Eine Kirche für das Volk!

Eine der beiden Kammern eines Parlamentes kann im übertragenen Sinne wie eine Kirche für das Volk verstanden werden. Das entsprechende Bild dafür lieferte uns Ildefonso Falcones in seinem Historienroman „Die Kathedrale des Meeres„:

„Gefällt sie dir?“, fragte Berenguer de Montagut unvermittelt.
Ob sie ihm gefiel? Diese Frage hatte er sich nie gestellt. Er sah, wie die Kirche wuchs, ihre Mauern, ihre Apsiden, ihre herrlichen schlanken Säulen, ihre Strebepfeiler, aber … Gefiel sie ihm?
„Es heißt, sie wird die schönste aller Kirchen werden, die je auf der Welt für die Jungfrau errichtet wurde“, sagte er schließlich.
Berenguer sah Arnau an und lächelte. Wie sollte er einem Jungen, einem Bastaix, erklären, wie diese Kirche aussehen sollte, wenn nicht einmal Bischöfe und Adlige imstande waren, die Größe seines Projekts zu erahnen?
„Wie heißt du?“
„Arnau.“
„Nun gut, Arnau, ich weiß nicht, ob es die schönste Kirche der Welt wird.“ Arnau vergaß seinen Fuß und sah den Baumeister an. „Aber ich versichere dir, dass sie einzigartig sein wird, und einzigartig bedeutet weder besser noch schlechter, sondern einfach nur das: einzigartig.“
Berenguer de Montagut ließ seinen Blick über den Bau schweifen, dann sprach er weiter: „Hast du schon einmal von Frankreich oder der Lombardei gehört, von Genua, Pisa, Florenz?“ Arnau nickte. Natürlich hatte er von den Feinden seines Landes gehört. „Nun, an all diesen Orten werden ebenfalls Kirchen erbaut. Es sind große Kathedralen, prächtig und über und über mit Schmuckelementen verziert. Die Herrschenden dieser Orte wollen, dass ihre Kirchen die größten und schönsten auf der ganzen Welt sind.“
„Wollen wir das denn nicht?“
„Ja und nein.“ Berenguer de Montagut sah ihn an und lächelte. „Wir wollen, dass dies die schönste Kirche der Menschheitsgeschichte wird. Doch das wollen wir mit anderen Mitteln erreichen als die anderen. Wir wollen, dass das Haus der Schutzpatronin des Meeres das Haus aller Katalanen ist, im selben Geist ersonnen und erbaut, der uns zu dem gemacht hat, das wir sind, indem wir auf unsere ureigenen Elemente zurückgreifen: das Meer und das Licht. Begreifst du?“
Arnau dachte einige Sekunden nach. Dann schüttelte er den Kopf.
„Wenigstens bist du ehrlich“, lachte der Baumeister. „Die Herrschenden handeln zu ihrem eigenen, persönlichen Ruhm. Anders hingegen wir. Ich habe gesehen, dass ihr eure Lasten manchmal zu zweit mit Hilfe einer Stange tragt statt auf dem Rücken.“
„Ja, wenn sie zu groß sind, um sie auf dem Rücken zu tragen.“
„Was würde geschehen, wenn wir die Länge der Stange verdoppelten?“
„Sie würde zerbrechen.“
„Nun, genauso ist es mit den Kirchen der Herrschenden … Nein, ich will damit nicht sagen, dass sie einstürzen“, erklärte er angesichts der erschreckten Miene des Jungen. „Aber weil sie so groß, so hoch und so lang sein sollen, muss man sie sehr schmal bauen. Hoch, lang und schmal, verstehst du?“ Diesmal nickte Arnau. „Unsere wird das genaue Gegenteil sein. Sie wird weder so lang werden noch so hoch, dafür aber sehr breit, damit alle Katalanen hineinpassen, vor ihrer Jungfrau vereint. Wenn sie eines Tages fertig ist, wirst du es sehen. Es wird Raum für alle Gläubigen da sein, ohne Unterschiede, und der einzige Schmuck wird das Licht sein, das Licht des Mittelmeeres. Mehr Schmuck brauchen wir nicht. Nur den Raum und das Licht, das dort hineinfallen wird.“ Berenguer de Montagut deutete auf das Gewölbe und beschrieb eine Handbewegung bis zum Boden. Arnau folgte seiner Hand mit dem Blick. „Diese Kirche wird für das Volk erbaut werden, nicht zum höheren Ruhme eines Fürsten.“
„Meister …“ Einer der Gesellen war zu ihnen getreten. Die Pflöcke und Schnüre waren wieder in Ordnung gebracht.
„Begreifst du nun?“
Eine Kirche für das Volk!

2022-06-24_Beitragsbild_Mehr-Demokratie-Wagen

Ein Bundesrat als Zweite Kammer eines nationalen Parlaments könnte in der Form eines Gemeinwohlrates Teil einer „säkularisierten Ekklesia“ sein, sofern dessen Mitglieder „per Zufallslos […] ausgewählt [werden], um deskriptive Repräsentation zu gewährleisten.“ Tamara Ehs weiter: „Mit dem Einbezug gewöhnlicher Bürger*innen sollen Meinungen von Menschen in den Diskurs Eingang finden, die ansonsten aufgrund ihrer sozialen Herkunft in der politischen Elite kaum abgebildet sind.“ Zusätzlich ist „Demokratie [auch] als Alltagserfahrung [zu] gestalten, insbesondere durch Betriebsdemokratie. Positive Teilhabeerfahrungen im Job schützen nachweislich vor Radikalisierung.“ Beide Aspekte entsprechen jenen Forschungsergebnissen, über die Martina Zandonella am 12. November 2024 im Bundesrat berichtete:

Schließlich scheint die Erkenntnis ewig gültig zu sein, wonach die Demokratie als permanenter Prozess der Beteiligung und Aushandlung (vgl. Jakobinerformel) zu verstehen ist.

