche Zunahme der Organisationshöhe erfordert zusätzliche Kontrollen zur Verringerung der Fehlerrate.

Ulrich Kull: Die Höherentwicklung der Lebewesen …, S 25

Gemeinwohlcontrolling hat zwecks Vermeidung von volkswirtschaftlichen Nachteilen, Umweltschäden und/oder menschlichem Leid dort anzusetzen, wo Gesetze und Verordnungen verabschiedet werden. Dazu braucht es einen (durchaus föderal organisierten) institutionalisierten Pluralismus, der beispielsweise mithilfe eines interdisziplinären „Arbeitskreises Demokratie“* seiner politischen Realisierung zugeführt wird.

2022-11-29_Van-Reybrouck_Vertrauenskrise
Diese Lehren zieht David Van Reybrouck ua aus seinem „flüchtige[n] Überblick über die Geschichte“: „Der Gebrauch des Losverfahrens fiel häufig mit dem Höhepunkt von Wohlstand, Prosperität und Kultur zusammen“, das Losverfahren sorgte für „weniger Konflikte und größere Beteiligung der Bürger“, es wurde „immer in Kombination mit Wahlen praktiziert, um Kompetenz zu garantieren“** und „Staaten, die das Losverfahren anwandten, erlebten häufig Jahrhunderte der politischen Stabilität, trotz großer interner Unterschiede zwischen rivalisierenden Gruppen.“ (S 82 f)

Eva M. Welskop-Deffaa (2017, S 477):

„Es braucht eine Ermutigung aller Wählerinnen und Wähler, gerade auch derer in prekären Lebenslagen, mit ihrer Stimme ihre politischen Prioritäten zum Ausdruck zu bringen und ‚ihren‘ Kandidat/innen den Einzug in die Parlamente zu ermöglichen, so dass diese Responsivität und Repräsentativität verlässlich gewährleisten.

Per Klick auf das folgende Bild zur Zwischenbemerkung mit Argumenten für die gemeinwohlfördernde Wirkung von Partizipation:

2022-12-26_momentum-at_Entwicklung-von-Dividenden-auf-Aktien-und-den-Realloehnen

Es werden aber, und hier folge ich dem belgischen Historiker David van Reybrouck, diese Anstrengungen im 21. Jahrhundert nicht ausreichen, um die repräsentative Demokratie zukunftsfähig zu erhalten. Nicht erst die neuen Einflussmöglichkeiten durch ’soziale Medien‘ lassen Wahlkämpfe zu einer Reality Show mutieren, die Demokratie als Spektakel (auf privaten und öffentlichen Fernsehbühnen) inszeniert und Teilhabe des Volkssouveräns oft nur noch simuliert. In den USA haben wir bei den Präsidentschaftswahlen 2016 erschreckt beobachten können, was alles (technisch) möglich ist und was alles (politisch) eingesetzt wird, um mit zielgruppengerecht aufbereiteten reißerischen Botschaften, deren Wahrheitsgehalt nicht entscheidend ist, (via Facebook, Twitter und Instagram…) Emotionen zu schüren und Wahlentscheidungen in Echtzeit zu beeinflussen.“

In Anlehnung an die „Pass Egal Wahl“ von SOS-Mitmensch könnten wir wiederkehrende Demokratie-Festspiele veranstalten und dabei einen „Festtag der befreienden Dialoge“ ausrufen. Möglich, dass es zuvor noch – wie bei der fragmentierten Social Economy (S 8) – die Erarbeitung einer Deklaration braucht als „Grundlage für ein koordiniertes Vorgehen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen“, die schließlich über die Umsetzung des „Europäischen Aktionsplans für Demokratie“ hinausreicht. Vermutlich braucht es aber auch so etwas wie die belgische Plattform G1000 zwecks Planung und Durchführung von demokratischen Innovationen im Sinne von James Fishkin.

2022-11-10_Beitragsbild_Wir-wollen-mehr-Demokratie-wagen_Willy-Brandt

Ergänzende Anmerkungen: Die im Beitragsbild erwähnte „Resiliente Demokratie“ bezieht sich auf den gleichnamigen Workshop anlässlich der Tagung22 des Armutsnetzwerks Steiermark. Hinweis von Bischofsvikar Dr. Heinrich Schnuderl auf die Worte von Papst Franziskus: „Wir müssen uns in die Politik einmischen, denn die Politik ist eine der höchsten Formen der Nächstenliebe, denn sie sucht das Gemeinwohl. Und die Laien müssen sich in der Politik einsetzen.“ In „Kirche muss Politik“ gibt es weitere Informationen dazu.

Auch wenn der „Europäische Aktionsplan für Demokratie“ wichtige Schritte in die richtige Richtung beschreibt, so geht er dennoch nicht weit genug, denn Deliberation endet vor dem „Mitentscheiden“ und „bürgerschaftliches Engagement“ ignoriert die Bestrebungen einer „Pass Egal Wahl“ und die daraus gewonnenen Erfahrungen: Am besten ist, wenn alle mitmachen (> weitere Überlegungen von Cristina Lafont).

Anregungen für niederschwellige Angebote

Um alle zum Mitmachen zu motivieren braucht’s niederschwellige Angebote. Ein Beispiel dafür sind Festivals der non-profit grassroot organisation „Pint of Science“.

2023-05-22_pint-of-science-festival

In diesem Sinne sind auch die Bemühungen der Democracy Festivals Association zu verstehen:

2023-05-22_democracyfestivals-org


*| Zum Begriff „interdisziplinärer Arbeitskreis Demokratie“ am 23. 11. 2022 als älteste und einzige Eintragung im Internet gefunden: „Runder Tisch und direkte Demokratie“ – mit inhaltlichen Bezügen bis ins Jahr 1997 zurück. Die Interdisziplinarität stellt dabei eine wesentliche Voraussetzung dar, wenn es darum geht, gemeinsam erfolgreich zu sein.
**| Sich auf Montesquieu und Rousseau beziehend schlussfolgert Van Reybrouck: „Die zwei wichtigsten Bücher über politische Philosophie aus dem achtzehnten Jahrhundert stimmen […] darin überein, dass das Losverfahren demokratischer sei als Wahlen und dass eine Kombination beider Methoden für eine Gesellschaft von Vorteil sei. Die aleatorischen und elektoralen Verfahren könnten einander stärken.“ (a. a. O., S 85; vgl. Hubertus Buchstein)

Inhalte dieser Webseite vom 2023-02-26 als pdf-Datei


Anhang

2021-12-27_partizipative-demokratie-gegen-strukturen-der-ungleichverteilung

Bereits im Jahr 2005 stellte Armin Nassehi fest: „Im 20. Jahrhundert haben wir gesehen, dass alle Diktaturen ökonomisch gescheitert sind.“ Deshalb sollten wir bei unseren Bestrebungen diesen anderen Gedanken von ihm immer wieder erneut in Erinnerung rufen: „Demokratie heißt Partizipation und Partizipation braucht Zeit. Überzeugungszeit.“

In dieser Hinsicht ist es dann nicht verwunderlich, wenn sich die AK Wien nach neun Jahren „Pass Egal Wahl“ erst im Jahr 2022 erstmals daran beteiligte.

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2022-11-29_bpb_2003_Roland-Sturm_Zur-Reform-des-Bundesrates

 

„Außerdem korrespondieren sie mit den in der Wissenschaft (zuletzt Gastil/Wright 2018) schon länger getätigten Überlegungen, die zweite Kammer der Landes- und/oder Regionalparlamente durch geloste BürgerInnenversammlungen zu ersetzen beziehungsweise Einkammernsysteme um eine solche zweite Kammer zu ergänzen. Für Österreich würde dies auf Nationalstaatsebene bedeuten, den Bundesrat als Bürgerrat neu zu gründen.“

Tamara Ehs (2019, S 22)

Am Ende der beiden FREDA-Veranstaltungen „Salonabend: Mehr Demokratie wagen!“ und dem Workshop „Demokratie statt Krise“ mit Tamara Ehs werden nun auch die möglichen

Arbeitsfelder

für einen „Arbeitskreis Demokratie“ klarer sichtbar:

A) Bewusstseinsbildende Maßnahmen und Arbeit an den Strukturen

Partizipative Konzepte werden üblicherweise so verstanden, dass die vielen Stimmen im Vorfeld politischer Entscheidungen gehört werden. Im Vergleich zu dem was idealtypisch erstrebenswert oder zumindest möglich ist, gibt es für die tägliche Praxis noch viel Luft nach oben. Die folgende Auswahl an mittlerweile zahlreichen Beispielen zeigt den vorhandenen Willen zur Umsetzung:

B) Gemeinwohlkorrektur von Parlamentsentscheidungen

Sofern die in einer Kammer mit gewählten Abgeordneten getroffenen Entscheidungen nicht ausreichend partizipativ zustande gekommen sind, gilt das Wort: „Macht braucht Kontrolle“. In einem Artikel aus dem Jahr 2003 zur Reform des Bundesrates in Deutschland heißt es dazu:

„In vordemokratischen Zeiten wurde die Fähigkeit der Gemeinwohlsicherung sozial hervorgehobenen Persönlichkeiten zugeschrieben. Mit dem britischen Oberhaus hat sich bis heute eine solchermaßen geprägte Institution erhalten. Die Form der Bestellung, die sich mit der Idee der Gemeinwohlkorrektur von Parlamentsentscheidungen verbindet, ist diejenige der vererbten Mitgliedschaft in der Zweiten Kammer oder moderner: der Ernennung.“

Seit damals wurde dieses Feld nicht oder nur in qualitativ vergleichbaren Einzelfällen (siehe Ostbelgien und Weyarn) weiter bearbeitet und so gibt es über den erfolgreich praktizierten Bikameralismus in der Schweiz hinaus lediglich einige wenige weitere Anregungen und Wünsche: Zukunftskammer, Gemeinwohlrat, Armuts- & Gemeindecheck und Plädoyer für ein birepräsentatives Modell der Volksvertretung.

In Anlehnung an Wright (2017) sind insgesamt sieben Elemente für eine gelingende Partizipation innerhalb demokratischer Verfahren zentral. Partizipation sollte, laut Wright, nach einem BottomUpPrinzip erfolgen. Die Partizipierenden sollen nicht nur die Möglichkeit bekommen, ihre Ansichten zu öffentlichen Angelegenheiten zu äußern, sie sollen zudem auch direkt in die Entscheidungsfindung mit eingebunden werden (1). […] Die dezentralen und deliberativen Elemente der Entscheidungsfindung gilt es dabei durch die höheren staatlichen Instanzen fest und dauerhaft zu institutionalisieren (6).

