Einladung zur Mitwirkung

Die im Beitragsbild erwähnte Einladung zur Mitwirkung bezieht sich nun nicht mehr auf die Inhalte des Impulsreferates EuTopia ruft, sondern …

2024-09-05_qr-code_gemeinwohlcontrolling_kurt-remele_aufruf-zu-handelnGesucht: Verbündete für die Demokratieentwicklung

… vielmehr werden mittlerweile Partnerorganisationen und Verbündete – vorzugsweise in Österreich – gesucht*, die sich um eine lebendige Mitentscheidungskultur bemühen (wollen) und/oder um die Etablierung eines effektiven Bündnisses zur Stärkung unserer Demokratie, zB durch ein repräsentatives Parlament als „unser gemeinsames Haus„.


*| Interessierte informieren sich bei Bedarf zunächst via allianz.bosolei.com und melden sich danach gegebenenfalls bei Arno Niesner via Kontaktformular oder per Anruf unter +43 699 105 90 966.

2024-09-04_Allianz-fuer-ein-partizipatives-Parlament

2024-06-27_Plaedoyer-fuer-mehr-Mitentscheidung


2024-09-19_parlament_enquete-kommission_staerkung-der-demokratie

Resiliente Demokratie – der geeignete Rahmen für eine krisenfeste Politik

Das Armutsnetzwerk Steiermark veranstaltete am 27. 9. 2022 seine Tagung22 zum Thema „Wie krisenfest ist unsere Gesellschaft?“ Im Demokratie-Workshop wurde plangemäß versucht, eine – allenfalls auch noch eine zweite – Frage an die (dann doch nicht) anwesenden Volksvertreter·innen aus dem Bundesland Steiermark zu erarbeiten.

2022-10-01_Tweet-an-Markus-Marterbauer_Mindestlohn_Produktivitaet_Sozialpartner_Regierung_VolkswirtschaftVorwort: Österreich wurde vom V-Dem-Institut in Göteborg von einer liberalen Demokratie zu einer Wahldemokratie herabgestuft. Um ein weiteres Abrutschen in Richtung illiberale Demokratie zu vermeiden, soll durch „mehr Möglichkeiten der Teilnahme, mehr Transparenz und die Stärkung des Parlaments“ das „Vertrauen der Bevölkerung in die Politik“ gestärkt werden. Soweit Jörg Leichtfried als Reaktion darauf. Ein weiterer Abgeordneter zum Nationalrat äußerte zudem den Wunsch zur Durchführung einer Parlamentsreform-Kommission.

Vorzugsweise beginnen wir unsere Arbeit mit Hinweisen

1. Aus der Praxis

Wenn selbst Rockbands wie Die Toten Hosen und Die Ärzte bereit sind, für klimapositive und nachhaltige Veranstaltungen „Opfer zu bringen“ und dabei wissen, dass sie viel verlangen, wenn sie ihr Publikum „da mit ins Boot holen„, dann darf für die Politik keine Ausrede mehr gelten. So zeigen auch die Erfahrungen des Klimarates, dass Bürgerinnen und Bürger „um vieles weiter gehen [würden], als es die Entscheidungsträger bisher geglaubt haben, weil sie verstanden haben, dass es notwendig ist.“ Die Erkenntnisse aus dem Hoffnungsanker Klimarat mögen dazu führen, „neue Beteiligungsformen in die repräsentative Demokratie [zu] integrieren.“ In der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien führte ein vom Parlament im Jahr 2017 organisierter Bürgerdialog genau dazu, weil: „Bestärkt durch die positiven Echos der Beteiligten entstand die Idee, aus dieser einmaligen Initiative etwas Beständigeres zu machen.“ Mittlerweile wurde das Modell einer permanenten Bürgerbeteiligung – das sogenannte „Ostbelgien-Modell“ – ausgearbeitet und umgesetzt.

Frage: Wieso sollten wir uns als Armutsnetzwerk Steiermark für „neue Beteiligungsformen“ in der repräsentativen Demokratie beschäftigen? Denn auch in unserem Bundesland gibt es ein Ressort, das sich – so hoffen wir – nicht nur auf dem Papier der Bekämpfung von Armut widmet. Lesen wir allerdings zB nach bei Judith Butler, so wird uns dann doch einiges klarer:

„Unterstützung zur Überwindung von Prekarität ist gut, aber werden damit auch die strukturellen Formen der Gewalt und eine Wirtschaftsordnung, die Bevölkerungsgruppen einer nicht mehr lebbaren Prekarität aussetzt, in den Blick genommen und bekämpft?“ (Die Macht der Gewaltlosigkeit, 2021, S 232)

Die Frage von Judith Butler blickt also über die herkömmliche Form der Armutsbekämpfung hinaus und verweist auf die in einer Demokratie gestaltbaren “strukturellen Formen der Gewalt”. Gesund ist das für viele sicher nicht. Das ist mittlerweile hinlänglich bekannt: „Arme erkranken eher schwer, verunfallen häufiger und sterben früher.“ (Peter Stoppacher/Marina Edler, in: Armut in der Steiermark, 2016, S 79)

2. Aus der Theorie

Womit wir bei unserem ersten Begriff sind, den wir näher begutachten: Resilienz.