Resiliente Demokratie – der geeignete Rahmen für eine krisenfeste Politik

Das Armutsnetzwerk Steiermark veranstaltete am 27. 9. 2022 seine Tagung22 zum Thema „Wie krisenfest ist unsere Gesellschaft?“ Im Demokratie-Workshop wurde plangemäß versucht, eine – allenfalls auch noch eine zweite – Frage an die (dann doch nicht) anwesenden Volksvertreter·innen aus dem Bundesland Steiermark zu erarbeiten.

2022-10-01_Tweet-an-Markus-Marterbauer_Mindestlohn_Produktivitaet_Sozialpartner_Regierung_VolkswirtschaftVorwort: Österreich wurde vom V-Dem-Institut in Göteborg von einer liberalen Demokratie zu einer Wahldemokratie herabgestuft. Um ein weiteres Abrutschen in Richtung illiberale Demokratie zu vermeiden, soll durch „mehr Möglichkeiten der Teilnahme, mehr Transparenz und die Stärkung des Parlaments“ das „Vertrauen der Bevölkerung in die Politik“ gestärkt werden. Soweit Jörg Leichtfried als Reaktion darauf. Ein weiterer Abgeordneter zum Nationalrat äußerte zudem den Wunsch zur Durchführung einer Parlamentsreform-Kommission.

Vorzugsweise beginnen wir unsere Arbeit mit Hinweisen

1. Aus der Praxis

Wenn selbst Rockbands wie Die Toten Hosen und Die Ärzte bereit sind, für klimapositive und nachhaltige Veranstaltungen „Opfer zu bringen“ und dabei wissen, dass sie viel verlangen, wenn sie ihr Publikum „da mit ins Boot holen„, dann darf für die Politik keine Ausrede mehr gelten. So zeigen auch die Erfahrungen des Klimarates, dass Bürgerinnen und Bürger „um vieles weiter gehen [würden], als es die Entscheidungsträger bisher geglaubt haben, weil sie verstanden haben, dass es notwendig ist.“ Die Erkenntnisse aus dem Hoffnungsanker Klimarat mögen dazu führen, „neue Beteiligungsformen in die repräsentative Demokratie [zu] integrieren.“ In der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien führte ein vom Parlament im Jahr 2017 organisierter Bürgerdialog genau dazu, weil: „Bestärkt durch die positiven Echos der Beteiligten entstand die Idee, aus dieser einmaligen Initiative etwas Beständigeres zu machen.“ Mittlerweile wurde das Modell einer permanenten Bürgerbeteiligung – das sogenannte „Ostbelgien-Modell“ – ausgearbeitet und umgesetzt.

Frage: Wieso sollten wir uns als Armutsnetzwerk Steiermark für „neue Beteiligungsformen“ in der repräsentativen Demokratie beschäftigen? Denn auch in unserem Bundesland gibt es ein Ressort, das sich – so hoffen wir – nicht nur auf dem Papier der Bekämpfung von Armut widmet. Lesen wir allerdings zB nach bei Judith Butler, so wird uns dann doch einiges klarer:

„Unterstützung zur Überwindung von Prekarität ist gut, aber werden damit auch die strukturellen Formen der Gewalt und eine Wirtschaftsordnung, die Bevölkerungsgruppen einer nicht mehr lebbaren Prekarität aussetzt, in den Blick genommen und bekämpft?“ (Die Macht der Gewaltlosigkeit, 2021, S 232)

Die Frage von Judith Butler blickt also über die herkömmliche Form der Armutsbekämpfung hinaus und verweist auf die in einer Demokratie gestaltbaren “strukturellen Formen der Gewalt”. Gesund ist das für viele sicher nicht. Das ist mittlerweile hinlänglich bekannt: „Arme erkranken eher schwer, verunfallen häufiger und sterben früher.“ (Peter Stoppacher/Marina Edler, in: Armut in der Steiermark, 2016, S 79)

2. Aus der Theorie

Womit wir bei unserem ersten Begriff sind, den wir näher begutachten: Resilienz.

Dieser bezeichnet für Thomas Klie „nicht nur […] die Fähigkeit von Personen, Krisensituationen und Stress zu überstehen, sondern“ er verwendet ihn auch „für Regionen und Kommunen“ und er meint dabei „in besonderer Weise die Anpassungsfähigkeit an neue Umweltbedingungen […] und die Fähigkeit, Zukunft zu antizipieren und sich gestaltend auf sie einzustellen.“

Damit sind wir auch schon beim zweiten Begriff angelangt, den Thomas Klie wie folgt definiert: „Demokratie bietet prinzipiell allen Bürger*innen Mitentscheidungs-, Mitwirkungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten in ihrem Gemeinwesen und ist auf die Identifikation der Bürger*innen mit diesem angewiesen. Demokratie stellt sowohl individuell als auch kollektiv eine Lebensform dar, die sich in ihren institutionellen Ausprägungen immer wieder neu bewähren muss. Dazu gehört auch die Nutzung verschiedener Spielarten und Formen der Demokratie mit dem Ziel, möglichst viele Bürger*innen zu aktiven Mitgestalter*innen des Gemeinwesens zu machen.“