Quelle: „Leblose Demokratie: Die Krise der Partizipation?„, S 7

Perspektiven für politisch Engagierte

„Diese neuen Instrumente sind wertvoll, zumal die organisierte Zivilgesellschaft heute weniger zu sagen hat. Aber sie greifen noch immer viel zu kurz. Die Bürgerinitiative bringt die Nöte des Volkes an die Tür des Gesetzgebers, als handelte es sich um Milchflaschen. Nicht weiter. Bei einem Referendum darf das Volk einen fertigen Gesetzentwurf aus dem Fenster entgegennehmen. Nicht eher. Erst dann darf es sich mit Schaum vor dem Mund darauf stürzen. Gespräche mit dem Ombudsmann finden wiederum im Garten statt: weit vom legislativen Prozess entfernt. Nicht näher.“

David Van Reybrouck, a. a. O., S 169 f

2022-11-28_Tamara-Ehs_Broschuere-Buergerbeteiligung_Volksgesetzgebung-nicht-erlaubtWenn auch aus anderen Überlegungen heraus, aber immerhin gibt es hinsichtlich der Einsetzung einer Parlamentsreform-Kommission eine auf Rita Süssmuth verweisende erste Anregung von Helmut Brandstätter nach dem Downgrading Österreichs von einer liberalen zur Wahldemokratie. Wenngleich die empirische Haltbarkeit dieser Herabstufung berechtigterweise zu hinterfragen ist, dennoch trifft sie auf umfangreich formulierte Bedürfnisse aus Sicht der Opposition: Jörg Leichtfried mahnt deshalb auch die „Stärkung des Parlaments“ ein. Die Einführung eines Mehrheitswahlrechts würde dabei auch keine Verbesserung erwarten lassen. Dieses ist vielmehr auch dann abzulehnen, wenn der „Nachteil für kleinere Parteien“ durch begleitende Maßnahmen wie zB ein „sorgfältiger Umgang mit Volksbegehren“ relativiert werden soll. Die Idee der Aufwertung des Bundesrates (siehe „Bundesrat als Volkskammer„) und der Landtage durch zusätzliche, „Staats und Landesgrenzen überschreitende Aufgabenstellungen“ behalten wir allerdings weiterhin im Auge, denn die zweite Kammer des Parlaments könnte doch tatsächlich durch „demokratische Losverfahren2022-11-29_der-Wandel_mehr-Demokratie-wagen_Bundesrat_Buergerrat-als-zweite-Kammer im Sinne eines institutionalisierten Pluralismus gestärkt werden.

Schließlich beginnt auch Herfried Münkler im Zuge seiner Überlegungen über die Zukunft der Demokratie darüber „nachzudenken, ob und wie veränderte Formen des bürgerschaftlichen Engagements eine nachhaltige Umkehr der jüngeren Entwicklung des Wahlverfahrens durch eine aleatorische Aufgabenzuweisung – also ein Einsatz, der von Los und Würfel bestimmt wird – die mit der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger in radikaler Weise ernst macht, bis hin zu organisatorisch offenen Formen der Bürgerbeteiligung, bei denen auch jene in Entscheidungssituationen versetzt werden, die sich sonst nie politisch engagieren würden.“ (S 167) Sein letzter Satz im Buch ist ein unmissverständlicher Aufruf, in diese 2023-06-06_Pragmaticus_Herfried-Muenkler_Losverfahren-statt-PlebiszitRichtung zu handeln: „Eine Demokratie ohne Engagement der Bürgerinnen und Bürger ist nicht überlebensfähig – wenn sie eine Zukunft haben soll, müssen vor allem in diesem Bereich neue Ansätze entwickelt werden.“ (S 176)

2022-12-20_Stadttheater-Gießen_SalongespraecheDer Weg zu mehr direktdemokratischer Bürgerbeteiligung führt allerdings nicht weit genug (vgl. Van Reybrouck w. o.), denn er endet noch vor einer partizipativen Mitentscheidung (s. a. András Jakab). Diese wiederum ist als verfassungswidrige „Volksgesetzgebung“ (S 19) zu verstehen und als solche dürfen ihre Arbeitsergebnisse zu „keinerlei Verpflichtung zur direkten Umsetzung“ in „repräsentativ-demokratischen“ Gremien führen. Währenddessen trifft diese Verfassung auf parteipolitische Interessen, die trotz vorheriger Zustimmung „im Rahmen eines Entschließungsantrags für die Umsetzung des Gremiums“ Klimarat zu dieser Wortmeldung des ÖVP-Umwelt- und Klimasprechers Johannes Schmuckenschlager führten: „Ich kritisiere nicht die Bürger, die sich da engagieren, aber ich kritisiere das Gremium als Institution.“ (in: Der Standard, 11. Juni 2022)


Die Arbeit von James Fishkin führte einen wahren deliberative turn in den politischen Wissenschaften herbei. Dass deliberative Demokratie dem todkranken Leib der elektoral-repräsentativen Demokratie einen kräftigen Impuls geben kann, wird von keinem seriösen Wissenschaftler mehr bezweifelt. Bürgerbeteiligung meint nicht nur demonstrieren, streiken, Petitionen unterschreiben zu dürfen und andere Formen erlaubter Mobilisierung im öffentlichen Raum, sondern muss auch institutionell verankert werden. […] Jedes Mal führte die Beratung zu einer neuen Gesetzgebung.

David Van Reybrouck, in: Gegen Wahlen, S 117 f


2022-12-24_Mastodon-Beitrag_Demokratie-InstitutionenMehr Demokratie auf nationaler Ebene via partizipative Bestellung von Abgeordneten für den Bundesrat

Eine Änderung der Geschäftsordnung des Bundesrates mit Blick auf eine besondere Anwendung des Art. 35 (2) könnte ausreichen, um sowohl eine kommunalpolitische als auch zivilgesellschaftliche Aufwertung des Bundesrates zu erzielen, denn gemäß dieser Bestimmung müssen Mitglieder des Bundesrates nicht dem Landtag angehören. Die Geschäftsordnung des Bundesrates könnte somit vorsehen, dass dessen Mitglieder beispielsweise auch aus einem nationalen Klimarat, aus Gemeinderäten, regionalen Sorgeräten oder (ebenfalls noch zu gründenden) Zukunftsräten entsendet werden. Gelten soll dies jedenfalls für „alle, die hier leben2023-01-03_alfred-riedl_subsidiaritaet-neu-denken„. Inwieweit die über 100 Jahre geübte Praxis der Bestellung von Abgeordneten für den Bundesrat selbst den geforderten „repräsentativ-demokratischen Grundsätzen“ (siehe oben: „verfassungswidrige Volksgesetzgebung„) entspricht ist gesondert zu klären (vgl. Roland Sturm). In diesem Zusammenhang wäre es aber auch interessant zu wissen, ob einzelne Landtage bereits vor einer allfälligen Änderung der Geschäftsordnung des Bundesrates zu einer zeitgemäßeren Form der Bestellung von Abgeordneten für den Bundesrat bereit sind.

2022-10-23_Postkarte_Institutionalisierter-Pluralismus_Buchstein_Loskammer_House-of-LordsDie vorangegangenen Überlegungen sind nicht neu, denn der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) hatte bereits im Jahr 2011 in seinem Hauptgutachten „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ die Einrichtung einer Zukunftskammer empfohlen:

Um Zukunftsinteressen institutionell zu verankern, empfiehlt der WBGU zu erproben, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren um eine deliberative „Zukunftskammer“ zu erweitern. Um interessens- und parteipolitische Einmischung zu vermeiden, könnte die Zusammensetzung dieser Kammer beispielsweise durch Losverfahren ermittelt werden.

Quelle: Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, S 10 f

2022-10-23_Inhalte-Postkarte_Institutionalisierter-Pluralismus
Desgleichen Jean Jacques Rousseau: „Das englische Volk wähnt frei zu sein; es täuscht sich außerordentlich; nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; haben diese stattgefunden, dann lebt es wieder in Knechtschaft, ist es nichts.“

 

Unterwegs zu mehr politischer Teilhabe

Ob es für diese Anpassungsleistung wieder ein „Lichtermeer“ braucht als Gründungsimpuls oder doch „nur“ so etwas wie eine „Pass Egal Wahl“ in der Form eines Demokratie-Festivals als bewusstseinsbildende und transitionsbeschleunigende Institution? In jedem Fall braucht es mehr Partizipation als ergänzendes Korrektiv zur Parteiendemokratie. Denn was hat sich in 30 Jahren SOS Mitmensch geändert? Bereits zur Zeit des Lichtermeers ließ sich die „‚Große Koalition‘ […] von Jörg Haider vor sich hertreiben, und nicht wenige in ihren Reihen fanden selbst Gefallen an den leichten Punkten, die man mit diesem Populismus machen kann“, so der ehemalige Ko-Initiator Helmut Schüller in seinem Resümee 30 Jahre danach. Mittlerweile hat sich dieser Gefallen am Populismus weiter ausgebreitet und nimmt ganze Regierungen in Beschlag. Helmut Schüller im SN-Interview zum Thema Solidarität: „Es fehlt weniger an der Bereitschaft der Menschen, es mangelt viel mehr an der Unterstützung durch die Rahmenbedingungen in der Politik.“ Ohne entsprechende (birepräsentative) Mitregierung durch die Vielen werden sich auch deren angestrebten Ziele – siehe beispielsweise Klimarat – nicht oder nur in Einzelfällen erreichen lassen. Helmut Schüller:

„Denn so, wie es aussieht, ist es noch einigermaßen weit zu einer Politik für Geflüchtete, die ihr Maß an den Menschenrechten nimmt.“

2022-11-27_Kingersheim_Buergerhaus_Maison-de-la-Citoyenneté

Die resiliente Demokratie mag solidarischer sein, doch wenn die 30 Jahre währende Arbeit einer seit Beginn ihres Bestehens von zahlreichen Testimonials unterstützten Organisation kaum Fortschritte erzielt, wie schwierig ist es erst, wenn am „Herzen der Demokratie“ (V. Reybrouck, a. a. O., S 121) operiert wird, um dieses Ziel zu erreichen? Van Reybrouck weiter: „Das war etwas anderes, als die Bürger über Windräder oder Maiskolben mitreden zu lassen.“ Und so kommt auch er vor seiner (lesenswerten!) Analyse des „lehrreichen“ Scheiterns einiger Projekte zu der Erkenntnis: „Demokratische Erneuerung ist ein langsamer Prozess.“ (S 127) Bevor er dann (endlich) doch noch über ein vorbildhaft-positives Beispiel aus Island (ab S 130, hier nachzulesen ab S 104) berichtet, fragt er sich wie viele andere auch: „Als heftigste Gegner erweisen sich immer wieder politische Parteien und kommerzielle Medien. Das Phänomen ist weit verbreitet und faszinierend. Woher diese Bissigkeit?“ (S 129)