Dieser bezeichnet für Thomas Klie „nicht nur […] die Fähigkeit von Personen, Krisensituationen und Stress zu überstehen, sondern“ er verwendet ihn auch „für Regionen und Kommunen“ und er meint dabei „in besonderer Weise die Anpassungsfähigkeit an neue Umweltbedingungen […] und die Fähigkeit, Zukunft zu antizipieren und sich gestaltend auf sie einzustellen.“

Damit sind wir auch schon beim zweiten Begriff angelangt, den Thomas Klie wie folgt definiert: „Demokratie bietet prinzipiell allen Bürger*innen Mitentscheidungs-, Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten in ihrem Gemeinwesen und ist auf die Identifikation der Bürger*innen mit diesem angewiesen. Demokratie stellt sowohl individuell als auch kollektiv eine Lebensform dar, die sich in ihren institutionellen Ausprägungen immer wieder neu bewähren muss. Dazu gehört auch die Nutzung verschiedener Spielarten und Formen der Demokratie mit dem Ziel, möglichst viele Bürger*innen zu aktiven Mitgestalter*innen des Gemeinwesens zu machen.“

Soziale Ungleichheit und ihre Auswirkungen auf die Demokratie

Dieses hehre Ziel scheint mittlerweile allerdings eher unerreichbar, jedenfalls wird es nicht ohne große Anstrengungen realisiert werden können. Denn Fakt ist vielmehr, dass „bildungsferne und einkommensschwache Gruppen […] in politischen Organisationen unterrepräsentiert“ sind. (Sebastian Bödeker, 2012, S 3) Bödeker weiter: „Die Mitgliedschaft in den meisten zivilgesellschaftlichen Organisationen ist in noch höherem Maße von Einkommen und Bildung abhängig […].“

Dazu Martina Zandonella und Tamara Ehs (2020) in: Die Auswirkungen von sozialer Ungleichheit auf die Demokratie:

Je prekärer die soziale Lage der Wiener*innen, desto seltener gehen sie zur Wahl“

„Der österreichische Sozialstaat“, so meinen sie, fängt zwar „immer noch viele Risiken auf, […] Doch das Sozialeigentum – und damit die Anrechte auf soziale Sicherungsleistungen, Pensionen, öffentliche Güter und Dienstleistungen – ist in den vergangenen Jahren geschrumpft. Damit einher ging ein dominierender politischer Diskurs, der die Empfänger*innen dieser Sicherungsleistungen abwertet, ausgrenzt und für ihre Situation ausschließlich selbst verantwortlich macht. […]

Als Folge dieser Entwicklungen wird auch der sozio-ökonomische Spalt des Nichtwählens weiter aufgehen. Werden jedoch hauptsächlich die ressourcenstarken Stimmen gehört, geht das Recht nicht mehr vom Volk bzw. von einem repräsentativen Querschnitt des Volkes, sondern nur mehr von einem exklusiven Teil davon aus. Die durchgeführte Studie bestätigt, dass weder rechtliche Gleichheit allein noch die bloße Ausweitung des Beteiligungskataloges zu mehr politischer Beteiligung führen, denn diese beruht weniger auf Freiwilligkeit denn auf sozio-ökonomischen Prämissen.“ (Zandonella/Ehs, 2020, S 7)

2022-08-24_kontrast_piketty_tweet_progressive-besteuerung_produktivitaet_erbaristokratie

Mehr „formale Bildung“ erhöht zwar phasenweise die Produktivität. Wie das Beispiel USA zeigt, kann sie sich allerdings auch äußerst ungünstig auswirken auf „die Entwicklung in Richtung mehr Gleichheit und Gerechtigkeit.“

„Daher geht es vielmehr darum, der (zunehmenden) sozio-ökonomischen Ungleichheit entgegen zu wirken, um (wieder) mehr Menschen in demokratische Prozesse einzubinden. Die entscheidenden Faktoren für politische Partizipation sind ökonomische und soziale Sicherheit: formale Bildung, Einkommen, ein gesicherter Arbeitsplatz und gesellschaftliche Anerkennung. Politik, die mehr Menschen (wieder) gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, stärkt die Demokratie.” (a. a. O., S 7 f)

Frage: Wie können wir die Demokratie stärken, wenn “ökonomische und soziale Sicherheit” zum Teil weiterhin prekär bleiben, weil politische Interessen dem Wunsch nach mehr sozialer Gleichheit entgegenstehen?