Soziale Ungleichheit und ihre Auswirkungen auf die Demokratie

Dieses hehre Ziel scheint mittlerweile allerdings eher unerreichbar, jedenfalls wird es nicht ohne große Anstrengungen realisiert werden können. Denn Fakt ist vielmehr, dass „bildungsferne und einkommensschwache Gruppen […] in politischen Organisationen unterrepräsentiert“ sind. (Sebastian Bödeker, 2012, S 3) Bödeker weiter: „Die Mitgliedschaft in den meisten zivilgesellschaftlichen Organisationen ist in noch höherem Maße von Einkommen und Bildung abhängig […].“

Dazu Martina Zandonella und Tamara Ehs (2020) in: Die Auswirkungen von sozialer Ungleichheit auf die Demokratie:

Je prekärer die soziale Lage der Wiener*innen, desto seltener gehen sie zur Wahl“

„Der österreichische Sozialstaat“, so meinen sie, fängt zwar „immer noch viele Risiken auf, […] Doch das Sozialeigentum – und damit die Anrechte auf soziale Sicherungsleistungen, Pensionen, öffentliche Güter und Dienstleistungen – ist in den vergangenen Jahren geschrumpft. Damit einher ging ein dominierender politischer Diskurs, der die Empfänger*innen dieser Sicherungsleistungen abwertet, ausgrenzt und für ihre Situation ausschließlich selbst verantwortlich macht. […]

Als Folge dieser Entwicklungen wird auch der sozio-ökonomische Spalt des Nichtwählens weiter aufgehen. Werden jedoch hauptsächlich die ressourcenstarken Stimmen gehört, geht das Recht nicht mehr vom Volk bzw. von einem repräsentativen Querschnitt des Volkes, sondern nur mehr von einem exklusiven Teil davon aus. Die durchgeführte Studie bestätigt, dass weder rechtliche Gleichheit allein noch die bloße Ausweitung des Beteiligungskataloges zu mehr politischer Beteiligung führen, denn diese beruht weniger auf Freiwilligkeit denn auf sozio-ökonomischen Prämissen.“ (Zandonella/Ehs, 2020, S 7)

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Mehr „formale Bildung“ erhöht zwar phasenweise die Produktivität. Wie das Beispiel USA zeigt, kann sie sich allerdings auch äußerst ungünstig auswirken auf „die Entwicklung in Richtung mehr Gleichheit und Gerechtigkeit.“

„Daher geht es vielmehr darum, der (zunehmenden) sozio-ökonomischen Ungleichheit entgegen zu wirken, um (wieder) mehr Menschen in demokratische Prozesse einzubinden. Die entscheidenden Faktoren für politische Partizipation sind ökonomische und soziale Sicherheit: formale Bildung, Einkommen, ein gesicherter Arbeitsplatz und gesellschaftliche Anerkennung. Politik, die mehr Menschen (wieder) gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, stärkt die Demokratie.” (a. a. O., S 7 f)

Frage: Wie können wir die Demokratie stärken, wenn “ökonomische und soziale Sicherheit” zum Teil weiterhin prekär bleiben, weil politische Interessen dem Wunsch nach mehr sozialer Gleichheit entgegenstehen?

3. Aus der Politik

Die Politik in einer resilienten Demokratie wirkt präventiv .

Zurück zu den Erfahrungen, die im Rahmen des Klimarates gemacht wurden. Wird nun mit Zustimmung der ÖVP tatsächlich ein den Durchschnitt der Gesamtbevölkerung abbildender Klimarat eingerichtet und macht dieser dann auch noch nach herkömmlichem Politikverständnis unattraktive Vorschläge wie “90 km/h auf Bundesstraßen”, so antwortet bereits “im Vorfeld der Veröffentlichungen” derselbe ÖVP-Klimasprecher, der den „unselbständigen Entschließungsantrag“ miteingebracht hatte, auf die “Frage, was mit den Empfehlungen geschehen soll […]: ‘Keine Ahnung. Das hat für mich keine Relevanz.’”

Ist dem so, “dass informierte Bürgerinnen und Bürger bereit sind, weiter zu gehen als die Politik” (Reinhard Steurer, BOKU Wien), dann sollten wir diese angesichts der anstehenden und gesellschaftlich herausfordernden Transformationen mitwirken lassen an der Gesetzgebung. So regte Caritas-Präsident Michael Landau bereits an: “Wir würden uns beispielsweise wünschen, dass künftige Gesetze und Verordnungen nicht nur einem Klima-Check, sondern auch einem Armuts-Check unterzogen werden, …”

Frage: Wie soll diese Idee umgesetzt werden?

2022-10-01_WH-vom-2021-11-07_dauerhafte-Buergerbeteiligung-auf-nationaler-EbeneDer in Deutschland tätige „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) hatte dazu bereits im Jahr 2011 in seinem Hauptgutachten „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ die Einrichtung einer Zukunftskammer empfohlen:

„Um Zukunftsinteressen institutionell [Anm.: s. Kelsen, Müller u. v. a., AN] zu verankern, empfiehlt der WBGU zu erproben, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren um eine deliberative ‚Zukunftskammer‘ zu erweitern. Um interessens- und parteipolitische Einmischung zu vermeiden, könnte die Zusammensetzung dieser Kammer beispielsweise durch Losverfahren ermittelt werden.“

> vgl. Sozial- und Wirtschaftsrat von Anthony B. Atkinson

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Das führt mich zur Überlegung, einen

4. Bundes- und Gemeinwohlrat

einzurichten. Eine zweite Kammer, die sich neben den (föderalistischen) Länder- auch um die (republikanischen) Gemeinwohlinteressen bemüht, hat den Vorteil, jeden einzelnen zur Debatte stehenden Gesetzesvorschlag auf seine entsprechende Tauglichkeit zu überprüfen. Herkömmliche Bürger·innenräte (Citizens‘ Assemblies, Wisdom Councils) dagegen werden allenfalls zu bestimmten Themen eingerichtet, durch die sich die Politik vor ihren Entscheidungen (unverbindlich) beraten lässt.