2022-12-26_offene-gesellschaft_manifest_raeume-fuer-die-demokratie-von-morgen_teilhabe

2023-01-02_uni-hamburg_christina-kraetzig_waere-es-besser_politische-aemter-zu-verlosenFazit

Schließlich lautet sein Plädoyer: „Wir müssen heute hin zu einem birepräsentativen Modell, einer Volksvertretung, die sowohl durch Abstimmung als auch durch Auslosung zustande kommt. Beide haben schließlich ihre Qualitäten: die Sachkompetenz von Berufspolitikern* und die Freiheit von Bürgern, die nicht wiedergewählt zu werden brauchen. Das elektorale und das aleatorische Modell gehen also Hand in Hand.“ (S 161)

Am Ende seiner Beschreibung des „sortition based government system“ von Terrill Bouricius weist Van Reybrouck darauf hin, dass die Zeit „allmählich reif“ ist für die Phase 4: „um eine gewählte Kammer in einem Zweikammersystem zu ersetzen“. (S 154)
______
*| Siehe Heinz Fischer im ZiB2-Interview über die Vorteile juristischer Qualifikation von Abgeordneten als verteidigende Antwort auf die Frage nach der Repräsentativität des Parlaments als Volksvertretungsorgan, denn Armin Wolf entdeckte bei seinen Recherchen nur noch einen Arbeiter. Zuletzt wurde auch noch über die Sinnhaftigkeit eines (kaum wahrgenommenen) Bundesrates mit nur wenigen Kompetenzen diskutiert.

2023-01-06_buergerrat-de_staendiger-buergerrat-in-paris


Literaturhinweise und allgemeine Informationen: Demarchie, Mitglieder des Netzwerks Democracy R & D, im Kapitel „Blaupause für eine auf dem Losverfahren basierende Demokratie“ stellt David Van Reybrouck das Konzept des amerikanischen Forschers Terrill Bouricius vor


2022-12-05_Video_David-Van-Reybrouck_Why-elections-are-bad-for-democracyFriedensforscher Karl Kumpfmüller (2012):

„Die Gesellschaft ist soweit! Wir werden in den tagtäglichen Themen im Fernsehen damit konfrontiert. Wer nicht soweit ist, ist die politische Klasse. Wir haben in der derzeitigen Demokratie eine Repräsentation von Mächten und Gruppen, die von Partikularinteressen bestimmt ist, daher kommen sie nie zu gemeinsamen, schon gar nicht zu globalen Lösungen. […]

Es bilden sich bereits überparteiliche Bewegungen, da wird’s eine Revolution geben. Denn die politische Kontrolle funktioniert nicht. Es muss Formen der unmittelbaren Demokratie geben, der oberste Souverän, das Volk, muss die Kontrolle haben.“


2022-12-14_Hambacher-Fest_Julius-Froebel_Urversammlung_Demokratie-von-unten


2022-12-14_Parlamentarische-Enquete-des-Bundesrates_2013

2022-12-14_Parlamentsenquete_Bundesrat_Hellrigl_Einleitung
Nachzulesen auch im Webarchiv

Am Schluss seiner Ausführungen hatte der Referent Dr. Manfred Hellrigl als damaliger Leiter des Zukunftsbüros beim Amt der Vorarlberger Landesregierung (seit 2020 „Büro für Freiwilliges Engagement und Beteiligung„) darauf hingewiesen, „dass es einen Flaschenhals gibt bei den Bürgerräten, einen Engpass, eine kritische Stelle. Die kritische Stelle ist nicht, wie wir ursprünglich gedacht haben, die Bürgerin oder der Bürger – dass diese also vielleicht nicht reif oder nicht fähig sind, diese Methoden zu benutzen –, sondern unsere Erfah­rung hat gezeigt, dass es eigentlich die Entscheidungsträger sind. Es ist vor allem die Politik gefordert, ein bisschen loszulassen und Freiräume zu schaffen, wo die Bür­gerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, sich am politischen Spiel, am politischen System zu beteiligen und sich aktiv einzubringen. Da muss Vertrauen gebildet werden. Vertrauen entsteht durch Erfahrung, und ich bin sehr zuversichtlich, dass es uns mit einer wachsenden Zahl von konkreten Beispielen von Bürgerräten gelingen kann, dieses Vertrauen aufzubauen. – Vielen Dank. (Beifall.)“

Vom damals, von Edgar Mayer im April 2013 angekündigten Versuch, die in Vorarlberg und auch anderswo gemachten Erfahrungen mit Bürgerräten über den Arlberg zu transportieren, wurde auch im Mai 2022 nichts bemerkt, als in Bregenz eine 20-köpfige Delegation von „Bundesrat im Bundesland“ zu Gast war.

Siehe auch Hinweis auf die verfassungswidrige „Volksgesetzgebung“ in diesem Blogbeitrag.

2023-01-23_30-Jahre-SOS-Mitmensch_Unrecht-braucht-WiderstandEbenso wie Unrecht benötigt auch eine Demokratie als DystopieWiderstand! Um ein weiteres „Auseinanderdriften der Gesellschaft“ (S 12) zu vermeiden braucht es „mehr und neue Formen der Partizipation“ (S 13). Herkömmliche Bildung ist zu wenig, denn sie allein kann keine meritokratische Gesellschaft auf ihrem liberalen Weg zur Erbaristokratie vor dem Ende des Gemeinwohls bewahren (siehe Molander/Sandel).


2022-12-14_MAK_The-Fest_Feste-entfuehren-in-neue-Wirklichkeiten_oben

2023-02-13_Oest-Integrationsfonds_Intergrationsbarometer-2022-2_gesellschaftlicher-Zusammenhalt_Gruppen


2020-10-18_georges-balandier_glasperlenspiel

2023-01-07_Mastodon_Uwe-Mattheiß_Proaktiv-sei-die-KulturIn diesem Sinne ist vermutlich auch Uwe Mattheiß zu verstehen.

Und damit sind wir schließlich schon sehr nahe an den Überlegungen zur Etablierung von Demokratie-Festspielen an unterschiedlichen Orten.

2023-03-13_Bettina-Ottendoerfer_Armut-und-Gesundheit

Grüne Analyse #bpw22

Wir sehen am Ergebnis der Wahl des österreichischen Staatsoberhauptes im Jahr 2022, wie sehr die Unzufriedenheit mit Politik und Einkommen mit rechtspopulistischem Wahlverhalten korreliert.
 
Die Gefahr einer Rückkehr des „autoritären Charakters“ als maßgebliche Größe in der Politik ist weiterhin nicht ausgeschlossen. Aktuell ist dies auch in Niedersachsen zu beobachten. Grüne und AfD gewinnen jeweils 5,8 und Sonstige 3,1 Prozentpunkte hinzu, alle anderen verlieren. Das soll die Grünen nicht zu Jubelchören verleiten, denn zugleich wird in diesen Tagen bekannt, „was mit mehr Geld und Manpower noch möglich wäre.“
 
Wenn die Grünen nicht wieder wie 2017 zwischen den Stühlen sitzen wollen, dann sollten sie sich mehr der Verhinderung von Unzufriedenheit zuwenden: „Den Eindruck, dass Österreich sich negativ entwickelt hat haben insbesondere Frauen, Arbeiter:innen und Menschen, deren Einkommen kaum zum Leben ausreicht.“ (SORA)
 

Grüne VerAntwortung

Wer auf rechtspopulistische Entwicklungen konstruktive Antworten sucht, schlägt nach bei Hans Kelsen: seiner Meinung nach ist in einer Demokratie „nicht das Volk […], sondern die Republik und ihre Institutionen“ souverän. Insofern sind die Grünen bereits erfolgreich unterwegs mit dem „Hoffnungsanker Klimarat„. Nun gilt es allerdings, die Erfahrungen und die damit verbundenen Hoffnungen zu nutzen für weitere demokratiepolitische Schritte zB zur Stärkung des Parlaments“ im Sinne von Kelsen.
 
Mein Tipp: Eine resiliente Demokratie sollte auch gut dafür geeignet sein, um negative politische Folgen einer Rückkehr des ‚autoritären Charakters‘“ gar nicht erst entstehen zu lassen. Setzt die Antwort zum “Aufbegehren gegen Eliten” allerdings auf noch mehr Bildung (> Andreas Reckwitz, Jan-Werner Müller) und wird weiterhin gleichzeitig die Leistungsgesellschaft propagiert, so führt dies letzten Endes zum Ende des Gemeinwohls”. Die Verantwortung dafür bleibt bei den politisch Aktiven ebenso wie bei den informierten Passiven.
 
Graz, am 12. Oktober 2022

Diese Webseite gibt es auch zum Download als pdf-Datei

Resiliente Demokratie – der geeignete Rahmen für eine krisenfeste Politik

Das Armutsnetzwerk Steiermark veranstaltete am 27. 9. 2022 seine Tagung22 zum Thema „Wie krisenfest ist unsere Gesellschaft?“ Im Demokratie-Workshop wurde plangemäß versucht, eine – allenfalls auch noch eine zweite – Frage an die (dann doch nicht) anwesenden Volksvertreter·innen aus dem Bundesland Steiermark zu erarbeiten.

2022-10-01_Tweet-an-Markus-Marterbauer_Mindestlohn_Produktivitaet_Sozialpartner_Regierung_VolkswirtschaftVorwort: Österreich wurde vom V-Dem-Institut in Göteborg von einer liberalen Demokratie zu einer Wahldemokratie herabgestuft. Um ein weiteres Abrutschen in Richtung illiberale Demokratie zu vermeiden, soll durch „mehr Möglichkeiten der Teilnahme, mehr Transparenz und die Stärkung des Parlaments“ das „Vertrauen der Bevölkerung in die Politik“ gestärkt werden. Soweit Jörg Leichtfried als Reaktion darauf. Ein weiterer Abgeordneter zum Nationalrat äußerte zudem den Wunsch zur Durchführung einer Parlamentsreform-Kommission.

