Qualifizierte Erwerbslose

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Grafik 1: Arbeitsmarkt in Österreich

Wenn knapp 500.000 Erwerbsarbeit Suchende mit rund 40.000 offenen Stellen (Datenlage von Anfang 2017) konfrontiert sind, wie sehr steigen dann ihre Chancen, durch Qualifizierung einen Vollerwerbsarbeitsplatz angeboten zu erhalten? Die Beantwortung dieser Frage erfordert lediglich die Kenntnis der Grundrechnungsarten.

Dennoch wird immer wieder versucht, die Schuld bei den Betroffenen zu finden:2017-02-23_der-standard_was-der-kern-vorschlag-am-arbeitsmarkt-bringt_s-17

Doch so einfach ist die Sache nicht und die Geschichte lehrt uns, dass es auch anders geht:

Vollbeschäftigung führte in Österreich am Beginn der 1970er-Jahre zu einer Umkehrung der Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt (siehe Grafik 1): die Anzahl der offenen Stellen überstieg jene der vorgemerkten Arbeitslosen. Die aus der „Knappheit an Arbeitskräften (resultierenden) Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt zugunsten der ArbeitnehmerInnen“* bewirkten, dass 1975 die 40-Stunden-Woche eingeführt wurde.

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Stephan Schulmeister: Solange die Zahl der Arbeitssuchenden ein Vielfaches der Zahl der offenen Stellen beträgt, reichen Qualifikationsmaßnahmen nicht.

Die Liberalisierung verschiedener Märkte und die Öffnung der Grenzen kehrte diese Kräfteverhältnisse um und stärkte international agierende Investoren zulasten regional tätiger Unternehmen und deren Beschäftigten. Die Folgen davon waren steigende Gewinnquoten und sinkende Lohnquoten:

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Mit der Liberalisierung der (Finanz-)Märkte kam die „Ungleichheitswende“. Die in den 1970ern in Gesetze geschriebene Solidarität hielt in Österreich noch bis Mitte der 1980er.

Mit anderen Worten: die Früchte** der Wertschöpfung in den jeweiligen Ländern ernteten zunehmend Unternehmen, während der Anteil für die Beschäftigten schrumpfte.

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Robert Sommer (Augustin): Wer marginalisiert ist, arbeitet für jeden Lohn.

In seinem letzten großen Werk „Ungleichheit“ lässt Sir Anthony B. Atkinson die dahinter stehende Lobbyarbeit zugunsten der Wenigen, die davon profitieren, durch den Vorsitzenden der Börsenaufsichtsbehörde SEC (Securities and Exchange Commission) erläutern. Dieser „beschrieb, wie ‚Gruppen, die Wall-Street-Firmen, Investmentgesellschaften, Wirtschaftsprüfungsunternehmen oder Konzernmanager vertraten, sofort ihren Einfluss geltend machten, um selbst geringfügige Gefahren abzuwehren. Einzelne Investoren, die keine Gewerkschaften oder Wirtschaftsverbände hinter sich hatten, um ihren Forderungen in Washington Nachdruck zu verleihen, wurden vor vollendete Tatsachen gestellt.’“***

Atkinson folgerte daraus:

„Deutlicher lässt sich die Notwendigkeit einer Gegenmacht nicht zum Ausdruck bringen.“ (S 143)

„Wenn Menschen auf Null-Stunden-Verträge ohne Lohngarantie eingehen, so deshalb, weil sie auf dem Arbeitsmarkt machtlos sind. Wie erwähnt, müssen wir Vorkehrungen treffen, um ein gerechtes Machtgleichgewicht zwischen den Parteien solcher Verhandlungen herzustellen – mit anderen Worten, wir müssen die Gegenmacht der Verbraucher und Arbeitnehmer stärken.“ (S 191)

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Wir sollten uns Atkinson und vielen anderen anschließen, die sich für mehr Gerechtigkeit in der Wirtschaft einsetzen, denn … „es geht um einen Ausgleich“ (2Kor, 8,13).


*| Markus Marterbauer: Soziale Dienstleistungen, Arbeitszeitverkürzung, Vermögensbesteuerung – Elemente einer emanzipatorischen Sozial- und Wirtschaftspolitik in Europa; in: Kurswechsel 2/2014, S 49

**| Papst Franziskus in seiner Ansprache beim Welttreffen der Volksbewegungen am 9. Juli 2015: „Die gerechte Verteilung der Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit ist keine bloße Philanthropie. Es ist eine moralische Pflicht.“ … und am 6. Mai 2016 setzt er anlässlich der Verleihung des Karlspreises fort: „Wenn wir unsere Gesellschaft anders konzipieren wollen, müssen wir würdige und lukrative Arbeitsplätze schaffen, besonders für unsere jungen Menschen.

Das erfordert die Suche nach neuen Wirtschaftsmodellen, die in höherem Maße inklusiv und gerecht sind. Sie sollen nicht darauf ausgerichtet sein, nur einigen wenigen zu dienen, sondern vielmehr dem Wohl jedes Menschen und der Gesellschaft.“

***| Anthony B. Atkinson, in: Ungleichheit, Stuttgart: Klett-Cotta, 2016, S 143; Zitat: Hacker und Pierson, „Winner-Take-All Politics“, S 192


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Unfrei durch Überstunden

Vollbeschäftigungs-Initiative 23

Investitionen sollen sich lohnen

Parlament der Arbeit Suchenden

Eine Einladung zur Mitgestaltung demokratischer Prozesse auf dem Weg zu einer gerechter verteilenden Arbeitswelt

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SN-Bildunterschrift: Die documenta 14 appelliert an das Publikum, kollektiv Energie zu mobilisieren und zu handeln.