Wir könnten dazu aufrufen, mehr Demokratie zu wagen mit dem Ziel, die Interessen sozialer Randgruppen mehr als bisher zu berücksichtigen. Wird dadurch „Armut trotz Arbeit“ (D 2022, Ö 2019) verringert, so bringt dieser Effekt auch Vorteile für die Gesamtgesellschaft, also für alle. Ein weiteres Beispiel ist „Housing First“, wodurch Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, eine kleine Wohnung und Beratung erhalten. Quintessenz: „Das ist für den Staat billiger als die Obdachlosigkeit.“

Tamara Ehs, in: Krisendemokratie (2020), S 22: „Demokratie hat allerdings den Pluralismus und damit die Notwendigkeit der Einholung einer Diversität von Meinungen nicht nur idealerweise zur Voraussetzung, sondern eine [Anm.: die „selektive Responsivität“ konterkarierende] breitere Entscheidungsfindung führt auch zu besseren, weithin akzeptierten Gesetzen.“

2020_Kritisches-Handbuch-der-oesterreichischen-DemokratieTamara Ehs & Stefan Vospernik in ihrem Beitrag zu „Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie“ (2020), S 113: „Da klassische Parteien auch aufgrund des Vertrauensverlusts längst nicht mehr dazu in der Lage sind, die BürgerInnen umfassend zu repräsentieren, führt an einer verstärkten unmittelbaren Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen kein Weg vorbei.“

Dieser Befund trifft offensichtlich auch auf die bestehenden Netzwerke zu, wenn es darum geht, die unterschiedlichen Interessen einer „zunehmend fragmentierten Gesellschaft“ (Therese Stickler, Umweltbundesamt) in der Gesetzgebung zu berücksichtigen. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die Einrichtung eines Bundes- und Gemeinwohlrates bessere Ergebnisse erwarten lässt.

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Nachträgliche Gedanken zum Workshop „Resiliente Demokratie …“

Die Frage, die wir an die Anwesenden aus der Landespolitik stellen wollten, wurde gleich nach dem Impulsreferat formuliert: „Wie Politik von unten gestalten?“ Nachdem bis auf den Abgeordneten zum Steirischen Landtag Klaus Zenz sonst niemand aus der steirischen Landespolitik das Angebot zum Diskurs angenommen hatte, blieb auch diese Frage letzten Endes unbeantwortet bzw. sie wurde erst gar nicht gestellt.

In der Diskussion mit den TeilnehmerInnen des Workshops wurden die üblichen Themen gestreift: Politische Bildung und Partizipation. Bürgerbeteiligung sollte lebensnah in den Kommunen beginnen und sich bis auf die nationale Ebene fortsetzen. Das im Referat verwendete Zitat von Judith Butler weist uns diesbezüglich den Weg:

„Unterstützung zur Überwindung von Prekarität ist gut, aber werden damit auch die strukturellen Formen der Gewalt und eine Wirtschaftsordnung, die Bevölkerungsgruppen einer nicht mehr lebbaren Prekarität aussetzt, in den Blick genommen und bekämpft?“ (Die Macht der Gewaltlosigkeit, 2021, S 232)

Politische Bildung und Partizipation auf Gemeindeebene werden also nicht reichen für eine nachhaltige Armutsbekämpfung. Es braucht vielmehr eine beteiligungszentrierte Gemeinwohlkontrolle im Bereich der nationalen Gesetzgebung, die es noch zu etablieren gilt. Der „Hoffnungsanker Klimarat“ kann dafür eine wegweisende Initiative sein ganz im Sinne von Hans Kelsen: seiner Ansicht nach ist nicht das Volk souverän, sondern die Republik und ihre Institutionen.

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Weitere Informationen

Wenn wir uns mit demokratischer Resilienz beschäftigen, dann stoßen wir schließlich auch auf a) innere und b) äußere Barrieren, die es mittels struktureller Veränderungen zu überwinden gilt:

a) In unseren westlichen Leistungsgesellschaften wohnt der wirtschaftsliberale Geist, der von Sozialhilfeempfänger·innen Gegenleistungen einfordert. Im Anne Will Talk vom 19. Juli 2013 entgegnet Richard David Precht nach entsprechenden Erläuterungen, die sich auf die “alle[n] Bevölkerungsschichten” innewohnende “spätrömische Dekadenz” (“Ich zock mir was günstiges ab”) beziehen, mit dieser Frage: „Mit welchem Recht können wir einfordern, dass Hartz-IV-Empfänger die besseren Menschen sein sollen und eine höhere Bereitschaft auf Gegenleistung zeigen als der Rest der Gesellschaft?“

b) Politikforscher Herfried Münkler auf die Frage: “Müssen sich die westlichen Demokratien auf massive Wohlstandsverluste einstellen?

Ich nehme an, dass wir auf lange Zeit den Höhepunkt unseres Wohlstands überschritten haben. Es herrscht wieder Knappheit, etwa an Energie. Meine Generation hat gedacht, dass dies mit der Nachkriegszeit zu Ende gegangen ist. Bei uns gab es die Vorstellung, dass wir allenfalls eine Art Selbstverknappung in einer Überflussgesellschaft brauchen, um nicht die Natur zu übernutzen. Die neue Erfahrung von Knappheit wird die Grundmentalität unserer Bevölkerung verändern und sie in vielerlei Hinsicht aggressiver machen.”