Vorzugsweise beginnen wir unsere Arbeit mit Hinweisen

1. Aus der Praxis

Wenn selbst Rockbands wie Die Toten Hosen und Die Ärzte bereit sind, für klimapositive und nachhaltige Veranstaltungen „Opfer zu bringen“ und dabei wissen, dass sie viel verlangen, wenn sie ihr Publikum „da mit ins Boot holen„, dann darf für die Politik keine Ausrede mehr gelten. So zeigen auch die Erfahrungen des Klimarates, dass Bürgerinnen und Bürger „um vieles weiter gehen [würden], als es die Entscheidungsträger bisher geglaubt haben, weil sie verstanden haben, dass es notwendig ist.“ Die Erkenntnisse aus dem Hoffnungsanker Klimarat mögen dazu führen, „neue Beteiligungsformen in die repräsentative Demokratie [zu] integrieren.“ In der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien führte ein vom Parlament im Jahr 2017 organisierter Bürgerdialog genau dazu, weil: „Bestärkt durch die positiven Echos der Beteiligten entstand die Idee, aus dieser einmaligen Initiative etwas Beständigeres zu machen.“ Mittlerweile wurde das Modell einer permanenten Bürgerbeteiligung – das sogenannte „Ostbelgien-Modell“ – ausgearbeitet und umgesetzt.

Frage: Wieso sollten wir uns als Armutsnetzwerk Steiermark für „neue Beteiligungsformen“ in der repräsentativen Demokratie beschäftigen? Denn auch in unserem Bundesland gibt es ein Ressort, das sich – so hoffen wir – nicht nur auf dem Papier der Bekämpfung von Armut widmet. Lesen wir allerdings zB nach bei Judith Butler, so wird uns dann doch einiges klarer:

„Unterstützung zur Überwindung von Prekarität ist gut, aber werden damit auch die strukturellen Formen der Gewalt und eine Wirtschaftsordnung, die Bevölkerungsgruppen einer nicht mehr lebbaren Prekarität aussetzt, in den Blick genommen und bekämpft?“ (Die Macht der Gewaltlosigkeit, 2021, S 232)

Die Frage von Judith Butler blickt also über die herkömmliche Form der Armutsbekämpfung hinaus und verweist auf die in einer Demokratie gestaltbaren “strukturellen Formen der Gewalt”. Gesund ist das für viele sicher nicht. Das ist mittlerweile hinlänglich bekannt: „Arme erkranken eher schwer, verunfallen häufiger und sterben früher.“ (Peter Stoppacher/Marina Edler, in: Armut in der Steiermark, 2016, S 79)

2. Aus der Theorie

Womit wir bei unserem ersten Begriff sind, den wir näher begutachten: Resilienz.

Dieser bezeichnet für Thomas Klie „nicht nur […] die Fähigkeit von Personen, Krisensituationen und Stress zu überstehen, sondern“ er verwendet ihn auch „für Regionen und Kommunen“ und er meint dabei „in besonderer Weise die Anpassungsfähigkeit an neue Umweltbedingungen […] und die Fähigkeit, Zukunft zu antizipieren und sich gestaltend auf sie einzustellen.“

Damit sind wir auch schon beim zweiten Begriff angelangt, den Thomas Klie wie folgt definiert: „Demokratie bietet prinzipiell allen Bürger*innen Mitentscheidungs-, Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten in ihrem Gemeinwesen und ist auf die Identifikation der Bürger*innen mit diesem angewiesen. Demokratie stellt sowohl individuell als auch kollektiv eine Lebensform dar, die sich in ihren institutionellen Ausprägungen immer wieder neu bewähren muss. Dazu gehört auch die Nutzung verschiedener Spielarten und Formen der Demokratie mit dem Ziel, möglichst viele Bürger*innen zu aktiven Mitgestalter*innen des Gemeinwesens zu machen.“

Ich frage mich, inwieweit dies bereits realisiert ist, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger aktiv die verschiedenen Spielarten und Formen der Demokratie nutzen.

Dazu Martina Zandonella und Tamara Ehs in: Die Auswirkungen von sozialer Ungleichheit auf die Demokratie:

Je prekärer die soziale Lage der Wiener*innen, desto seltener gehen sie zur Wahl

„Der österreichische Sozialstaat“, so meinen sie, fängt zwar „immer noch viele Risiken auf, […] Doch das Sozialeigentum – und damit die Anrechte auf soziale Sicherungsleistungen, Pensionen, öffentliche Güter und Dienstleistungen – ist in den vergangenen Jahren geschrumpft. Damit einher ging ein dominierender politischer Diskurs, der die Empfänger*innen dieser Sicherungsleistungen abwertet, ausgrenzt und für ihre Situation ausschließlich selbst verantwortlich macht. […]

Als Folge dieser Entwicklungen wird auch der sozio-ökonomische Spalt des Nichtwählens weiter aufgehen. Werden jedoch hauptsächlich die ressourcenstarken Stimmen gehört, geht das Recht nicht mehr vom Volk bzw. von einem repräsentativen Querschnitt des Volkes, sondern nur mehr von einem exklusiven Teil davon aus. Die durchgeführte Studie bestätigt, dass weder rechtliche Gleichheit allein noch die bloße Ausweitung des Beteiligungskataloges zu mehr politischer Beteiligung führen, denn diese beruht weniger auf Freiwilligkeit denn auf sozio-ökonomischen Prämissen.

2022-08-24_kontrast_piketty_tweet_progressive-besteuerung_produktivitaet_erbaristokratie

Mehr „formale Bildung“ erhöht zwar phasenweise die Produktivität. Wie das Beispiel USA zeigt, kann sie sich allerdings auch äußerst ungünstig auswirken auf „die Entwicklung in Richtung mehr Gleichheit und Gerechtigkeit.“

Daher geht es vielmehr darum, der (zunehmenden) sozio-ökonomischen Ungleichheit entgegen zu wirken, um (wieder) mehr Menschen in demokratische Prozesse einzubinden. Die entscheidenden Faktoren für politische Partizipation sind ökonomische und soziale Sicherheit: formale Bildung, Einkommen, ein gesicherter Arbeitsplatz und gesellschaftliche Anerkennung. Politik, die mehr Menschen (wieder) gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, stärkt die Demokratie.”

Frage: Wie können wir die Demokratie stärken, wenn “ökonomische und soziale Sicherheit” zum Teil weiterhin prekär bleiben, weil politische Interessen dem Wunsch nach mehr sozialer Gleichheit entgegenstehen?

3. Aus der Politik

Die Politik in einer resilienten Demokratie wirkt präventiv .

Zurück zu den Erfahrungen, die im Rahmen des Klimarates gemacht wurden. Wird nun mit Zustimmung der ÖVP tatsächlich ein den Durchschnitt der Gesamtbevölkerung abbildender Klimarat eingerichtet und macht dieser dann auch noch nach herkömmlichem Politikverständnis unattraktive Vorschläge wie “90 km/h auf Bundesstraßen”, so antwortet bereits “im Vorfeld der Veröffentlichungen” derselbe ÖVP-Klimasprecher, der den „unselbständigen Entschließungsantrag“ miteingebracht hatte, auf die “Frage, was mit den Empfehlungen geschehen soll […]: ‘Keine Ahnung. Das hat für mich keine Relevanz.’”

Ist dem so, “dass informierte Bürgerinnen und Bürger bereit sind, weiter zu gehen als die Politik” (Reinhard Steurer, BOKU Wien), dann sollten wir diese angesichts der anstehenden und gesellschaftlich herausfordernden Transformationen mitwirken lassen an der Gesetzgebung. So regte Caritas-Präsident Michael Landau bereits an: “Wir würden uns beispielsweise wünschen, dass künftige Gesetze und Verordnungen nicht nur einem Klima-Check, sondern auch einem Armuts-Check unterzogen werden, …”

Frage: Wie soll diese Idee umgesetzt werden?

2022-10-01_WH-vom-2021-11-07_dauerhafte-Buergerbeteiligung-auf-nationaler-EbeneDer in Deutschland tätige „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) hatte dazu bereits im Jahr 2011 in seinem Hauptgutachten „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ die Einrichtung einer Zukunftskammer empfohlen:

„Um Zukunftsinteressen institutionell [Anm.: s. Kelsen, Müller u. v. a., AN] zu verankern, empfiehlt der WBGU zu erproben, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren um eine deliberative ‚Zukunftskammer‘ zu erweitern. Um interessens- und parteipolitische Einmischung zu vermeiden, könnte die Zusammensetzung dieser Kammer beispielsweise durch Losverfahren ermittelt werden.“

> vgl. Sozial- und Wirtschaftsrat von Anthony B. Atkinson

2022-09-23_Portal-fuer-Politikwissenschaft_Mudde-Kaltwasser_Populismus

Das führt mich zur Überlegung, einen

4. Bundes- und Gemeinwohlrat

einzurichten. Eine zweite Kammer, die sich neben den (föderalistischen) Länder- auch um die (republikanischen) Gemeinwohlinteressen bemüht, hat den Vorteil, jeden einzelnen zur Debatte stehenden Gesetzesvorschlag auf seine entsprechende Tauglichkeit zu überprüfen. Herkömmliche Bürger·innenräte (Citizens‘ Assemblies, Wisdom Councils) dagegen werden allenfalls zu bestimmten Themen eingerichtet, durch die sich die Politik vor ihren Entscheidungen (unverbindlich) beraten lässt.

Wir könnten dazu aufrufen, mehr Demokratie zu wagen mit dem Ziel, die Interessen sozialer Randgruppen mehr als bisher zu berücksichtigen. Wird dadurch „Armut trotz Arbeit“ (D 2022, Ö 2019) verringert, so bringt dieser Effekt auch Vorteile für die Gesamtgesellschaft, also für alle. Ein weiteres Beispiel ist „Housing First“, wodurch Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, eine kleine Wohnung und Beratung erhalten. Quintessenz: „Das ist für den Staat billiger als die Obdachlosigkeit.“

Tamara Ehs, in: Krisendemokratie (2020), S 22: „Demokratie hat allerdings den Pluralismus und damit die Notwendigkeit der Einholung einer Diversität von Meinungen nicht nur idealerweise zur Voraussetzung, sondern eine [Anm.: die „selektive Responsivität“ konterkarierende] breitere Entscheidungsfindung führt auch zu besseren, weithin akzeptierten Gesetzen.“

Tamara Ehs & Stefan Vospernik in ihrem Beitrag zu „Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie“ (2020), S 113: „Da klassische Parteien auch aufgrund des Vertrauensverlusts längst nicht mehr dazu in der Lage sind, die BürgerInnen umfassend zu repräsentieren, führt an einer verstärkten unmittelbaren Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen kein Weg vorbei.“

Dieser Befund trifft offensichtlich auch auf die bestehenden Netzwerke zu, wenn es darum geht, die unterschiedlichen Interessen einer „zunehmend fragmentierten Gesellschaft“ (Therese Stickler, Umweltbundesamt) in der Gesetzgebung zu berücksichtigen. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die Einrichtung eines Bundes- und Gemeinwohlrates bessere Ergebnisse erwarten lässt.