Erwerbsarbeit zu suchen ist in einer zunehmend arbeitsteilig organisierten Wirtschaftswelt unumgänglich, um den Lebensunterhalt für sich und bei Bedarf auch für Angehörige zu verdienen. In Zeiten sich weiter ausbreitender Prekarisierung auf den Arbeitsmärkten wird diese Aufgabe nicht leichter; und selbst nach der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens wird es darum gehen, sich für ein Recht auf Arbeit und angemessene Entlohnung zu bemühen.

Durch Erwerbsarbeit der Armut zu entkommen ist nur ein mögliches Handlungsfeld für die Arbeit eines Parlaments der Arbeit Suchenden. Die Förderung der „freien Berufswahl“ wäre ein weiteres, ebenso wie das Schließen der Einkommensschere durch verschiedene Maßnahmen.

Wer sind die möglichen Nutznießenden eines erfolgreich tätigen Parlaments der Arbeit Suchenden?

Die Zahl der Arbeit Suchenden geht weit über jene der aktuell Erwerbslosen hinaus. Knapp eine Million Menschen sind in Österreich jährlich von Arbeitslosigkeit betroffen. Zudem wird der Anteil jener rapide größer, die mit ihren derzeitigen Arbeitsverhältnissen unzufrieden sind.

Nehmen wir also an, Sie suchen daher – aus welchen Gründen auch immer – nach Alternativen zu Ihrem derzeitigen Arbeitsplatz. 2017-01-28_gallup_engagement-index-2001-2015Wann glauben Sie, wird sich diese Situation für Sie verbessern: bei zunehmender Arbeitslosigkeit oder bei Vollbeschäftigung?

Eine gerechtere FAIRteilung der Arbeitsmenge würde den Freiheitsgrad für Ihre Suche nach (einem alternativen) Arbeitsplatz erhöhen. Um dies zu bewerkstelligen bedarf es einer „größere(n) Vielfalt … neben den üblichen Vertretern von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Regierung“ (Atkinson, S 172). Konstatieren wir „unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung“ und „prekäre Arbeitsverhältnisse“ als einen Ausdruck von Ungleichheit, dann können wir mit dem selben Autor feststellen: „Wenn das stimmt, können Maßnahmen zur Verringerung der Ungleichheit nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, Gegenkräfte zu mobilisieren.“ (Atkinson, a. a. O., S 111)

2022-03-21_Verhaeltnis-offene-Stellen-zu-Arbeitslosen_Oesterreich_1946-2021

Wenn Anthony B. Atkinson ab 1980 eine Ungleichheitswende festgestellt hat, dann sehen wir an dieser Grafik, was er damit gemeint haben könnte. Um in Zeiten niedriger Wachstumsraten die Marktverhältnisse von damals wieder herzustellen, bedarf es politischer Anstrengungen, die nur mit vereinten Kräften „von unten“ erfolgreich zum Ziel = Vollbeschäftigung für ALLE“ geführt werden können.

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Eine langfristig über der Vollbeschäftigung liegende Erwerbslosenrate hat ja nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf die Betroffenen, sie wirkt auch dämpfend auf die Lohnsituation der Arbeitenden. Insofern ist es nur logisch, dass sich auch jene, die (derzeit noch) in einem Arbeitsverhältnis leben (dürfen), um die Anliegen und die negativen Auswirkungen der vom Arbeitsmarkt unfreiwillig Ausgegrenzten interessieren und sich für deren Begehren einsetzen, weil sie sich (heute schon und morgen vielleicht noch mehr) ebenso sehr in IHRER Existenz bedroht fühlen (sollten/werden).

Einladung zur Mitwirkung

Um unseren in Bedrängnis geratenen Sozialstaaten unter die Arme zu greifen 2017-02-08_marketwatch_piketty_grafik-einkommensscherekann ein Parlament* der Arbeit Suchenden an jedem beliebigen Ort zB in Form eines Workshops tagen.

Lassen Sie sich hierzu von den Veranstalter*innen einladen und bringen Sie zu bestimmten Fragen Ihre Ideen, Anregungen, Visionen für ein besseres Leben in die Debatten ein. Zur Erzielung einer starken gemeinsamen Stimme sollten sich die Betroffenen um den Aufbau einer zivilgesellschaftlich legitimierten Gegenmacht bemühen mit dem Ziel, die Institution einer ZivilFAIRsammlung zu gründen.

Wir** freuen uns auf zahlreiche Engagements im Sinne des gemeinsamen Interesses zur Förderung „guter ARBEIT„.

Noch Fragen? Wenn ja, dann verwenden Sie, bitte, dieses Formular:

*| Der Begriff „Parlament der …“ ist angelehnt an das von der Armutskonferenz organisierte „Parlament der Ausgegrenzten“. Mein Thema bei der zweiten Durchführung im Jahr 2016 war Vollbeschäftigung.
**| „Wir“, das sind der Verein AMSEL und Partnerorganisationen

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