2023-09-26_SN_AN-Kommentar-zu_Demokratie-oder-Exil_IsraelWenn nun für Thomas Klie die „demokratische Resilienz“ nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie „in besonderer Weise Herausforderungen ausgesetzt“ ist, sollten wir uns – über die erwähnten Barrieren hinaus – weiter fragen, an welchen grundlegenden Stellschrauben wir zu drehen haben, um eine „resiliente Demokratie“ gewährleisten zu können.

Dazu gibt uns Stephan Lessenich ua folgende Hinweise: „Und machen wir uns nichts vor: Nicht der geringste Gegner in diesem Prozess sind – jedenfalls in den reichen Demokratien des Westens – wir selbst. […] Eine entscheidende Frage solidarischer Praktiken wird daher lauten, ob wir dazu bereit und in der Lage sein werden, unserer eigenen Berechtigung Grenzen zu setzen, die Angemessenheit unserer eigenen Privilegierung in Zweifel zu ziehen. […]

2022-07-04_mehr-demokratie-wagen_weil-demos-petitionen-und-buergerforen-reichen-nicht-aus

Es würde dies auch bedeuten, in unseren Weltdeutungen und Handlungsorientierungen umzuschalten, nämlich von der sich immer wieder selbst bestätigenden Behauptung unserer individuellen Ohnmacht angesichts der vermeintlichen Übermacht des strukturell Gegebenen – auf die Einsicht in die Machtposition, die uns von den weltgesellschaftlichen Verhältnissen gegeben ist, und in die daraus erwachsende, kollektiv-geteilte Verantwortung. Das wiederum würde die Voraussetzung dafür sein, uns als potenziell handlungsfähige kollektive Akteure zu sehen, also als Agenten der Solidarität, die – den politischen Willen dazu vorausgesetzt – durchaus in der Lage wären, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und an der Schaffung von gesellschaftlichen Institutionen mitzuwirken, die einerseits die Grenzen sozialer Berechtigung dehnen und andererseits die ‚kollektive Selbstbegrenzung‘ mit Blick auf die Entrechtung der Natur organisieren.“

Tamara Ehs & Stefan Vospernik: „Da klassische Parteien auch aufgrund des Vertrauensverlusts längst nicht mehr dazu in der Lage sind, die BürgerInnen umfassend zu repräsentieren, führt an einer verstärkten unmittelbaren Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen kein Weg vorbei.“

Die Unterzeichner·innen von ProjectTogether im Oktober 2021 machen darauf aufmerksam:

„Die Zivilgesellschaft ist ein Inkubator für gesellschaftliche Innovationen, deren Entwicklung häufig im bürgerschaftlichen Engagement beginnt. Die Studie ‚Wenn aus klein systemisch wird‘ von McKinsey & Company und Ashoka (2019) zeigt, dass in diesen gesellschaftlichen Innovationen ein Milliardenpotential für den Staat liegt, wenn es gelingt, den Ideenreichtum der Gesellschaft mit der Umsetzungskraft etablierter Institutionen zu verbinden.“

2021-12-27_partizipative-demokratie-gegen-strukturen-der-ungleichverteilung


diese Webseite auszugsweise in der Fassung vom 2022-07-10 als pdf

Hinweis auf „Die resiliente Demokratie ist solidarischer

Inhalte dieser Webseite als Impulsreferat

Mehr Partizipation stärkt auch Arbeitnehmer-Interessen

Wenn die Reichen und Mächtigen das System manipuliert haben, um ihre Privilegien zu behalten (Michael J. Sandel), dann leiden am anderen Ende der Reichtum-Skala auch die arbeitenden Menschen. Jedenfalls so lange, bis Ministerpräsidenten oder Bundeskanzler über ihre Unzulänglichkeiten im Sinne einer vertrauenswürdigen Volksvertretung stürzen. Dann wird zwar der Weg frei für die massive Anhebung von Mindestlöhnen, aber sie hinterlassen mitunter auch arbeitsmarktpolitische Minenfelder wie beispielsweise 12-Stunden-Arbeitstage, die nicht so schnell wieder aus den Gesetzestexten gelöscht werden. Diesbezüglich könnten wir Vorsorge treffen, indem wir den Bundesrat aus seinem föderalen Dornröschenschlaf erwecken und im Sinne eines weiteren Verfassungsprinzips republikanisch aufwerten. Notwendig wird dieser Schritt, weil schon die bisherigen Maßnahmen gegen arbeitnehmerische Interessen zeigten, dass sie mangels Solidarität und trotz verfassungsmäßig legitimierter Sozialpartnerschaft umsetzbar sind und auch umgesetzt werden.

Wenn am 3. November 2021 in Wien zu einer Demo gegen Big Pharma und für die Freigabe von Patenten aufgerufen wird, dann betrifft das ebenfalls die Agenden einer Institution der nicht-territorialen Selbstverwaltung.

