Partizipatorische und deliberative Demokratieansätze können darüberhinaus einen ständigen Dialog mit den Bürger*innen fördern und finden vor allem bei in der Gesellschaft kontroversen Themen Entscheidungsmöglichkeiten, die sich durch eine hohe Legitimität und gesellschaftliche Akzeptanz auszeichnen.
Demokratiezentrum Wien: Beteiligungszentrierte Demokratie
„Miteinander reden, von Angesicht zu Angesicht, das ist zumindest ein Ansatz, um zu verhindern, dass die Gesellschaft sich weiter spaltet.“ (Klaus Ott, 2019-12-29)
In seinem Echo der Stille-Beitrag „Ein Haus des Gebetes für alle Menschen“ bezieht sich Hans Waltersdorfer auf Jes 56,7, eine Stelle, die in zweifacher Hinsicht inspiriert. Einerseits erinnert sie an das „gemeinsame Haus“ in Laudato si‘, andererseits ist diese Bibelstelle eingerahmt von Aufforderungen wie „Wahrt das Recht und sorgt für Gerechtigkeit“ (56,1) und „Kommt her, ich hole Wein. Wir trinken uns voll mit Bier“ (56,12). Diese zwei Stellen wiederum erinnern an das sozialpolitische Engagement (… bis hin zu „Politischer Dienst am Menschen, …“ oder „Kirche muss Politik„) in der Diakonie und an ein Zitat aus dem Glasperlenspiel von Hermann Hesse.
Alle drei Aspekte aus Jesaja sind geradezu prädestiniert dafür, von Mensch zu Mensch auf einem „Marktplatz der Ideen“ besprochen zu werden, um im Bedarfsfall gemeinsam die Ausrufung eines Festtags der befreienden* Dialoge vorzubereiten.
Diese Hinweise bietet uns Armin Nassehi in seinem 2021 erschienen Buch „Unbehagen – Theorie der überforderten Gesellschaft“:
Texte wie „Polanyis ‚große Transformation‘ […] tun exakt das, was politische Rede kann: Ziele an Kollektive zu adressieren und für entsprechende Entscheidungen zu sorgen – und sie verlangen von ihren Adressaten ohne Zweifel Verhaltensänderungen, Änderungen der Bedingungen ihres Energieverbrauchs, ihrer Mobilität, ihrer Freizeitgestaltung, ihrer Ernährungsgewohnheiten usw. Und es wäre völlig falsch, zu behaupten, dass all diese Dinge verpuffen würden – sie wirken, im Kleinen, nicht als große Transformation, sondern als evolutionäre Veränderung, als langsame
Gewöhnung an neue Formen – oben habe ich es bereits für andere Beispiele durchgespielt. Letztlich muss man an der Soziodizee der Gewohnheit ansetzen – die zugleich die Bremse für die gewünschten disruptiven Veränderungen ist, aber auch der Punkt, an dem man womöglich ansetzen kann.
Dies verweist wieder auf das Latenz-Argument. Würde man es übertrieben formulieren, müsste man sagen: Am besten funktionieren solche Veränderungen, an die man sich gewöhnen kann und die zumindest nicht disruptiv sind. Selbstverständlich werden manche Dinge eher disruptiv durchgesetzt werden müssen – man denke etwa an die Diskussionen um die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland, der von manchen geradezu als ökonomische Katastrophe diffamiert wurde, als Disruption, von anderen als einschneidende Lösung – und schnell trat ein Gewöhnungseffekt ein. Politisch konsentierte er sich schneller, als man gedacht hätte, ökonomisch ist das Abendland nicht untergegangen, Probleme mit dem Niedriglohnsektor gibt es immer noch. Aber die Veränderung ist fast unsichtbar geworden – und hat sich dadurch etabliert. Transformationen sind meist kleine Transformationen – und werden dadurch nachhaltig, dass sie gewissermaßen unsichtbar werden, in den Latenzschutz der eigenen Praxis verschwinden.“ (S 329 f)
Aufklärung
„Vielleicht ist Verhaltensänderung in ästhetisch-konsumähnlicher Form leichter, als wenn es sich um das Ergebnis von Aufklärung und Überzeugung handelt. Dieser Gedanke ist genau genommen leicht zu verstehen, er widerspricht aber diametral den Selbstillusionen jenes Milieus, das sein Geld damit verdient, die Welt zu erklären und wünschenswerte Konstellationen zu entwerfen.“ (S 331 f)
„Das spricht nicht gegen Aufklärung etwa über die Klimafrage – aber es spricht dagegen, immer schon zu glauben, dass die Einsicht schon die Lösung sei.“ (S 332)
„Es geht eher darum, dass sich ganz offensichtlich eher latenzbewehrte Formen der Überzeugung durchsetzen. In einer Gesellschaft, die an die ästhetische Form des Konsums gewöhnt ist, sollte man dies nicht unterschätzen.“ (S 333)
„Vielleicht kann man es auf die ätzende Formel bringen, dass Konsum womöglich leistungsfähiger ist als Bildung.“ (S 336)
Forumtheater Leipzig: „Die Frage, wie wir zusammenleben möchten, lässt sich nur über Dialog und das gemeinsame Aushandeln von Bedürfnissen, Erwartungen und auch Konflikten beantworten. Mit unserer
Arbeit versuchen wir kleine Räume zu öffnen, in denen diese Grundhaltung betont wird – mit der Hoffnung, dass der Mehrwert dieser Perspektive auch über unsere Aufführungen und Workshops hinausreicht.“
Bischof Michael Chalupka nennt verschiedene Gründe, die für die Einführung eines „Feiertages für alle“ am Karfreitag sprechen. Dieser könnte nicht nur für die Älteren Anlass sein darüber nachzudenken, „welche Welt wir den Jungen hinterlassen.“
Was zu tun empfiehlt die Zeit?!