3. Aus der Politik

Die Politik in einer resilienten Demokratie wirkt präventiv .

Zurück zu den Erfahrungen, die im Rahmen des Klimarates gemacht wurden. Wird nun mit Zustimmung der ÖVP tatsächlich ein den Durchschnitt der Gesamtbevölkerung abbildender Klimarat eingerichtet und macht dieser dann auch noch nach herkömmlichem Politikverständnis unattraktive Vorschläge wie “90 km/h auf Bundesstraßen”, so antwortet bereits “im Vorfeld der Veröffentlichungen” derselbe ÖVP-Klimasprecher, der den „unselbständigen Entschließungsantrag“ miteingebracht hatte, auf die “Frage, was mit den Empfehlungen geschehen soll […]: ‘Keine Ahnung. Das hat für mich keine Relevanz.’”

Ist dem so, “dass informierte Bürgerinnen und Bürger bereit sind, weiter zu gehen als die Politik” (Reinhard Steurer, BOKU Wien), dann sollten wir diese angesichts der anstehenden und gesellschaftlich herausfordernden Transformationen mitwirken lassen an der Gesetzgebung. So regte Caritas-Präsident Michael Landau bereits an: “Wir würden uns beispielsweise wünschen, dass künftige Gesetze und Verordnungen nicht nur einem Klima-Check, sondern auch einem Armuts-Check unterzogen werden, …”

Frage: Wie soll diese Idee umgesetzt werden?

2022-10-01_WH-vom-2021-11-07_dauerhafte-Buergerbeteiligung-auf-nationaler-EbeneDer in Deutschland tätige „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) hatte dazu bereits im Jahr 2011 in seinem Hauptgutachten „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ die Einrichtung einer Zukunftskammer empfohlen:

„Um Zukunftsinteressen institutionell [Anm.: s. Kelsen, Müller u. v. a., AN] zu verankern, empfiehlt der WBGU zu erproben, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren um eine deliberative ‚Zukunftskammer‘ zu erweitern. Um interessens- und parteipolitische Einmischung zu vermeiden, könnte die Zusammensetzung dieser Kammer beispielsweise durch Losverfahren ermittelt werden.“

> vgl. Sozial- und Wirtschaftsrat von Anthony B. Atkinson

2022-09-23_Portal-fuer-Politikwissenschaft_Mudde-Kaltwasser_Populismus

Das führt mich zur Überlegung, einen

4. Bundes- und Gemeinwohlrat

einzurichten. Eine zweite Kammer, die sich neben den (föderalistischen) Länder- auch um die (republikanischen) Gemeinwohlinteressen bemüht, hat den Vorteil, jeden einzelnen zur Debatte stehenden Gesetzesvorschlag auf seine entsprechende Tauglichkeit zu überprüfen. Herkömmliche Bürger·innenräte (Citizens‘ Assemblies, Wisdom Councils) dagegen werden allenfalls zu bestimmten Themen eingerichtet, durch die sich die Politik vor ihren Entscheidungen (unverbindlich) beraten lässt.

Wir könnten dazu aufrufen, mehr Demokratie zu wagen mit dem Ziel, die Interessen sozialer Randgruppen mehr als bisher zu berücksichtigen. Wird dadurch „Armut trotz Arbeit“ (D 2022, Ö 2019) verringert, so bringt dieser Effekt auch Vorteile für die Gesamtgesellschaft, also für alle. Ein weiteres Beispiel ist „Housing First“, wodurch Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, eine kleine Wohnung und Beratung erhalten. Quintessenz: „Das ist für den Staat billiger als die Obdachlosigkeit.“

Tamara Ehs, in: Krisendemokratie (2020), S 22: „Demokratie hat allerdings den Pluralismus und damit die Notwendigkeit der Einholung einer Diversität von Meinungen nicht nur idealerweise zur Voraussetzung, sondern eine [Anm.: die „selektive Responsivität“ konterkarierende] breitere Entscheidungsfindung führt auch zu besseren, weithin akzeptierten Gesetzen.“

2020_Kritisches-Handbuch-der-oesterreichischen-DemokratieTamara Ehs & Stefan Vospernik in ihrem Beitrag zu „Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie“ (2020), S 113: „Da klassische Parteien auch aufgrund des Vertrauensverlusts längst nicht mehr dazu in der Lage sind, die BürgerInnen umfassend zu repräsentieren, führt an einer verstärkten unmittelbaren Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen kein Weg vorbei.“

Dieser Befund trifft offensichtlich auch auf die bestehenden Netzwerke zu, wenn es darum geht, die unterschiedlichen Interessen einer „zunehmend fragmentierten Gesellschaft“ (Therese Stickler, Umweltbundesamt) in der Gesetzgebung zu berücksichtigen. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die Einrichtung eines Bundes- und Gemeinwohlrates bessere Ergebnisse erwarten lässt.