2022-08-23_zivilfairsammlung_sandel_platon_gutes-regieren_praktische-klugheit_gemeinwohl


Nachträgliche Gedanken zum Workshop „Resiliente Demokratie …“

Die Frage, die wir an die Anwesenden aus der Landespolitik stellen wollten, wurde gleich nach dem Impulsreferat formuliert: „Wie Politik von unten gestalten?“ Nachdem bis auf den Abgeordneten zum Steirischen Landtag Klaus Zenz sonst niemand aus der steirischen Landespolitik das Angebot zum Diskurs angenommen hatte, blieb auch diese Frage letzten Endes unbeantwortet bzw. sie wurde erst gar nicht gestellt.

In der Diskussion mit den TeilnehmerInnen des Workshops wurden die üblichen Themen gestreift: Politische Bildung und Partizipation. Bürgerbeteiligung sollte lebensnah in den Kommunen beginnen und sich bis auf die nationale Ebene fortsetzen. Das im Referat verwendete Zitat von Judith Butler weist uns diesbezüglich den Weg:

„Unterstützung zur Überwindung von Prekarität ist gut, aber werden damit auch die strukturellen Formen der Gewalt und eine Wirtschaftsordnung, die Bevölkerungsgruppen einer nicht mehr lebbaren Prekarität aussetzt, in den Blick genommen und bekämpft?“ (Die Macht der Gewaltlosigkeit, 2021, S 232)

Politische Bildung und Partizipation auf Gemeindeebene werden also nicht reichen für eine nachhaltige Armutsbekämpfung. Es braucht vielmehr eine beteiligungszentrierte Gemeinwohlkontrolle im Bereich der nationalen Gesetzgebung, die es noch zu etablieren gilt. Der „Hoffnungsanker Klimarat“ kann dafür eine wegweisende Initiative sein ganz im Sinne von Hans Kelsen: seiner Ansicht nach ist nicht das Volk souverän, sondern die Republik und ihre Institutionen.

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Weitere Informationen

Wenn wir uns mit demokratischer Resilienz beschäftigen, dann stoßen wir schließlich auch auf a) innere und b) äußere Barrieren, die es mittels struktureller Veränderungen zu überwinden gilt:

a) In unseren westlichen Leistungsgesellschaften wohnt der wirtschaftsliberale Geist, der von Sozialhilfeempfänger·innen Gegenleistungen einfordert. Im Anne Will Talk vom 19. Juli 2013 entgegnet Richard David Precht nach entsprechenden Erläuterungen, die sich auf die “alle[n] Bevölkerungsschichten” innewohnende “spätrömische Dekadenz” (“Ich zock mir was günstiges ab”) beziehen, mit dieser Frage: „Mit welchem Recht können wir einfordern, dass Hartz-IV-Empfänger die besseren Menschen sein sollen und eine höhere Bereitschaft auf Gegenleistung zeigen als der Rest der Gesellschaft?“

b) Politikforscher Herfried Münkler auf die Frage: “Müssen sich die westlichen Demokratien auf massive Wohlstandsverluste einstellen?

Ich nehme an, dass wir auf lange Zeit den Höhepunkt unseres Wohlstands überschritten haben. Es herrscht wieder Knappheit, etwa an Energie. Meine Generation hat gedacht, dass dies mit der Nachkriegszeit zu Ende gegangen ist. Bei uns gab es die Vorstellung, dass wir allenfalls eine Art Selbstverknappung in einer Überflussgesellschaft brauchen, um nicht die Natur zu übernutzen. Die neue Erfahrung von Knappheit wird die Grundmentalität unserer Bevölkerung verändern und sie in vielerlei Hinsicht aggressiver machen.”

Wenn nun für Thomas Klie die „demokratische Resilienz“ nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie „in besonderer Weise Herausforderungen ausgesetzt“ ist, sollten wir uns – über die erwähnten Barrieren hinaus – weiter fragen, an welchen grundlegenden Stellschrauben wir zu drehen haben, um eine „resiliente Demokratie“ gewährleisten zu können.

Dazu gibt uns Stephan Lessenich ua folgende Hinweise: „Und machen wir uns nichts vor: Nicht der geringste Gegner in diesem Prozess sind – jedenfalls in den reichen Demokratien des Westens – wir selbst. […] Eine entscheidende Frage solidarischer Praktiken wird daher lauten, ob wir dazu bereit und in der Lage sein werden, unserer eigenen Berechtigung Grenzen zu setzen, die Angemessenheit unserer eigenen Privilegierung in Zweifel zu ziehen. […]

2022-07-04_mehr-demokratie-wagen_weil-demos-petitionen-und-buergerforen-reichen-nicht-aus

Es würde dies auch bedeuten, in unseren Weltdeutungen und Handlungsorientierungen umzuschalten, nämlich von der sich immer wieder selbst bestätigenden Behauptung unserer individuellen Ohnmacht angesichts der vermeintlichen Übermacht des strukturell Gegebenen – auf die Einsicht in die Machtposition, die uns von den weltgesellschaftlichen Verhältnissen gegeben ist, und in die daraus erwachsende, kollektiv-geteilte Verantwortung. Das wiederum würde die Voraussetzung dafür sein, uns als potenziell handlungsfähige kollektive Akteure zu sehen, also als Agenten der Solidarität, die – den politischen Willen dazu vorausgesetzt – durchaus in der Lage wären, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und an der Schaffung von gesellschaftlichen Institutionen mitzuwirken, die einerseits die Grenzen sozialer Berechtigung dehnen und andererseits die ‚kollektive Selbstbegrenzung‘ mit Blick auf die Entrechtung der Natur organisieren.“

Tamara Ehs & Stefan Vospernik: „Da klassische Parteien auch aufgrund des Vertrauensverlusts längst nicht mehr dazu in der Lage sind, die BürgerInnen umfassend zu repräsentieren, führt an einer verstärkten unmittelbaren Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen kein Weg vorbei.“

Die Unterzeichner·innen von ProjectTogether im Oktober 2021 machen darauf aufmerksam:

„Die Zivilgesellschaft ist ein Inkubator für gesellschaftliche Innovationen, deren Entwicklung häufig im bürgerschaftlichen Engagement beginnt. Die Studie ‚Wenn aus klein systemisch wird‘ von McKinsey & Company und Ashoka (2019) zeigt, dass in diesen gesellschaftlichen Innovationen ein Milliardenpotential für den Staat liegt, wenn es gelingt, den Ideenreichtum der Gesellschaft mit der Umsetzungskraft etablierter Institutionen zu verbinden.“

2021-12-27_partizipative-demokratie-gegen-strukturen-der-ungleichverteilung


diese Webseite auszugsweise in der Fassung vom 2022-07-10 als pdf

Hinweis auf „Die resiliente Demokratie ist solidarischer

Inhalte dieser Webseite als Impulsreferat

Festtag der befreienden Dialoge

Partizipatorische und deliberative Demokratieansätze können darüberhinaus einen ständigen Dialog mit den Bürger*innen fördern und finden vor allem bei in der Gesellschaft kontroversen Themen Entscheidungsmöglichkeiten, die sich durch eine hohe Legitimität und gesellschaftliche Akzeptanz auszeichnen.

Demokratiezentrum Wien: Beteiligungszentrierte Demokratie

2022_BEGS_Besondere-GespraecheMiteinander reden, von Angesicht zu Angesicht, das ist zumindest ein Ansatz, um zu verhindern, dass die Gesellschaft sich weiter spaltet.(Klaus Ott, 2019-12-29)

In seinem Echo der Stille-Beitrag „Ein Haus des Gebetes für alle Menschen“ bezieht sich Hans Waltersdorfer auf Jes 56,7, eine Stelle, die in zweifacher Hinsicht inspiriert. Einerseits erinnert sie an das „gemeinsame Haus“ in Laudato si‘, andererseits ist diese Bibelstelle eingerahmt von Aufforderungen wie „Wahrt das Recht und sorgt für Gerechtigkeit“ (56,1) und „Kommt her, ich hole Wein. Wir trinken uns voll mit Bier“ (56,12). Diese zwei Stellen wiederum erinnern an das sozialpolitische Engagement (… bis hin zu „Politischer Dienst am Menschen, …“ oder „Kirche muss Politik„) in der Diakonie und an ein Zitat aus dem Glasperlenspiel von Hermann Hesse.

Alle drei Aspekte aus Jesaja sind geradezu prädestiniert dafür, von Mensch zu Mensch auf einem „Marktplatz der Ideen“ besprochen zu werden, um im Bedarfsfall gemeinsam die Ausrufung eines Festtags der befreienden* Dialoge vorzubereiten.

Unbenannt

Diese Hinweise bietet uns Armin Nassehi in seinem 2021 erschienen Buch „Unbehagen – Theorie der überforderten Gesellschaft“:

Vielleicht ist Verhaltensänderung in ästhetisch-konsumähnlicher Form leichter, als wenn es sich um das Ergebnis von Aufklärung und Überzeugung handelt. Dieser Gedanke ist genau genommen leicht zu verstehen, er widerspricht aber diametral den Selbstillusionen jenes Milieus, das sein Geld damit verdient, die Welt zu erklären und wünschenswerte Konstellationen zu entwerfen.“ (S 331 f)

„Das spricht nicht gegen Aufklärung etwa über die Klimafrage – aber es spricht dagegen, immer schon zu glauben, dass die Einsicht schon die Lösung sei.“ (S 332)

„Es geht eher darum, dass sich ganz offensichtlich eher latenzbewehrte Formen der Überzeugung durchsetzen. In einer Gesellschaft, die an die ästhetische Form des Konsums gewöhnt ist, sollte man dies nicht unterschätzen.“ (S 333)

2022-04-20_literaturkritik_lukas-meschik_einladung-zur-anstrengung


Forumtheater Leipzig: „Die Frage, wie wir zusammenleben möchten, lässt sich nur über Dialog und das gemeinsame Aushandeln von Bedürfnissen, Erwartungen und auch Konflikten beantworten. Mit unserer 2022-04-20_Synode_Bischofskonferenz-2021-2023_Synthese-Graz-SeckauArbeit versuchen wir kleine Räume zu öffnen, in denen diese Grundhaltung betont wird – mit der Hoffnung, dass der Mehrwert dieser Perspektive auch über unsere Aufführungen und Workshops hinausreicht.“


Bischof Michael Chalupka nennt verschiedene Gründe, die für die Einführung eines „Feiertages für alle“ am Karfreitag sprechen. Dieser könnte nicht nur für die Älteren Anlass sein darüber nachzudenken, „welche Welt wir den Jungen hinterlassen.“


2022-12-25_offenegesellschaft_beteiligung-die-wirkung-zeigt

2022-12-25_zentralplus_fest-fuer-die-demokratieWas zu tun empfiehlt die Zeit?!

