Jetzt übernehmen wir!

Am besten funktionieren solche Veränderungen, an die man sich gewöhnen kann und die zumindest nicht disruptiv sind. (Armin Nassehi, in: Unbehagen, S 330)

Wege zum repräsentativen Parlament

Das Motto der 14. Armutskonferenz in St. Virgil, Salzburg, ist kein Aufruf zur Revolution. Es wäre vermessen zu glauben, eine Umkehrung der Machtverhältnisse führt zu wohlstandsmehrenden Lebensverhältnissen für die zuvor Benachteiligten. Ein gutes Leben für alle braucht in einer offenen Gesellschaft auf Dauer das gesamte Meinungsspektrum in den Institutionen der Volksvertretung. Genau deshalb, weil dieses durch die bestehenden Repräsentationslücken derzeit nicht gegeben ist, benötigen die politischen Entscheidungsgremien vielmehr eine partizipative Aufwertung.

Verschiedene Formen stehen dafür zur Auswahl. Zwischen Bürger*innen-Rät*innen und Losbewegungen ist vieles sinnvoll. Nicht vertreten hingegen ist dabei die Idee eines Jean Jacques Rousseau, der in seinem Gesellschaftsvertrag meinte: wenn es denn schon Teilgesellschaften – sprich: Parteien – geben soll, dann „ist es wichtig, ihre Zahl zu vervielfachen und ihrer Ungleichheit vorzubeugen“ (Nr. 320). Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Auch wenn das Angebot der KPÖ+ in Salzburg zahlreiche Bürger*innen wieder zurück an die Wahlurnen bewegt, wird dadurch auf Dauer kein vielfältiges Meinungsspektrum gewährleistet. Diese Garantie erfordert in letzter Konsequenz wie die nichtterritoriale Selbstverwaltung Bestimmungen im Bundes-Verfassungsgesetz (S 18). Demokratiestärkende Reformen sind allerdings erst – wie in anderen Ländern auch – nach entwicklungsfördernden Regierungskrisen zu erwarten. Es gibt aber noch weitere Barrieren zu überwinden:

Erfolge im Kampf gegen die relative Armut sind viel schwerer zu erringen als im Kampf gegen die absolute Armut, weil … die Bekämpfung der relativen Armut [erfordert], dass man den Reichtum antastet. (Christoph Butterwegge)

Wer die „selektive Responsivität“ als strukturelle Bevorzugung der Reichen in der Gesetzgebung aufheben will, kämpft gegen dieselben Windmühlen.

Dringend empfohlen: eine Kultur der Mitentscheidung

Zur Überwindung dieser Widerstände braucht es eine entsprechende Kultur (siehe zB Vorarlberg) zur Erzielung nachhaltiger Transformationserfolge auf dem Weg zu der von Hartmut Rosa vorgeschlagenen „Gemeinwohlkonzeption, weil Politik nicht einfach Interessendurchsetzung ist.“ Wenn durch diese das Volk souverän wirken können soll, hat sie nach Hans Kelsen eine Institution der Republik zu sein. Dazu brauchte es Tamara Ehs zufolge nicht einmal eine Gesetzesänderung: es reicht, „die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer [zu] interpretieren.“ (Krisendemokratie, 2020, S 101 f)

Das wäre zwar ein willkommener erster Schritt, doch dieser ist nicht ohne unser Engagement abseits von Krisen zu erwarten. Das zeigen beispielsweise die Ergebnisse einer parlamentarischen Enquete-Kommission aus dem Jahr 2014 zur „Stärkung der Demokratie in Österreich“. Damals wurden viele Überlegungen nicht einmal ignoriert – wie auch jene von Tamara Ehs:

„Wir haben gemeinsam dieses Grünbuch ‚#besserentscheiden‘ ausgearbeitet, und da kam die Idee auf, ob es nicht der Bundesrat sein könnte, der sich hier neu orientiert. Eine Neuorientierung des Bundesrates als eine Art politischer Think Tank, wo Expertinnen und Experten eingeladen werden, wo der Bundesrat aber auch Bürgerkonferenzen in den einzelnen Bundesländern organisiert, als zukunftsgerichteter Think Tank, eben auch nach Beispiel des finnischen Zukunftsausschusses, wo man Veränderung begleiten kann. Veränderung findet ja immer statt, es geht nur darum: Laufen wir quasi der Veränderung hinterher oder gestalten wir sie mit? – Da könnte der Bundesrat mit dem bereits angesprochenen Demokratiebüro zusammenarbeiten, einen Raum auch für alternative Ideen finden, wo Bürgerinnen und Bürger gemeinsam neue Formen der Demokratie überhaupt erst einmal ausarbeiten können.“ (a. a. O., S 308)

2023-10-27_mitentscheiden_ein-fest-fuer-alle_skizze-01Um nicht tatenlos auf eine reformbegünstigende Krise warten zu müssen, können wir jederzeit wichtige Schritte setzen zur Vorbereitung einer partizipativen Gesetzgebung. Diesbezüglich und zur möglichen Abwendung von Krisen bieten Demokratiefestivals* einen von vielen Wegen zur Entwicklung einer Mitentscheidungskultur, mit dem Ziel, angestrebte Reformvorhaben zu beschleunigen.