In beiden Fallbeispielen geht es sowohl um einen gerechten Anteil am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand als auch um die Gesundheit der arbeitenden Menschen. Die institutionalisierte Kräfteverteilung hat es bisher nicht geschafft, der seit Jahrzehnten wachsenden und schleichend sich entwickelnden sozialen Ungleichheit erfolgreich zu begegnen. Offensichtlich führt die zunehmende „Heterogenität politischer Präferenzen“ nicht nur bei politischen Parteien (Rousseau sprach von Teilgesellschaften) dazu, dass diese ihre Aufgaben „sukzessive mit geringerem Erfolg erfüllen“. Um nun die anstehenden Interessenskonflikte zu überwinden, ist die Idee eines „institutionalisierte[n] Rückgriff[s] auf Expertenvoten“ keine „attraktive Möglichkeit“, um „in Konstellationen sich widersprechender Präferenzen individualisierter Bürgerinnen und Bürger akzeptable Entscheidungen zu treffen.“ In Anlehnung an die Institutionalisierung des Klimarates in Österreich sollten wir uns daher über die „Einführung einer per Losentscheid zufällig besetzten deliberativen“ Zweiten Kammer (Bundesrat) beraten, „deren Aufgabe in der kritischen Sicht aller Gesetzentwürfe vor ihrer Ratifizierung durch das Parlament liegt.“ (Claudia Ritzi/Gary S. Schaal)

Ein gutes Leben für alle sollte dann leichter realisierbar sein.


2021-10-30 Diese Webseite zum Download im Portable Document Format (pdf)

Das Soziale ist die beste Medizin!

Auf der Suche nach einem guten Leben für alle bietet uns die Geschichte von Dr. Faust eine interessante Vorlage, die wir uns näher ansehen wollen:

Als Margarete ihre Kleider einräumen wollte entdeckt sie ein Schmuckkästchen und fragt sich: „Wie kommt das schöne Kästchen hier herein?“ Verführerisch „hängt ein Schlüsselchen am Band“, sie benützt dieses und probiert schließlich die „Herrlichkeit“ von einer Kette, mit der „eine Edelfrau am höchsten Feiertage gehn“ könnte. Margarete fragt sich: „Was hilft euch Schönheit, junges Blut?“ und kommt zur Erkenntnis: „Man lobt euch halb mit Erbarmen. Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Ach wir Armen!“

Reich durch unser Engagement für andere

Werden wir in dem Moment, als unser Herz dem äußeren Glanz verfällt zu lebloser Materie? Was sonst könnte Johann Wolfgang von Goethe mit „alles“ gemeint haben? Jedenfalls sind wir arm, sobald wir nach irdischem Reichtum streben.

Reich hingegen werden wir durch unser Engagement zur Abwendung von absoluter und relativer Armut. Doch an dieser Stelle scheiden sich bereits die Geister. Christoph Butterwegge:

Erfolge im Kampf gegen die relative Armut sind viel schwerer zu erringen als im Kampf gegen die absolute Armut, weil die Einkommensverteilung so beeinflusst werden muss, dass niemand zu weit nach unten vom Mittelwert abweicht. Denn im Unterschied zur absoluten Armut, der man auf karitativem Wege, das heißt mit Lebensmitteltafeln, Kleiderkammern und Möbellagern begegnen kann, erfordert die Bekämpfung der relativen Armut, dass man den Reichtum antastet.

Quelle: Die Verharmlosung der Armut, 2016-10-21

 

Solidarität, die sich rechnet

Der Kampf gegen Armut und für sozialen Frieden muss nicht mit Entbehrungen verbunden sein, die als belastend empfunden werden. Er darf auch intelligent geführt werden. So, dass am Ende alle siegen.

Beispiel: „Housing first“. Dieses politische Konzept der Unterstützung von Obdachlosen (über-)fordert diese nicht, sondern es gibt. Andere würden stattdessen von den Betroffenen erwarten, „sich einen Job zu suchen und sich von psychischen Problemen oder Suchterkrankungen selbst zu befreien. Erst dann gibt es Hilfe bei der Wohnungssuche.“1

2021-03-18_kontrast-at_housing-firstDabei wäre es so einfach und gleichzeitig hilfreich für die Mitte der Gesellschaft wie für die sozial Ausgegrenzten:

Soziale Ungleichheit schadet allen, also auch den Reichen

Um den Blick frei zu bekommen dafür, müssen wir uns verabschieden von verschiedenen Überzeugungen, die wir uns angeeignet haben im Glauben an die Versprechungen nach mehr Freiheit für alle. Darin ist eine ganz andere Kette verborgen als die, mit der wir uns zu schmücken versuchen. Denn am Ende aller Flexibilisierung steht Burnout, am Ende aller Ausbildungserfolge 2021-03-22_Einband_Das-Gift-der-Ungleichheit_Dierk-Hirschel_smallbleiben die guten Arbeitsplätze knapp und für viele fehlen sie ganz. Dierk Hirschel: „Die unzähligen Taxifahrer und Paketboten mit akademischem Abschluss legen davon Zeugnis ab. Hier werden häufig Ursache und Wirkung verwechselt. Ein gerechtes Bildungssystem, das alle Kinder zum Abitur und Studium führt, schafft nicht automatisch mehr Verteilungsgerechtigkeit. […] Das spricht nicht gegen notwendige Bildungsreformen, aber gegen die weit verbreitete Illusion, mit Bildungspolitik für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen zu können.“ (Das Gift der Ungleichheit, 2020, S 126 f)

Wir müssen keinem Wachstumsfetisch um jeden Preis anhängen, um Studienergebnisse des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der OECD zu akzeptieren, wonach soziale Ungleichheit der Prosperität eines Landes schadet. Anika Stitz und Silke Birgitta Gahleitner in ihrer Rezension zu Gleichheit ist Glück (…) von Richard Wilkinson und Kate Pickett: „Soziale Probleme sind zwar, wie die AutorInnen hervorheben, vermehrt in den ärmeren Schichten einer Gesellschaft festzustellen, aber häufiger in Gesellschaften, die eine hohe Ungleichheit aufweisen.“3