2022-08-23_zivilfairsammlung_sandel_platon_gutes-regieren_praktische-klugheit_gemeinwohl


Nachträgliche Gedanken zum Workshop „Resiliente Demokratie …“

Die Frage, die wir an die Anwesenden aus der Landespolitik stellen wollten, wurde gleich nach dem Impulsreferat formuliert: „Wie Politik von unten gestalten?“ Nachdem bis auf den Abgeordneten zum Steirischen Landtag Klaus Zenz sonst niemand aus der steirischen Landespolitik das Angebot zum Diskurs angenommen hatte, blieb auch diese Frage letzten Endes unbeantwortet bzw. sie wurde erst gar nicht gestellt.

In der Diskussion mit den TeilnehmerInnen des Workshops wurden die üblichen Themen gestreift: Politische Bildung und Partizipation. Bürgerbeteiligung sollte lebensnah in den Kommunen beginnen und sich bis auf die nationale Ebene fortsetzen. Das im Referat verwendete Zitat von Judith Butler weist uns diesbezüglich den Weg:

„Unterstützung zur Überwindung von Prekarität ist gut, aber werden damit auch die strukturellen Formen der Gewalt und eine Wirtschaftsordnung, die Bevölkerungsgruppen einer nicht mehr lebbaren Prekarität aussetzt, in den Blick genommen und bekämpft?“ (Die Macht der Gewaltlosigkeit, 2021, S 232)

Politische Bildung und Partizipation auf Gemeindeebene werden also nicht reichen für eine nachhaltige Armutsbekämpfung. Es braucht vielmehr eine beteiligungszentrierte Gemeinwohlkontrolle im Bereich der nationalen Gesetzgebung, die es noch zu etablieren gilt. Der „Hoffnungsanker Klimarat“ kann dafür eine wegweisende Initiative sein ganz im Sinne von Hans Kelsen: seiner Ansicht nach ist nicht das Volk souverän, sondern die Republik und ihre Institutionen.

Diese Diashow benötigt JavaScript.


Weitere Informationen

Wenn wir uns mit demokratischer Resilienz beschäftigen, dann stoßen wir schließlich auch auf a) innere und b) äußere Barrieren, die es mittels struktureller Veränderungen zu überwinden gilt:

a) In unseren westlichen Leistungsgesellschaften wohnt der wirtschaftsliberale Geist, der von Sozialhilfeempfänger·innen Gegenleistungen einfordert. Im Anne Will Talk vom 19. Juli 2013 entgegnet Richard David Precht nach entsprechenden Erläuterungen, die sich auf die “alle[n] Bevölkerungsschichten” innewohnende “spätrömische Dekadenz” (“Ich zock mir was günstiges ab”) beziehen, mit dieser Frage: „Mit welchem Recht können wir einfordern, dass Hartz-IV-Empfänger die besseren Menschen sein sollen und eine höhere Bereitschaft auf Gegenleistung zeigen als der Rest der Gesellschaft?“

b) Politikforscher Herfried Münkler auf die Frage: “Müssen sich die westlichen Demokratien auf massive Wohlstandsverluste einstellen?

Ich nehme an, dass wir auf lange Zeit den Höhepunkt unseres Wohlstands überschritten haben. Es herrscht wieder Knappheit, etwa an Energie. Meine Generation hat gedacht, dass dies mit der Nachkriegszeit zu Ende gegangen ist. Bei uns gab es die Vorstellung, dass wir allenfalls eine Art Selbstverknappung in einer Überflussgesellschaft brauchen, um nicht die Natur zu übernutzen. Die neue Erfahrung von Knappheit wird die Grundmentalität unserer Bevölkerung verändern und sie in vielerlei Hinsicht aggressiver machen.”

2023-09-26_SN_AN-Kommentar-zu_Demokratie-oder-Exil_IsraelWenn nun für Thomas Klie die „demokratische Resilienz“ nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie „in besonderer Weise Herausforderungen ausgesetzt“ ist, sollten wir uns – über die erwähnten Barrieren hinaus – weiter fragen, an welchen grundlegenden Stellschrauben wir zu drehen haben, um eine „resiliente Demokratie“ gewährleisten zu können.