Gesuchter Meilenstein: Antworten auf die Kulturfrage

Eine dauerhaft wirkende Partizipationskultur etabliert sich allerdings erst durch dauerhaft Wirkende** in all ihrer Buntheit. Attraktive kulturelle Angebote von kooperierenden Playern der Zivilgesellschaft an verschiedenen Orten können die dargebotene „demokratische Kultur“ zur lebendigen Volkskultur werden lassen – mit entsprechenden Aufträgen*** an die Politik.

Was die Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit betrifft, so darf die im Jahr 2013 eingeführte Pass Egal Wahl von SOS Mitmensch (vgl. mitstimme.ch) als Vorbild genannt werden. Dadurch konnte erstmals neun Jahre später die Arbeiterkammer Wien zur Mitwirkung gewonnen werden.

Neben den bereits erwähnten Demokratiefestivals gibt es zB noch die Demokratiewoche in Telfs rund um den Internationalen Tag der Demokratie und viele andere interessante Formate mehr.

*| Siehe auch a) „Festival für Bürgerbeteiligung und deliberative Demokratie„, das vom Kompetenzzentrum für partizipative und deliberative Demokratie (CC-DEMOS) der Europäischen Kommission organisiert wird und b) Mitmacht, ein Festival von Faktor D.
**| Dieter Rucht erwartet sich von kontinuierlicher Arbeit „auf lange Sicht viel mehr als von den kurzzeitig aufflammenden Protesten von Hunderttausenden oder gar Millionen.“ (S 8)
***| Vgl. Druck auf politische Eliten in Bosnien-Herzegowina, sich um einen EU-Beitritt zu bemühen. Inwieweit „Kulturstrategien als Übungsfeld für mehr Partizipation“ gelten dürfen ist fraglich, schließlich werden „konkrete Vorschläge“ wie „Kunst als „Übung für partizipative Demokratie“ (S 17) erst an stiefmütterlich letzter Stelle genannt.

2024-04-29_Armin-Nassehi_Theorie-der-ueberforderten-Gesellschaft_Soziodizee-der-Gewohnheit

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Der Inhalt dieser Webseite vom MI 10. April 2024 als pdf-Datei


2024-04-25_uni-leipzig_demokratie-braucht-kultur

Ergänzende Hinweise

1. Publikationen und Medien, zusammengestellt von der Stiftung Mitarbeit.

2. Tamara Ehs in der oben erwähnten Enquete-KommissionStärkung der Demokratie in Österreich“ am 18. Dezember 2014:2024-03-14_Enquete-Kommission_Staerkung-Demokratie_2014_Tamara-Ehs_transparente-Gesetzgebung

3. Screenshot_20240501-083552Eine der Forderungen der Arbeiterkammer zur Stärkung der „Demokratie auf allen Ebenen“ lautet:

„Den Umbau demokratisch gestalten: Politik lebt von der Mitwirkung. Die Maßnahmen des sozialen und ökologischen Umbaus sollten daher in breiten und partizipativen Diskussionsprozessen entwickelt und demokratisch entschieden werden. Dabei sollten innovative, sozial repräsentative und inklusive Formen von Partizpation angewandt werden, um der Bevölkerung effektive Möglichkeiten zur Mitwirkung zu geben.“

Quelle: Wirtschaft & Umwelt 1, 2024, S 21

Wenn wir nicht wollen, dass es eine Demokratie gibt, in der Mitbestimmung immer mehr zu einem Privileg der Bessergestellten wird, muss man gegensteuern. (AK Wien, 2022)