Reich durch den Kampf gegen Erwerbsarmut und Arbeitslosigkeit

2021-04-26_kontrast_VOEST-reduzierte-Normalarbeitszeit_weniger-Arbeitslose_weniger-Burnout

In diesem Sinne machen wir uns allen einen Gefallen, indem wir uns gewerkschaftlich organisieren, auf der Basis von solidarisch-nachhaltigen Konzepten zivilgesellschaftlich vernetzen und gemeinsam mobilisieren. Dazu müssen wir aufklären. Mitunter auch darüber, dass es Gesetze gibt, die es einzuhalten gilt. Wir müssen aber auch aufklären darüber, dass wir der Souverän in unseren Demokratien sind, die hier Lebenden und Arbeitenden, und nicht das Finanzkapital4. Dessen letzter Zweck darf nicht die Maximierung des Profits um jeden Preis sein, sondern es soll uns ein gutes Leben ermöglichen. Andernfalls wären wir als Menschen genauso arm wie Margarete, wenn sie den gefundenen Schmuck nicht von sich weisen würde, indem sie Marthe gegenüber meint: „Ach Gott! der Herr ist gar zu gut: Schmuck und Geschmeide sind nicht mein.“

So gesehen bereichern wir uns im doppelten Sinne, wenn wir einerseits gegen soziale Ausgrenzung auf den Arbeitsmärkten kämpfen und andererseits dafür volkswirtschaftlich prosperieren. Kulturelle Bildung kann uns dabei helfen, sofern wir „unseren Blick für die Potentiale öffnen, die im Spiel der Wirklichkeit stecken.


Anmerkungen

1 | In: „Finnland hat es geschafft: Es gibt fast keine Obdachlosen mehr!„, veröffentlicht am 10. 11. 2020, 9:21 MEZ

2 | Dierk Hirschel in Das Gift der Ungleichheit: „Die Lohnspreizung spiegelt sich auch in den Monatslöhnen wider. Monatslöhne sind ungleicher verteilt als Stundenlöhne, da die Arbeitnehmer unterschiedlich lange arbeiten. Niedriglohnbezieher schufteten unfreiwillig weniger.“ (S 27) Wie sich Ungleichheit zudem negativ auf alle Steuerzahlenden auswirkt: „Die Ungleichheit in der Primärverteilung ist gewaltig. Was in der ersten Runde der Einkommensverteilung schiefläuft, kann der Staat anschließend nur mühsam mittels Steuern, Abgaben und Transfers korrigieren. Umgekehrt entlastet eine egalitäre Primärverteilung den Staat, da er dann weniger bedürftige Bürger unterstützen muss. Der soziale Ausgleich und somit die Wirksamkeit des Sozialstaats lässt jedoch nach.“ (S 29)

2021-03-21_DIW-Berlin-2019_Entwicklung-der-verfuegbaren-Haushaltseinkommen-nach-Dezilen

3 | Anika Stitz/Silke Birgitta Gahleitner. Rezension vom 07.06.2011 zu: Richard Wilkinson, Kate Pickett: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Haffmans & Tolkemitt (bei Zweitausendeins) 2009. 2. Auflage. ISBN 978-3-942048-09-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11444.php, Datum des Zugriffs 30.03.2021

4 | Zwei Aspekte sind hier zu erwähnen, die einander verstärken: einerseits führt Arbeitslosigkeit und materielle Armut neben gesundheitlichen Folgen auch zu sozialer und politischer Ausgrenzung zB durch eine geringere Wahlbeteiligung und andererseits wirkt „selektive Responsivität“ im Rahmen der Gesetzgebung.

Dr. Joseph Kuhn am Schluss seines Beitrages „Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Ergebnisse aus der bayerischen Gesundheitsberichterstattung“ resümierend: „Zu starke soziale Ungleichheit scheint, wie internationale Studien zeigen, gesundheitlich für alle abträglich zu sein, auch für die wohlhabenderen Gruppen (Wilkinson/Pickett 2010). Von einer erfolgreichen Umsetzung des „Health in all Policies“-Ansatzes würde also die Gesellschaft insgesamt profitieren.“ (S 15)

Mit anderen Worten: Das Soziale ist die beste Medizin! (S 6)

Dieser mittlerweile oft zitierte Gedanke wurde vermutlich erstmals von Ilona Kickbusch als Bezeichnung verwendet für ihren gleichnamigen Vortrag auf dem Kongress „Armut und Gesundheit“ im Dezember 2000.

Aus der Fülle konkreter Anwendungen seien Social Prescribing und gesellschaftliche Teilhabe genannt. Die Rahmenbedingungen dafür und für jede weitere soziale Innovation sind so zu gestalten, dass sie diese zeitnah und bundesweit fördern.


Nachsatz

Was muss geschehen, dass Gesetze und Verordnungen „das Soziale als die beste Medizin“ fördern? Aktionismus wird dazu nicht reichen, denn wie wir gesehen haben, konnten 100.000 Demonstrierende gegen den 12-Stunden-Tag diesen nicht verhindern. Jahre später gibt es ihn noch immer, inklusive der geöffneten Tür zur Sonntagsarbeit. Vermutlich werden wir so etwas wie eine zivilgesellschaftliche Mitentscheidung brauchen, zB in Form von Räten bei der Formulierung von Gesetzen und Verordnungen oder als Kontrollinstanz.