Einer dieser Gründe für geringer werdendes Engagement im „pilgernden Gottesvolk“ sieht Friedrich Otto in der „fortschreitende[n] Desillusionierung der Engagierten“. Innerhalb von nur vier Jahren kam es zu einer Halbierung der Zahl an Teilnehmenden auf dem Deutschen Katholikentag.

Das selbe Bild bieten die politischen Parteien in Bezug auf ihre Mitgliederentwicklung, nur nicht in dieser Geschwindigkeit. Gabriel Rinaldi am 5. Sept. 2020: „Vor 30 Jahren waren noch mehr als 2,4 Millionen Deutsche in Parteien aktiv, sind es heute nur noch etwas mehr als 1,2 Millionen. Wer bleibt, ist im Durchschnitt mehr als 55 Jahre alt, männlich und lebt in Westdeutschland.“

Von einer lebendigen Gemeinschaft kann hier keine Rede mehr sein. Weder aus Sicht der Kirche noch aus jener der Demokratie als selbstgewählte Herrschaftsform. An dieser Stelle empfehlen sich Georges Balandier und Hermann Hesse als mögliche Wegweiser:

2020-10-18_georges-balandier_glasperlenspiel

Die Hände in den Schoß legen und gottergeben darauf vertrauen, dass sich alles von alleine regeln wird oder womöglich darauf, dass die „Reichen und Mächtigen“ für uns alle die richtigen, weil gerechten Entscheidungen treffen werden ist eine Illusion. Nach Michael J. Sandel sind gerade sie es, die „das System manipuliert [haben], um ihre Privilegien zu behalten„. Um das Heft des Handelns als demokratisches und als Volk Gottes selbst in die Hand zu nehmen, dazu hat Caritaspräsident Michael Landau folgende Idee formuliert:

„Wir würden uns beispielsweise wünschen, dass künftige Gesetze und Verordnungen nicht nur einem Klima-Check, sondern auch einem Armuts-Check unterzogen werden, also jeweils überprüft wird, dass sie Kinder- und Altersarmut sinken und nicht steigen lassen.“

Knapp zweieinhalb Jahre später liefert er grundlegende Gedanken nach in seinem Beitrag „Die Ursachen der Übel beseitigen, nicht nur die Wirkungen“:

2022-06-04_SN_Zwei-Feste-mit-starker-Ansage_Pfingsten-und-Shavuot„Und so ist das Konzil auch für die Zukunft der Kirche entscheidend: Wenn es etwa im Dekret über das Laienapostolat, Apostolicam Actuositatem 8 klarstellt: Zuerst muss man den Forderungen der Gerechtigkeit Genüge tun, und man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was schon aus Gerechtigkeit geschuldet ist. Man muss die Ursachen der Übel beseitigen, nicht nur die Wirkungen, also die Symptome. Die Kirche der Zukunft muss in diesem Geist eine Kirche sein, die um Gerechtigkeit ringt: Es ist keine mögliche Option, gleichgültig gegenüber dem Schmerz zu leben; wir können nicht zulassen, dass jemand ‚am Rand des Lebens‘ bleibt. (Fratelli tutti 68). Da der Auftrag Jesu keine Verheißung von Gemütlichkeit ist, weist uns Franziskus auch darauf hin, dass das Hinausgehen an die Ränder des Lebens und die Ränder der Gesellschaft die Gefahr in sich birgt, dass wir eine ‚verbeulte‘ Kirche [werden], die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist (Evangelii gaudium 49).“

Gleiches gilt sinngemäß für unsere – den regelmäßigen Dialog (für Österreich) suchenden – Anstrengungen auf dem Weg zu einer partizipativen/beteiligungszentrierten Demokratie als eine wesentliche Voraussetzung für die nachhaltige Beseitigung von Übeln, die uns sonst zu verschlingen drohen. Ein gutes Leben für alle ist auf Dauer nicht anders denk- und machbar.

Ein gelingendes Beispiel dafür, wie Dialog und Kunst eine attraktive Mischung ergeben, zeigt das Programm des Elevate Festivals in Graz:

2022-06-02_Kleine-Zeitung_Elevate-Festival_Politischer-Aktivismus-und-kraeftige-Beats

So betrachtet könnte ein Festtag der befreienden Dialoge mit seinem abschließenden „Fest auf Gegenseitigkeit“ ein von unterschiedlichen territorialen Ebenen vorbereitetes und am Gründonnerstag durchgeführtes Format sein als Mischung aus Armutskonferenz, Fronleichnamsakademie & Elevate Festival. Kulturstrategien enthalten als Vorbild für die Suche nach dem passenden Format auch gleichzeitig den richtungsweisenden Pfad der gemeinsamen Reise: beteiligungszentrierte Demokratie als ein wesentlicher, weil grundlegender Beitrag zu einem „guten Leben für alle„.


*| siehe „befreiende Politik“ im nachfolgenden Kommentar

2022-04-07_HdStille_Nostrae-aetate-5_Friede_Barbara-Inmann-Zitat_Furche

pdf-Datei mit einem Auszug aus diesem Beitrag

Mehr Partizipation stärkt auch Arbeitnehmer-Interessen

Wenn die Reichen und Mächtigen das System manipuliert haben, um ihre Privilegien zu behalten (Michael J. Sandel), dann leiden am anderen Ende der Reichtum-Skala auch die arbeitenden Menschen. Jedenfalls so lange, bis Ministerpräsidenten oder Bundeskanzler über ihre Unzulänglichkeiten im Sinne einer vertrauenswürdigen Volksvertretung stürzen. Dann wird zwar der Weg frei für die massive Anhebung von Mindestlöhnen, aber sie hinterlassen mitunter auch arbeitsmarktpolitische Minenfelder wie beispielsweise 12-Stunden-Arbeitstage, die nicht so schnell wieder aus den Gesetzestexten gelöscht werden. Diesbezüglich könnten wir Vorsorge treffen, indem wir den Bundesrat aus seinem föderalen Dornröschenschlaf erwecken und im Sinne eines weiteren Verfassungsprinzips republikanisch aufwerten. Notwendig wird dieser Schritt, weil schon die bisherigen Maßnahmen gegen arbeitnehmerische Interessen zeigten, dass sie mangels Solidarität und trotz verfassungsmäßig legitimierter Sozialpartnerschaft umsetzbar sind und auch umgesetzt werden.

Wenn am 3. November 2021 in Wien zu einer Demo gegen Big Pharma und für die Freigabe von Patenten aufgerufen wird, dann betrifft das ebenfalls die Agenden einer Institution der nicht-territorialen Selbstverwaltung.

In beiden Fallbeispielen geht es sowohl um einen gerechten Anteil am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand als auch um die Gesundheit der arbeitenden Menschen. Die institutionalisierte Kräfteverteilung hat es bisher nicht geschafft, der seit Jahrzehnten wachsenden und schleichend sich entwickelnden sozialen Ungleichheit erfolgreich zu begegnen. Offensichtlich führt die zunehmende „Heterogenität politischer Präferenzen“ nicht nur bei politischen Parteien (Rousseau sprach von Teilgesellschaften) dazu, dass diese ihre Aufgaben „sukzessive mit geringerem Erfolg erfüllen“. Um nun die anstehenden Interessenskonflikte zu überwinden, ist die Idee eines „institutionalisierte[n] Rückgriff[s] auf Expertenvoten“ keine „attraktive Möglichkeit“, um „in Konstellationen sich widersprechender Präferenzen individualisierter Bürgerinnen und Bürger akzeptable Entscheidungen zu treffen.“ In Anlehnung an die Institutionalisierung des Klimarates in Österreich sollten wir uns daher über die „Einführung einer per Losentscheid zufällig besetzten deliberativen“ Zweiten Kammer (Bundesrat) beraten, „deren Aufgabe in der kritischen Sicht aller Gesetzentwürfe vor ihrer Ratifizierung durch das Parlament liegt.“ (Claudia Ritzi/Gary S. Schaal)

Ein gutes Leben für alle sollte dann leichter realisierbar sein.


2021-10-30 Diese Webseite zum Download im Portable Document Format (pdf)

Die Solidarerben

Zu Beginn des dritten Jahrzehnts im dritten Jahrtausend n. Chr. reift in vielen die Erkenntnis einer gemeinsamen Verantwortung für ein gutes Leben für alle. Am Ende dieses Prozesses steht die Selbstverpflichtung zu handeln.

Manche tun das auch bereits. So lesen wir über die Absicht von Marlene Engelhorn, „dass sie 90 Prozent ihres Millionenerbes spenden möchte„. Unter der wachsenden Zahl an Reichen, die „höhere Steuern für sich selbst“ fordern ist sie eine Ausnahme: sie geht beinahe aufs Ganze. Einzelne Vorbilder wie sie sind für die meisten von uns unerreichbar. Ihre Radikalität im Handeln inklusive. Diese verorten viele von uns üblicherweise gerne bei jenen, die heute als Heilige verehrt werden oder auch namentlich unbekannt sind.