Dazu gibt uns Stephan Lessenich ua folgende Hinweise: „Und machen wir uns nichts vor: Nicht der geringste Gegner in diesem Prozess sind – jedenfalls in den reichen Demokratien des Westens – wir selbst. […] Eine entscheidende Frage solidarischer Praktiken wird daher lauten, ob wir dazu bereit und in der Lage sein werden, unserer eigenen Berechtigung Grenzen zu setzen, die Angemessenheit unserer eigenen Privilegierung in Zweifel zu ziehen. […]

2022-07-04_mehr-demokratie-wagen_weil-demos-petitionen-und-buergerforen-reichen-nicht-aus

Es würde dies auch bedeuten, in unseren Weltdeutungen und Handlungsorientierungen umzuschalten, nämlich von der sich immer wieder selbst bestätigenden Behauptung unserer individuellen Ohnmacht angesichts der vermeintlichen Übermacht des strukturell Gegebenen – auf die Einsicht in die Machtposition, die uns von den weltgesellschaftlichen Verhältnissen gegeben ist, und in die daraus erwachsende, kollektiv-geteilte Verantwortung. Das wiederum würde die Voraussetzung dafür sein, uns als potenziell handlungsfähige kollektive Akteure zu sehen, also als Agenten der Solidarität, die – den politischen Willen dazu vorausgesetzt – durchaus in der Lage wären, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und an der Schaffung von gesellschaftlichen Institutionen mitzuwirken, die einerseits die Grenzen sozialer Berechtigung dehnen und andererseits die ‚kollektive Selbstbegrenzung‘ mit Blick auf die Entrechtung der Natur organisieren.“

Tamara Ehs & Stefan Vospernik: „Da klassische Parteien auch aufgrund des Vertrauensverlusts längst nicht mehr dazu in der Lage sind, die BürgerInnen umfassend zu repräsentieren, führt an einer verstärkten unmittelbaren Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen kein Weg vorbei.“

Die Unterzeichner·innen von ProjectTogether im Oktober 2021 machen darauf aufmerksam:

„Die Zivilgesellschaft ist ein Inkubator für gesellschaftliche Innovationen, deren Entwicklung häufig im bürgerschaftlichen Engagement beginnt. Die Studie ‚Wenn aus klein systemisch wird‘ von McKinsey & Company und Ashoka (2019) zeigt, dass in diesen gesellschaftlichen Innovationen ein Milliardenpotential für den Staat liegt, wenn es gelingt, den Ideenreichtum der Gesellschaft mit der Umsetzungskraft etablierter Institutionen zu verbinden.“

2021-12-27_partizipative-demokratie-gegen-strukturen-der-ungleichverteilung


diese Webseite auszugsweise in der Fassung vom 2022-07-10 als pdf

Hinweis auf „Die resiliente Demokratie ist solidarischer

Inhalte dieser Webseite als Impulsreferat

Räte für Sorgearbeit: weil Kompetenz zählt, nicht Ideologie

Im Rahmen der interaktiven Online-Konferenz „Mehr für Care!“ im Februar 2021 fand sich eine Arbeitsgruppe zum Thema Mehr für Care-Räte. Die dabei besprochenen Aspekte enthielten erste Hinweise für die nachfolgenden Überlegungen.

Während in Deutschland der Indikator „Gender Care Gap“ in den „Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung“ eingeführt wurde, hat in Österreich die Diskussion darüber erst begonnen.

Die ökonomischen und sozialen Folgen der seit jeher ungleichen Verteilung der Sorgearbeit wurden mit der Corona-Pandemie nochmals weiter verstärkt. Rasch wurde deutlich, wie wichtig politisch agierende Initiativen sind, um FAIRbesserungen zu erzielen. Bereits am 14. September 2020 wurde daher das „Bündnis Sorgearbeit“ der Öffentlichkeit präsentiert. Das Bündnis engagiert sich dafür,

  • Sorge-/Hausarbeit und Erwerbsarbeit fair undgerecht zwischen den Geschlechtern zu verteilen
  • gleiche Verwirklichungschancen für alle Geschlechter herzustellen
    strukturelle Benachteiligungen abzubauen
  • geschlechterstereotype Vorstellungen aufzubrechen
  • den Blick auf die gesellschaftliche Organisationvon Arbeit zu weiten und Erwerbs- und Sorgearbeit zusammenzudenken
  • die „Sorgelücke“ zu schließen.