Einer dieser Gründe für geringer werdendes Engagement im „pilgernden Gottesvolk“ sieht Friedrich Otto in der „fortschreitende[n] Desillusionierung der Engagierten“. Innerhalb von nur vier Jahren kam es zu einer Halbierung der Zahl an Teilnehmenden auf dem Deutschen Katholikentag.
Das selbe Bild bieten die politischen Parteien in Bezug auf ihre Mitgliederentwicklung, nur nicht in dieser Geschwindigkeit. Gabriel Rinaldi am 5. Sept. 2020: „Vor 30 Jahren waren noch mehr als 2,4 Millionen Deutsche in Parteien aktiv, sind es heute nur noch etwas mehr als 1,2 Millionen. Wer bleibt, ist im Durchschnitt mehr als 55 Jahre alt, männlich und lebt in Westdeutschland.“
Von einer lebendigen Gemeinschaft kann hier keine Rede mehr sein. Weder aus Sicht der Kirche noch aus jener der Demokratie als selbstgewählte Herrschaftsform. An dieser Stelle empfehlen sich Georges Balandier und Hermann Hesse als mögliche Wegweiser:
Aufruf zu Handeln
Die Hände in den Schoß legen und gottergeben darauf vertrauen (vgl. Kurt Remele), dass sich alles von alleine regeln wird oder womöglich darauf, dass die „Reichen und Mächtigen“ für uns alle die richtigen, weil gerechten Entscheidungen treffen werden ist eine Illusion. Nach Michael J. Sandel sind gerade sie es, die „das System manipuliert [haben], um ihre Privilegien zu behalten„. Um das Heft des Handelns als demokratisches und als Volk Gottes selbst in die Hand zu nehmen, dazu hat Caritaspräsident Michael Landau folgende Idee formuliert:
„Wir würden uns beispielsweise wünschen, dass künftige Gesetze und Verordnungen nicht nur einem Klima-Check, sondern auch einem Armuts-Check unterzogen werden, also jeweils überprüft wird, dass sie Kinder- und Altersarmut sinken und nicht steigen lassen.“
Knapp zweieinhalb Jahre später liefert er grundlegende Gedanken nach in seinem theologie aktuell-Beitrag „Die Ursachen der Übel beseitigen, nicht nur die Wirkungen“:
„Und so ist das Konzil auch für die Zukunft der Kirche entscheidend: Wenn es etwa im Dekret über das Laienapostolat, Apostolicam Actuositatem 8 klarstellt: Zuerst muss man den Forderungen der Gerechtigkeit Genüge tun, und man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was schon aus Gerechtigkeit geschuldet ist. Man muss die Ursachen der Übel beseitigen, nicht nur die Wirkungen, also die Symptome. Die Kirche der Zukunft muss in diesem Geist eine Kirche sein, die um Gerechtigkeit ringt: Es ist keine mögliche Option, gleichgültig gegenüber dem Schmerz zu leben; wir können nicht zulassen, dass jemand ‚am Rand des Lebens‘ bleibt. (Fratelli tutti 68). Da der Auftrag Jesu keine Verheißung von Gemütlichkeit ist, weist uns Franziskus auch darauf hin, dass das Hinausgehen an die Ränder des Lebens und die Ränder der Gesellschaft die Gefahr in sich birgt, dass wir eine ‚verbeulte‘ Kirche [werden], die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist (Evangelii gaudium 49).“
Gleiches gilt sinngemäß für unsere – den regelmäßigen Dialog (für Österreich) suchenden – Anstrengungen auf dem Weg zu einer partizipativen/beteiligungszentrierten Demokratie als eine wesentliche Voraussetzung für die nachhaltige Beseitigung von Übeln, die uns sonst zu verschlingen drohen. Ein gutes Leben für alle ist auf Dauer nicht anders denk- und machbar.
Ein gelingendes Beispiel dafür, wie Dialog und Kunst eine attraktive Mischung ergeben, zeigt das Programm des Elevate Festivals in Graz:
So betrachtet könnte ein Festtag der befreienden Dialoge mit seinem abschließenden „Fest auf Gegenseitigkeit“ ein von unterschiedlichen territorialen Ebenen vorbereitetes und am Gründonnerstag durchgeführtes Format sein als Mischung aus Armutskonferenz, Fronleichnamsakademie & Elevate Festival. Kulturstrategien enthalten als Vorbild für die Suche nach dem passenden Format auch gleichzeitig den richtungsweisenden Pfad der gemeinsamen Reise: beteiligungszentrierte Demokratie als ein wesentlicher, weil grundlegender Beitrag zu einem „guten Leben für alle„.
*| siehe „befreiende Politik“ im nachfolgenden Kommentar
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