Mit den Spenden der wenigen Reichen, die erkannt haben, dass die soziale Schere auch ihnen schadet, werden wir ein gutes Leben für alle nicht gewährleisten können. Insofern wird es sinnvoll sein, gemeinnützige Organisationen zu gründen, die die gespendeten Erträge von vielen Erben in gesellschaftlich wertvolle Dienste verwandeln. Damit wird gleichzeitig eine Kultur der Enkeltauglichkeit – als Gegenüber zur „rohen Bürgerlichkeit“ – lebendig, die es uns erleichtert, die großen Transformationsaufgaben zu bewältigen. Unsere Werkzeuge dafür können Diskussionsveranstaltungen sein, Workshops zur Verbreitung von Kritikfähigkeit (zB beim Medienkonsum – s. S. 205 ff), konkrete Hilfsleistungen, die Arbeiten von „Think Tanks der Vielen“ oder Projekte, die das Gemeinwohl – wie auch die Selbstverwaltung* – als Ausdruck des republikanischen Verfassungsprinzips institutionell stärken wollen.

Neben vielen anderen Themen sollten wir auch darüber zunächst reden … und dann handeln.


Anmerkung

*| Karl Klein (2003): Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung ist für uns die einzige Möglichkeit, kostengünstig hohe soziale Standards zu bieten, weil Selbstverwaltung immer heißt, dass diese Unternehmen nicht auf Gewinn gerichtet sind und keine Akquisitionskosten haben.“

2021-08-08_Leistung-und-Gerechtigkeit_legitimierte-Ungleichheit_Hans-Peter-Mueller

Gemeinsam soziale Krankheiten besiegen

„Das Soziale ist die beste Medizin“1 lautete der Vortrag von Ilona Kickbusch im Dezember 2000 auf dem Public-Health-Kongress Armut und Gesundheit in Berlin. Spüren wir den Potenzialen nach, die in diesem Satz verborgen liegen, entdecken wir erste Handlungsanweisungen auf dem Weg zu einer resilienten Demokratie.

Wenn wir gesellschaftlich mitverursachte „Krankheiten“ wie jene der Erwerbslosigkeit vermeiden, lindern oder gar heilen können, warum tun wir es dann so unzureichend? Was hindert uns als staatsbildend-politische Wesen daran, unsere Nächsten, die mitunter auch unsere Geschwister sind oder sein können, mitzunehmen auf unsere Reise zu mehr Wohlstand? Stattdessen schauen wir seit Jahrzehnten zu, wie beispielsweise Vollbeschäftigung als Ziel und Aufgabe österreichischer Bundesgesetze zunehmend missachtet wird.

Das selbe Schicksal ereilt dem Kindeswohl. Irmgard Griss stellte in diesem Zusammenhang am 11. April dJ mit Nachdruck fest: „Das ist eines der großen Probleme, dass wir zwar diese verfassungsmäßig abgesicherten Kinderrechte haben, aber unten bei den Kindern selbst kommt wenig davon an.“2

Bereits nach wenigen Monaten ohne Erwerbsarbeit steigt die Armutsgefährdungsquote3 (S 17) und damit die Wahrscheinlichkeit zu erkranken4 deutlich an. Abgesehen von den psychischen und körperlichen Leiden wird so auch die Abgaben entrichtende Solidargemeinschaft belastet. Zudem kann es passieren, dass Betroffene mitunter in die Obdachlosigkeit gestürzt werden. Diese schreckliche Form sozialer Ausgrenzung muss nicht sein: erfolgreich umgesetzte „Housing First„-Konzepte5 in Finnland zeigen, dass die Gemeinschaft der Steuerzahlenden günstiger damit fährt, Obdachlosen (am besten inklusive) Wohnungen zur Verfügung zu stellen.

Hinzu kommt, dass Ungleichheiten im Gesundheitssystem die gesundheitlichen Risiken „ökonomisch schwächer gestellter Personen“ noch zusätzlich verstärken.

Der Kampf für ein verfassungsmäßig geschütztes Kindeswohl im jeweils einzelnen Bescheid und jener gegen eine immer krasser wütende Erwerbslosigkeit können gewonnen werden. Davon würde auch die Mittelschicht profitieren, denn in den letzten Jahrzehnten wurde es „für wachsende Gruppen der Bevölkerung [immer] schwieriger […], dauerhaft Einkommen zu lukrieren, das über das bloße Überleben hinausgeht und gesellschaftliche Teilhabe6 ermöglicht.

2021-04-21_Identitaetspolitiken_Multitude_Geschlossenheit

Erfolge erzielen werden wir nur gemeinsam. Dazu bedarf es „eines radikalen Konzeptes von Solidarität„, das „geradezu auf Differenzen“ basiert. Radikale Solidarität „setzt voraus, dass es gerade nicht geteilte – ökonomische, kulturelle, politische – Grundlagen gibt und dass dieses Trennende temporär überwunden werden kann.“7 (S 138) Dabei schließen Lea Susemichel & Jens Kastner jene mit ein, die aufgrund der selektiven Responsivität8 in der Gesetzgebung das letzte Wort haben: „An diesem Glauben daran, dass auch mächtige und privilegierte Menschen sich von Dominanzkulturen distanzieren können (Anm.: wie zB Marlene Engelhorn), müssen wir unbedingt festhalten.“7 (S 140)

Wird diese Sichtweise zur gelebten Praxis in der Zivilgesellschaft, in den Institutionen der Selbstverwaltung und in allen Einrichtungen, die ein gutes Leben für alle anstreben, dann werden wir erfolgreich sein im Kampf gegen soziale Krankheiten.

Hinweis: „Relevante Lehren für die Weiterentwicklung der vorsorgeorientierten Postwachstumsposition ergeben sich daher in zweierlei Hinsicht. Erstens: erfolgreiche Vorschläge für die Einführung solcher Politiken erfordern von den Akteuren eine gute strategische Abstimmung auf die politisch-ökonomische Situation. … Zweitens werden in der Literatur Forderungen nach solchen Politiken, die das Regime unter Druck setzen (ob durch ökonomische Instrumente oder Ordnungsrecht), immer mit Vorschlägen für die Förderung von Innovationen oder alternativen Praktiken in geschützten Räumen kombiniert …“9

2021-06-01_ZeitZeichen_Solidarisch-gegen-die-Krankheit-Erwerbsarbeitslosigkeit

PS: Weil „die Unterdrückung der Grundbedürfnisse auch die ganze Gesellschaft krank macht“, sollten wir Menschen dazu befähigen, sich dieser wieder „zu besinnen und Wege zu suchen, sie zu erfüllen. Denn nur Menschen, die sich dessen wieder bewusst sind, können auch die Gesellschaft ändern, sind nicht mehr von falschen Belohnungen, Surrogaten und Heilsversprechen abhängig.“ Gleichzeitig wird es aber auch darum gehen müssen, die „in Gesetze gegossene Lieblosigkeit einer brutalen Konkurrenzgesellschaft“10 wieder abzubauen und (mitunter innovative) Vorkehrungen zu treffen, dass derlei Lieblosigkeiten in Zukunft nicht wieder geltendes Recht werden können.

Mitbestimmung hält gesund, auf verschiedenen Ebenen.


Anmerkungen

  1. Ilona Kickbusch: Das Soziale ist die beste Medizin. in: Armut und Gesundheit 2000, Dokumentation, Berlin, Verlag Gesundheit 2001
  2. Irmgard Griss im Interview von Martin Thür in der ORF-Sendung Zeit im Bild 2 am Sonntag, 11. 4. 2021
  3. Peter Stoppacher, Manfred Saurug: Armut in der Steiermark eine Bestandsaufnahme in unterschiedlichen Bereichen. Eine Studie im Auftrag des Landes Steiermark, 2018, S 17
  4. Andreas Mielck: „Die kausale Richtung ‚Armut macht krank‚ […] ist für die Erklärung der gesundheitlichen Ungleichheit wichtiger als die kausale Richtung ‚Krankheit macht arm‘ […]“, S 135, in: Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Empirische Belege für die zentrale Rolle der schulischen und beruflichen Bildung. Brähler, Elmar [Hrsg.]; Kiess, Johannes [Hrsg.]; Schubert, Charlotte [Hrsg.]; Kiess, Wieland [Hrsg.]: Gesund und gebildet. Voraussetzungen für eine moderne Gesellschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012, S. 129-145
  5. Siehe https://kontrast.at/housing-first-finnland-obdachlose
  6. Roland Atzmüller: Prekäre Arbeit, prekäres Leben? https://www.igkultur.at/artikel/prekaere-arbeit-prekaeres-leben, 8. 2. 2019
  7. Jens Kastner, Lea Susemichel: Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster: UNRAST, 2020
  8. Lea Elsässer et al.: „Was Bürger_innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollten, hatte in den Jahren von 1998 bis 2015 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden.“ in: „‚Dem Deutschen Volke‘? Die ungleiche Responsivität des Bundestags“. Z Politikwiss (2017) 27:161–180, S 177
  9. Ulrich Petschow, Florian Kern, David Hofmann, Cathérine Lehmann: Zeitenwende für vorsorgeorientiertes, resilientes Wirtschaften. Neue Impulse durch die Verbindung von Postwachstums- und Transformationsforschung. Diskussionspapier des IÖW 72/20, Berlin, September 2020, S 18
  10. Ralf Julke: „Lieblosigkeit macht krank: Unsere unterdrückten Grundbedürfnisse und die Krisen unserer Zeit„. 2021-02-21. Rezension zu Gerald Hüther: Lieblosigkeit macht krank. Freiburg im Breisgau: Herder, 2021. Datum des Zugriffs: 2021-04-29

Meine Arbeit geb‘ ich dir

Einstimmen auf ein Veranstaltungskonzept im Werden

Reden wir darüber wie es ist, ohne Arbeit zu sein und hungrig.

Laden wir Menschen ein, die darüber erzählen können. Ermutigen wir sie, uns ihre Sicht aus der Perspektive der Erwerbslosigkeit zu schildern. Und dann fragen wir sie das, was wir von ihnen über ihr Leben in dieser Situation immer schon erfahren wollten.

Nehmen wir an, dies erleben wir im ersten Teil einer Veranstaltung, bei der wir im Anschluss an die Pause fachkundige Auskunft erhalten über Entwicklungen auf den Arbeitsmärkten. Durch sie erkennen wir die Vorteile für alle*, sobald wir unsere Arbeit teilen wie Brot. So können auch andere Menschen, unsere Nächsten, satt werden. Nicht nur mit essbaren Lebensmitteln, denn: in einer Leistungsgesellschaft bist du bald niemand, wenn du dein Brot nicht im Schweiße deines Angesichts verdienst!