2021-11-18_Furche_Unzureichende-Gendergerechtigkeitsdebatten-in-Pflegedienstzimmern

2021-05-25_Elisabeth-Wagner_Gender-Pay-Gap_strukturelle-Probleme_Wert-von-Frauen-auf-den-ArbeitsmaerktenInwieweit zivilgesellschaftliche Forderungen* und Empfehlungen politisch angenommen werden, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Einer davon ist ein umfassend integrierendes Thema. Obwohl seit langem bekannt, führt die Erkenntnis, wonach das Soziale die beste Medizin ist, bis heute nur unzureichend zu – auch von der WHO unterstützten – „Health-in-All-Policies„-Maßnahmen. Einen zweiten Faktor finden wir im Bereich Demokratie & Partizipation. Was beispielsweise in Weyarn auf regionaler Ebene funktioniert, muss auf der nationalen nicht erwünscht sein, obgleich sich bereits einiges auf diesem Gebiet bewegt: Citizens‘ Assemblies in Irland seit 2016, der permanente Bürgerdialog in Ostbelgien oder der erste Bürgerrat in Deutschland zu Beginn des Jahres 2021. Mag sein, dass dieser den Beginn einer resilienten Demokratie markiert; die fehlende Unterstützung durch den Bundestag in der Frage der Finanzierung lässt allerdings mangelnde Ambition in diese Richtung vermuten.

2021-10-10_Netzwerk-Buergerbeteiligung_Laenderebene_demokratiepolitische-Agenda-2021

Wieviel Macht brauchen die besseren Entscheidungen?

2021-06-09_sos-mitmensch_pass-egal-wahl-2019Letzten Endes geht es daher immer um die Beantwortung der Machtfrage: wieweit wird den Bürger*innen im weiteren Sinne, also auch jenen, die zuvor nicht wählen durften (siehe „Pass Egal Wahl“ [2019]), das Mitregieren zugestanden? Wird über andere hinwegentschieden oder entscheiden die Betroffenen mit? Inwieweit wird es für eine nachhaltige Reform unserer Demokratien reichen, wenn Bürgerräte „nur“ fallweise zu ausgewählten Themen Empfehlungen für die Regierenden ausarbeiten dürfen?

2021-06-10_standard_kunststachel-in-der-grazer-stadtpolitik_rathaus-der-herzen_moeglichkeitsort-fuer-zukunftsmodelleWenn eine niederschwellige Möglichkeit gefunden wird, den Themenkomplex Care/Sorgearbeit und alles was dazugehört in einem würdigenden und gleichzeitig „verspielten“ Design wie die „Pass Egal Wahl“ in Richtung parlamentarische Mitgestaltungsrechte zu transformieren, dann dürfen auch wir eines Tages erwarten, dass unsere Träume in Erfüllung gehen werden. Wie jene der Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch, die nach Jahren ihres Bemühens die SPÖ-Vorschläge für einen „leichteren Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft“ begrüßt. Erst durch die Mitwirkung bei der Entstehung von Gesetzen und Verordnungen können regionale Sorgeräte ihren Beitrag zu einem „guten Leben für alle“ soweit zur Entfaltung bringen, dass die „neun Grundbedürfnisse“ dabei weitestgehend berücksichtigt werden.

Screenshot_20210513-105105~2 Inwieweit braucht es darüberhinaus eine zweite Kammer mit der erweiterten Aufgabe zur Gemeinwohlkontrolle? Solange skandinavische Alternativen kulturell nicht bis zu uns ausstrahlen (S 6) wird es mit Bürgerräten allein wohl nicht getan sein. Ohne entsprechende Gegenmacht wird sich „aufgrund von Widerständen“ (S 45) gegenüber Modellen der Mischarbeit auch auf den Arbeitsmärkten nicht viel bewegen.

An dieser Stelle sollten wir innehalten und uns bei der Planung von Räten fragen, was wir wollen: Reicht uns die Gründung eines Netzwerks, das „sich als ein überparteiliches, unabhängiges und überkonfessionelles Gegenüber von Politik und Verwaltung, aber auch von Wirtschaft und Medien versteht“ oder braucht es mehr formelle Einbeziehung in politische Entscheidungen? Welche Rolle würde einem Nationalen Sorgerat dabei zufallen? Genügt das Aufgabenniveau eines Österreichischen Seniorenrates oder darf es gemeinsam (siehe Gemeinwohlrat) auch mehr sein?