2024-04-26_Van-Reybrouck_Gegen-Wahlen_Losverfahren-in-Kombination-mit-Wahlen

4. Was es neben den bisherigen Bemühungen noch braucht: institutionalisierte Dauerhaftigkeit

2024-04-05_InterAct_25-Jahre_Legislatives-Theater_UniZentrum-WallPolitische Erfolge der Bürger*innenräte und des Legislativen Theaters sind wichtige Schritte auf dem Weg zu repräsentativen Parlamenten in Gemeinden, Städten, Regionen, Nationen und in supranationalen Institutionen. Ihre Schwerpunkte liegen in ausgewählten Themen. Zudem liefern sie wichtige kulturelle Beiträge („soziales Kapital„) zur Zukunftsfähigkeit von demokratischen Gesellschaften. Allerdings sind sie damit noch weit entfernt von einer dauerhaften 2024-05-03_Michael-Lederer_armutskonferenz-2020_Institutionalisierung-der-partizipativen-DemokratieGemeinwohlkontrolle im Sinne eines Armuts-Checks von Gesetzen und Verordnungen, formuliert von Dr. Michael Landau im Jänner 2020. Die Steine auf dem Weg dorthin sind nur gemeinsam zu beseitigen. Einzelne Projekte oder Wortmeldungen – selbst jene von Willy Brandt in seiner Regierungserklärung im Jahr 1969, die da lautet: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ – bringen uns der wünschenswerten und zu fordernden Repräsentativität in der Gesetzgebung allenfalls nach schweren Krisen näher. Bislang aber selbst dann nicht nahe genug.

Deshalb braucht es noch zusätzlich Proteste als Demokratiegeneratoren (Armin Nassehi) ebenso wie Diskurse und Festivals, am besten in Form einer lebendigen Mitentscheidungskultur. Solange ausreichend viele „konkrete demokratische Erfahrungsräume fehlen“ (Jakob Fürst), sind wir aufgerufen, „Mitentscheidung einzufordern„. Wie sonst soll Armut als Risiko für [die] Demokratie jemals aus der Welt geschafft werden?

Wegweisende Maßnahmen der 14. Armutskonferenz

Demokratie als Lebensform wird mittlerweile bereits in Kindergärten praktiziert und gelernt. Gleichzeitig braucht es idealerweise auch eine verfassungsmäßig verankerte Gewährleistung einer repräsentativen Mitwirkung an öffentlich relevanten Entscheidungen. In der 14. Armutskonferenz wurde daher folgendes von den anwesenden „Minister*innen“ in der Zukunftswerkstatt Beteiligung beschlossen:

2024-04-17_Armutskonferenz_W2_BuergerInnenraete-in-Verfassung-und-auf-Gemeindeebene

Einzelne Maßnahmen wie Informationen zu „Direkte Demokratie und Partizipation in den österreichischen Gemeinden“ im Anschluss an das gleichnamige Symposium vom 5. November 2014 führen von sich aus noch zu keiner flächendeckenden Versorgung mit partizipativen Elementen der Mitentscheidung als ein wesentlicher Bestandteil einer breitenwirksamen Mitentscheidungskultur.

2024-04-28_schlaining_workshop_erfolgreiche-beteiligungsprojekt-in-klimafragenMit Bündnissen Widerstände überwinden

Wie damals in Frankreich erfolgt bei den „privilegierten Ständen [auch heute k]ein Verzicht auf ihre Vorrechte freiwillig und aus Einsicht„. Jetzt übernehmen zu wollen, um die Demokratie zu stärken, braucht zuerst unser Engagement in lebendigen und damit starken Bündnissen zwischen verschiedenen Playern der Zivilgesellschaft.

Bild: Arno Niesner

2 Gedanken zu „Jetzt übernehmen wir!

  1. Letzten Endes geht es bei all den beschriebenen Bemühungen darum, die Türen ins Hohe Haus durch die Etablierung eines repräsentativen Parlaments dauerhaft offen zu halten für die Vielen.

    Begründung: Soziale Ungleichheit gefährdet die Demokratie. Je prekärer die soziale Lage, desto seltener gehen Menschen zur Wahl. Die Forderung nach Reduktion sozialer Ungleichheit greift dabei zu kurz. Zum Teil auch deshalb, weil einfache Regierungsmehrheiten jede soziale Unterstützung wieder rückgängig machen können (und dies auch immer wieder praktiziert haben) oder – abgesehen von den täglich vorgebrachten Widerständen – gar selbst gesteckte sozialpolitische Ziele nicht umsetzen. Sinnvoller wäre es daher, Maßnahmen zu ergreifen, die in der Verfassung verankert sind und durch ein repräsentatives Parlament lebendig gehalten werden. Um dies proaktiv anzustreben braucht es unser zivilgesellschaftliches Engagement für eine landesweit etablierte Mitentscheidungskultur. Doch gerade darin liegt die größte Herausforderung in einem Land mit einer funktionierenden Sozialpartnerschaft und nur wenigen Streikminuten pro Jahr.

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