Lin Chalozin Dovrat: „Many groups in a multicultural society can not enjoy a fair game“

2009_Lin-Chalozin-Dovrat_in_What-is-DemocracyUm nicht hereingelegt zu werden im Reformtheater der Rentiers, gehen wir mit diesem Konzept auf Wanderschaft und klären auf. Dann ist es gut möglich, dass wir damit weiterführende Diskussionen anregen. Vorzugsweise solche, die gesellschaftspolitisch wirksam werden. Diskussionen also, die in politische Arbeit münden. Ist sie fruchtbar, dann werden wir glücklich sein.


*| Housing First ist ein Beispiel dafür, sowie Arbeitszeitverkürzung als Jobmotor: auch in dieser Hinsicht gibt es keine Ausreden mehr für politisches Nichthandeln, Orden und Kirchen sind davon nicht ausgenommen. Gefragt sind philanthropieferne Konzepte gegen die Wirkung selektiver Responsivität, getragen von der Mitte der Gesellschaft, weil auch sie von einem starken Sozialstaat profitiert, und weil soziale Ungleichheit allen schadet.

Mittlerweile gibt das Projekt MAGMA in Gramatneusiedl Hoffnung, indem es im Bedarfsfall eine Chance bietet auf ein „zusätzliches Dienstverhältnis im gemeinnützigen Bereich„.

Housing First ist aber auch ein Beispiel dafür, wie schwierig es fern einer resilienten Demokratie ist, soziale Innovationen zeitnah umzusetzen. Schließlich wurde dieses Konzept bereits in den Jahren 2012 bis 2015 erstmals in Wien getestet. Die Erfolge damit in Finnland scheinen für die Politik ohnehin nicht zu existieren.

Das Foto im Beitragsbild entstand im Rahmen der documenta 14 im Jahr 2017 in Athen. Ihr Konzept gibt Hinweise für die Verwendung in diesem Zusammenhang.

Zivilgesellschaftlicher Schutzwall gegen arbeitnehmerfeindliche Interessen

Bevor wir die Beschaffenheit eines möglichen Schutzwalls als befreiende Perspektive gegen arbeitnehmerfeindliche Interessen betrachten, sollten wir zunächst einen Blick auf gegebene gesellschaftspolitische Warnsignale werfen.

Wie wir wissen, legen rechtspopulistische Regierungen großen Wert darauf, sich bei der Erarbeitung von Gesetzen (und Verordnungen) nicht dreinreden zu lassen. Wirtschaftsliberale Interessen und ihre negativen Folgen für die Arbeitnehmer*innen sind so mit einer größeren Wahrscheinlichkeit zu erwarten als dies unter Einbeziehung der Sozialpartnerschaft der Fall wäre. Während „aus theoretischer wie empirischer Sicht wenig darauf hin [deutet], dass eine generelle Verlagerung der Tarifverhandlungen auf die Betriebsebene […] in jedem Fall von Vorteil sein dürfte“ (S 41), wird dennoch über die Nachteile für die Lohnabhängigen hinweg eine zunehmende Verbetrieblichung angestrebt.

Auch wenn einiges, das Lucia Bauer noch zu Beginn des Jahres 2018 als Befürchtung skizzierte nicht oder nicht in dem geplanten Ausmaß eingetreten ist, so sind dennoch viele dieser negativen Aspekte weiterhin gegeben. Denken wir dabei nur an die durch die „Aufsicht“ erfolgte Erschütterung der Selbstverwaltung aufgrund der „Strukturreform in der Sozialversicherung“ (Pkt. 6) oder an den “Systembruch bei der Sonntags- und Feiertagsruhe”.

Besser wäre es daher, eine demokratisch legitimierte Instanz gegen derlei arbeitnehmerfeindliche Interessen zu errichten, um jahre- oder gar jahrzehntelange Nachwirkungen einer rechtspopulistisch-wirtschaftsliberalen Regierung zu verhindern.

Vorüberlegungen zur anschließenden Schutzwall-Diskussion

Wir kennen in Österreich vier Verfassungsprinzipien. Das bundesstaatliche Prinzip wird seit den Tagen von Hans Kelsen durch den Bundesrat als zweite Kammer gewährleistet:

"In einem Bundesstaat wird die politische Macht zwischen Bund und Ländern aufgeteilt. Es gibt in einem Bundesstaat also nicht nur eine Aufteilung in verschiedene Verwaltungsregionen, sondern die BürgerInnen haben auch das Recht, in ihrem Bundesland selbst politisch mitzugestalten."
Aus: Grundprinzipien der Bundesverfassung

Alle anderen Bereiche der Selbstverwaltung wie jene der gesetzlichen Berufsvertretungen, der Sozialversicherung oder der Vertretung von Studierendeninteressen sind zwar seit 2008 auch verfassungsmäßig und damit grundsätzlich geschützt, aber bei weitem nicht so stark wie die territorialen Interessen. Während die Einrichtung und die Organisation der Gemeinden als Selbstverwaltungskörper in den Artikeln 115 bis 120 der Bundesverfassung geregelt werden, finden die Regelungen für die nichtterritoriale (sonstige, funktionale) Selbstverwaltung in den Absätzen a bis c des Artikels 120 Platz.

Mit anderen Worten: während das bundesstaatliche Verfassungsprinzip bis dato gut abgesichert ist, wird das republikanische Prinzip hingegen beim Staat angesiedelt, der dem Gemeinwohl verpflichtet ist und so den Schutz der “gemeinsamen Sache” (res publica) aller Bürger*innen einer Republik im Fokus hat. Wie wir wissen, bedarf diese Sichtweise einer grundlegenden, vorzugsweise strukturell-institutionellen Korrektur. An dieser Stelle bringt Hartmut Rosa1 diesen Gedanken ins Spiel:

Was würde es denn heißen, Welt gemeinsam zu gestalten? Mein Vorschlag lautet: Wir brauchen so etwas wie eine Gemeinwohlkonzeption, weil Politik nicht einfach Interessendurchsetzung ist. (S 206)

Diese Sichtweise ist keine Einzelmeinung mehr. Sie wird geteilt von anderen namhaften Vertretern aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Dem deutschen Univ.-Prof. Birger Priddat zufolge sollte „jedes Gesetz, nachdem es formuliert ist„, von Fachleuten einer „neutralen Instanz nochmal begutachtet werden, wieweit es dem Allgemeinwohl dient“ (3sat-Interview „Die Politik ist nicht mehr souverän“, 25.8.2017).

Unser gemeinsamer Ausweg: Gemeinwohl-Werkstatt

Gehen wir davon aus, dass eine resiliente Demokratie, die institutionell vorbereitet ist auf die Abwehr von arbeitnehmerfeindlichen Ansprüchen, gleichzeitig solidarischer ist, dann braucht es nur noch eines zur Realisierung dieser Gemeinwohlinstanz: die Ausarbeitung eines von einer breiten zivilgesellschaftlichen Unterstützung getragenen Konzepts zur Etablierung einer Gemeinwohl-Instanz. Andernfalls werden wir den „Wettbewerb nach unten“ auf Dauer nicht stoppen können. Bei einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft wird auch der Ruf nach mehr „Solidarität und demokratische Organisierung aller Lohnabhängigen zur Schaffung von gemeinsamer Handlungsmacht“ ungehört bleiben.

2021-02-09_oliver-nachtwey_verbriefte-soziale-rechte-fuer-alle_ohne-sie-ist-gemeinwohl-undenkbar

Schlimmer noch: schon bisher zeigten die fehlgeschlagenen Bemühungen um die Realisierung eines „Zivilgesellschaftlichen Zukunftsbudgets“ als einer der propagierten „Wege aus der Krise“, dass diese nicht nur weitestgehend ignoriert wurden, vielmehr blieben die verschiedenen Angriffe auf den Sozialstaat auch nach 2008 weiter erfolgreich. Statt neue Jobs zB durch produktivitätssteigernde Arbeitszeitverkürzung zu schaffen, wie sie ua auch von internationalen Konzernen umgesetzt wird, werden sozial benachteiligte Menschen ab 1. 7. 2021 zu einer Sozialberatung verpflichtet, die dazu führen soll, „möglichst viele Menschen rasch aus der Sozialunterstützung in einen Job zu bringen.“ Der damit verbundene soziale Druck nach unten verschärft die Prekarisierung und Spaltung der Gesellschaft. Derlei Maßnahmen passen in das Bild, das Ulrike Herrmann bereits 2010 in ihrem Kommentar „Die Mittelschicht betrügt sich selbst“ zeichnete. Eine so gesehen arbeitnehmerfeindliche Gesetzgebung kann verhindert werden

Den traditionellen linken, sozialen und demokratischen Kräften ist es bisher weder in Deutschland noch in Europa wirklich gelungen, diese Unzufriedenheit aufzugreifen und die entsprechende Energie für einen demokratischen Wiederbeginn zu nutzen. (Oliver Nachtwey2)

durch demokratisch legitimierte Instanzen, die nach dem Gemeinwohl als Ausdruck für das republikanische Verfassungsprinzip streben und damit einer schleichenden Erosion des Sozialstaates entgegenwirken. Während sich andernfalls die Perspektiven in der Abstiegsgesellschaft weiter verdüstern, wächst so – in Anlehnung an Oliver Nachtwey (S 231) – die Hoffnung mit einem optimistischen Blick auf eine bessere Zukunft. In diesem Sinne könnte die Entwicklung eines Gemeinwohlkonzepts als demokratiepolitisches Angebot die geeignete Klammer darstellen für große Gruppen, denen ein kollektiv erfahrbares Anerkennungsdefizit droht (vgl. Oliver Nachtwey, a. a. O., S 187). Die Grundlagen dafür könnte eine Gemeinwohlwerkstatt erarbeiten.

Schlussbemerkung

2021-02-05_ak-wien_piketty_kapital-und-ideologie_Wege-zu-einer-gerechten-Gesellschaft
Link zur Broschüre: https://wien.arbeiterkammer.at/service/veranstaltungen/rueckblicke/AK_Piketty_WEB.pdf

Auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit wird es nicht reichen, sich als Sozialdemokratie nunmehr wieder verstärkt den „Interessen der ArbeitnehmerInnen“ zuzuwenden. Um darin gesamtgesellschaftlich erfolgreich zu sein wird es neben trans- auch nationale, über ideologische Grenzen hinweg agierende Gremien brauchen, die an entsprechenden Lösungen im Sinne einer „partizipatorischen Demokratie“ mitwirken.


Anmerkungen

1.| Hartmut Rosa, in: Was stimmt nicht mit der Demokratie?, Berlin: Suhrkamp, 1. Aufl., 2019
2.| Oliver Nachtwey, in: Die Abstiegsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp, 8. Aufl., 2018, S 230