Vermutlich werden beratende Gremien wie Beiräte auf Dauer zu wenig gehört und ihre Attraktivität für zivilgesellschaftliches Engagement schwindet wieder, wie damals nach dem ersten landesweiten Salzburger BürgerInnen-Rat im Jahr 2014. Dieses Vertrauen von weiten Teilen der Bevölkerung in die besseren Entscheidungen muss ein außerparlamentarisches Gremium erst einmal erlangen, um vom Gesetzgeber wahrgenommen und respektiert zu werden. Schon bisher gab und gibt es zahlreiche Organisationen, die sich um soziale (und ökologische) Anliegen bemühen, die selektive Responsivität wirkt trotzdem! Solange es nicht auch eine repräsentative Institution zur Begutachtung von Gesetzen und Verordnungen auf deren Gemeinwohlgehalt gibt, bleiben die geäußerten Bedürfnisse (Beispiel: Arbeitszeitverkürzung zur gerechteren Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit [aus dem Jahr 2009]) entweder weitestgehend ungehört oder 2021-07-04_Die-Alternative_Zeitbewusst!-Warum-die-Arbeitszeit-verkuerzt-werden-muss_Karin-Stangerbestehende Errungenschaften werden wieder abgebaut**.

Mitunter betrifft dies selbst jahrzehntelang gepflegte Praktiken, dass sie ohne formelle Mitentscheidungskompetenz aus der politischen Tagesordnung verschwinden: „Nicht nur einmal spielte die Regierung die Opposition aus und verzichtete bei Gesetzen auf eine Begutachtung oder die Einbindung der Sozialpartner.“ So geschehen in Österreich, ein gutes Jahrzehnt nachdem die „sonstige (nichtterritoriale) Selbstverwaltung“ – eine besondere Form der öffentlichen Verwaltung – in die Bundesverfassung aufgenommen wurde.

Um es zu verdeutlichen: auch wenn seit der Pandemie 2020 die Forderungen nach einer „Zeitgerecht!„eren Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zugenommen haben, bleiben die Erfahrungen, wonach unzählige Betriebsräte im ganzen Land trotz jahrhundertelang geprüfter gewerkschaftlicher Organisationsmacht soziale Ausgrenzung durch die sogenannte Agenda-Politik nicht verhindern konnten. Dierk Hirschel vermerkt dazu in „Das Gift der Ungleichheit“ (S 136):

Ende Mai 2003 organisierten die Gewerkschaften unter dem Motto „Reformen ja, Sozialabbau, nein danke!“ bundesweite Massenproteste. Die IG Metall mobilisierte mit einer Unterschriftensammlung die Beschäftigten in den Betrieben. Jeden Montag demonstrierten in zahlreichen deutschen Städten tausende Menschen gegen die so genannten Arbeitsmarktreformen. Als jedoch der neoliberale Politikentwurf seinen Weg ins Gesetzesblatt gefunden hatte, ebbten die Proteste ab.

2021-07-13_jbi_bruttopensionen-von-frauen-und-maennern-im-vergleich

Health in All Policies

Aufgrund der Tatsache, dass das Soziale die beste Medizin ist (S 6), sollten wir uns nach jahrzehntelangen Bemühungen „eines intersektoralen Zugangs zur Förderung der Gesundheit“ endlich dazu aufmachen, neben dem bestehenden Obersten Sanitätsrat beim Gesundheitsministerium – ganz nach der österreichischen (nicht: deutschen [u. a. deshalb]) Art von Klimaräten – einen Solidaritätsrat*** einzurichten, der auch in weiteren Ministerien beratend tätig ist. Regionale Sorgeräte könnten darin mit Sitz und Stimme vertreten sein.

Ohne diese Vorgehensweise wird Identitätspolitik in einer sich immer stärker ausdifferenzierenden Gesellschaft nicht erfolgreich sein können. Günstige Bedingungen dafür sind ein „kritisches Bewusstsein“ und eine „radikale Solidarität“ (Dominik Gruber), die „die verschiedenen Kämpfe einen“ (Annika Lüttner) können. Darauf weisen Lea Susemichl und Jens Kastner in ihrem Werk Identitätspolitiken hin: „Wie jede Identitätspolitik muss auch sie anerkennen, dass die eigene Homogenität lediglich eine Hilfsfiktion ist und sie muss Differenz als konstituierendes und sogar konstruktives Merkmal bejahen.“ (S 136)

Das wichtigste Projekt der Vielen steht noch aus: Geschlossenheit zu zelebrieren und dauerhaft zu leben.

2021-11-22_Ehs-Vospernik_Kelsen-souveraen-Volk-Republik-Institutionen

Gemeinwohlrat als nationale Perspektive

2021-03-27_Stadtentwicklung-Berlin_Wer-macht-mit-im-Quartiersrat
Innovatives Beispiel für die Zusammensetzung von Räten

Die Arbeit zur Gründung von Räten für Sorgearbeit bietet eine gute Gelegenheit, sich weitergehende Gedanken darüber zu machen, wie zivilgesellschaftliche Anliegen eines Tages generell stärker in die Gesetzgebung einbezogen werden. Die Etablierung eines Gemeinwohlrates als zusätzliches Kontrollorgan betreffend braucht es möglicherweise nicht einmal die Gründung einer neuen Instanz, eine Reform des Bundesrates sollte genügen. Dessen Aufgaben und Ziele würden dann nicht mehr „nur“ dem föderalistischen Verfassungsprinzip dienen, sondern auch dem Gemeinwohl als Ausdruck des republikanischen Prinzips. Ganz im Sinne dieser wichtigen Wortmeldung auf Seite 9 der gemeinsamen Erklärung des bereits erwähnten Salzburger BürgerInnen-Rates:

Durch den BürgerInnen-Rat könnte sich die Politik von Partikularinteressen befreien. Er könnte dabei helfen, wieder das Gemeinwohl zu erkennen.

Verstehen wir mit Gabriele Winker die „Krise der Sorgearbeit als Folge der kapitalistischen Überakkumulationskrise„, so bieten die von ihr vorgeschlagenen „Care-Räte“ genau diese Möglichkeit: die Befreiung von Partikularinteressen durch mehr Demokratie! Gelingen kann dies vermutlich nur durch ein langfristig aktives Bündnis von Engagierten und Organisationen aus verschiedenen Bereichen der Zivilgesellschaft. Letztlich wird es dazu aber auch parlamentarische Mehrheiten benötigen und verfassungsmäßig legitimierte Kontrolle durch eine breite Allianz der Vielen.

2021-07-28_EESC-Report_Towards-the-uber-isation-of-Care

Empfehlungen

Webseiten: Care Revolution – Schritte in eine solidarische Gesellschaft von Gabriele Winker

Ernährungsrat Wien: Organisationsstruktur

Buch: „Equal Care – Über Fürsorge und Gesellschaft“ von Almut Schnerring und Sascha Verlan

Politische Forderung von AK Präsident Erwin Zangerl zur Einführung von Gleichbezahlungsbeauftragten

2021-06-08_bpb_Equal-Care


Anmerkungen

*| Beginnend bei der Forderung nach mehr Ausbildungsplätzen für Hebammen

2021-05-21_Mehr-fuer-Care-Aktionstag_2021-05-29

2021-06-20_Uni-Bremen_carat_caring-all-together_Sonja-Bastin_Andrea-Schaefer**| Welche Alternativen bieten sich? Der politische Druck verblasst mit der Dauer einer Bewegung, die Gründung von Parteien garantiert keine nachhaltige Berücksichtigung von Gruppeninteressen und eine hierarchiefreie politische Kultur abseits von Repräsentation und Delegation ist auch nicht zielführend: „Für Arbeitnehmer und Bürger mit familiären Verpflichtungen und begrenztem Zeitbudget war die radikaldemokratische Inklusion der permanenten Versammlungsdemokratie in der Praxis real exkludierend.“ (Oliver Nachtwey, 2016, S 210) Und selbst dort, wo Bürgerräte von der Politik gewünscht werden, erfahren wir in einer Zwischenbilanz aus dem Jahr 2014 von diesem Hauptkritikpunkt, wonach „das Thema und vor allem seine Umsetzung nach dem Bürgerrat ‚einschlafe‘.“ (S 11)

***| Vgl. erste Überlegungen dazu von Franz Groll zB in seinen „Vorschläge[n] für Transformationsschritte von der neoliberalen Politik zur zukunftsfähigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ (2017) oder in seinem Entwurf „Zur Bewahrung unserer Lebensgrundlagen“ aus dem Jahr 2019.

Nachdem mittlerweile sogar im skandinavischen Finnland der Staat als Gemeinwohlinstanz gegenüber privaten Gewinninteressen versagt beim patentfreien Herstellen von Corona-Vakzinen, ist es dringend geboten „neue Formen der Demokratie“ zu etablieren: „Finnland wird in den internationalen Medien oft als ein nordisches Traumland dargestellt. Während der Pandemie hat die neue Linksregierung das fortschrittliche Image des Landes weiter befördert. Man würde erwarten, dass eine solche Regierung der selbstverständlichste Befürworter einer öffentlich finanzierten und patentfreien Impfstofftechnologie ist. Doch die letzten Jahrzehnte des Neoliberalismus werfen einen langen Schatten.“

2021-03-11_Paul-Ginsborg_Wie-Demokratie-leben_Neue-Formen-der-Demokratie