Auch innerhalb der Interessensvertretungen gilt es hinsichtlich der Zielabwägungen aufzupassen. Insbesondere dann, wenn der „Health in All Policies„-Ansatz als Argument dafür dient, um in einer zunehmend von Erwerbslosigkeit und prekären Arbeitssituationen gebeutelten Arbeitswelt einen späteren Pensionsantritt zu unterstützen (siehe FSG-Antrag 8).

Räte für Sorgearbeit: weil Kompetenz zählt, nicht Ideologie

Im Rahmen der interaktiven Online-Konferenz „Mehr für Care!“ im Februar 2021 fand sich eine Arbeitsgruppe zum Thema Mehr für Care-Räte. Die dabei besprochenen Aspekte enthielten erste Hinweise für die nachfolgenden Überlegungen.

Während in Deutschland der Indikator „Gender Care Gap“ in den „Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung“ eingeführt wurde, hat in Österreich die Diskussion darüber erst begonnen.

Die ökonomischen und sozialen Folgen der seit jeher ungleichen Verteilung der Sorgearbeit wurden mit der Corona-Pandemie nochmals weiter verstärkt. Rasch wurde deutlich, wie wichtig politisch agierende Initiativen sind, um FAIRbesserungen zu erzielen. Bereits am 14. September 2020 wurde daher das „Bündnis Sorgearbeit“ der Öffentlichkeit präsentiert. Das Bündnis engagiert sich dafür,

  • Sorge-/Hausarbeit und Erwerbsarbeit fair undgerecht zwischen den Geschlechtern zu verteilen
  • gleiche Verwirklichungschancen für alle Geschlechter herzustellen
    strukturelle Benachteiligungen abzubauen
  • geschlechterstereotype Vorstellungen aufzubrechen
  • den Blick auf die gesellschaftliche Organisationvon Arbeit zu weiten und Erwerbs- und Sorgearbeit zusammenzudenken
  • die „Sorgelücke“ zu schließen.

2021-11-18_Furche_Unzureichende-Gendergerechtigkeitsdebatten-in-Pflegedienstzimmern

2021-05-25_Elisabeth-Wagner_Gender-Pay-Gap_strukturelle-Probleme_Wert-von-Frauen-auf-den-ArbeitsmaerktenInwieweit zivilgesellschaftliche Forderungen* und Empfehlungen politisch angenommen werden, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Einer davon ist ein umfassend integrierendes Thema. Obwohl seit langem bekannt, führt die Erkenntnis, wonach das Soziale die beste Medizin ist, bis heute nur unzureichend zu – auch von der WHO unterstützten – „Health-in-All-Policies„-Maßnahmen. Einen zweiten Faktor finden wir im Bereich Demokratie & Partizipation. Was beispielsweise in Weyarn auf regionaler Ebene funktioniert, muss auf der nationalen nicht erwünscht sein, obgleich sich bereits einiges auf diesem Gebiet bewegt: Citizens‘ Assemblies in Irland seit 2016, der permanente Bürgerdialog in Ostbelgien oder der erste Bürgerrat in Deutschland zu Beginn des Jahres 2021. Mag sein, dass dieser den Beginn einer resilienten Demokratie markiert; die fehlende Unterstützung durch den Bundestag in der Frage der Finanzierung lässt allerdings mangelnde Ambition in diese Richtung vermuten.

2021-10-10_Netzwerk-Buergerbeteiligung_Laenderebene_demokratiepolitische-Agenda-2021

Wieviel Macht brauchen die besseren Entscheidungen?

2021-06-09_sos-mitmensch_pass-egal-wahl-2019Letzten Endes geht es daher immer um die Beantwortung der Machtfrage: wieweit wird den Bürger*innen im weiteren Sinne, also auch jenen, die zuvor nicht wählen durften (siehe „Pass Egal Wahl“ [2019]), das Mitregieren zugestanden? Wird über andere hinwegentschieden oder entscheiden die Betroffenen mit? Inwieweit wird es für eine nachhaltige Reform unserer Demokratien reichen, wenn Bürgerräte „nur“ fallweise zu ausgewählten Themen Empfehlungen für die Regierenden ausarbeiten dürfen?

2021-06-10_standard_kunststachel-in-der-grazer-stadtpolitik_rathaus-der-herzen_moeglichkeitsort-fuer-zukunftsmodelleWenn eine niederschwellige Möglichkeit gefunden wird, den Themenkomplex Care/Sorgearbeit und alles was dazugehört in einem würdigenden und gleichzeitig „verspielten“ Design wie die „Pass Egal Wahl“ in Richtung parlamentarische Mitgestaltungsrechte zu transformieren, dann dürfen auch wir eines Tages erwarten, dass unsere Träume in Erfüllung gehen werden. Wie jene der Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch, die nach Jahren ihres Bemühens die SPÖ-Vorschläge für einen „leichteren Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft“ begrüßt. Erst durch die Mitwirkung bei der Entstehung von Gesetzen und Verordnungen können regionale Sorgeräte ihren Beitrag zu einem „guten Leben für alle“ soweit zur Entfaltung bringen, dass die „neun Grundbedürfnisse“ dabei weitestgehend berücksichtigt werden.

Screenshot_20210513-105105~2 Inwieweit braucht es darüberhinaus eine zweite Kammer mit der erweiterten Aufgabe zur Gemeinwohlkontrolle? Solange skandinavische Alternativen kulturell nicht bis zu uns ausstrahlen (S 6) wird es mit Bürgerräten allein wohl nicht getan sein. Ohne entsprechende Gegenmacht wird sich „aufgrund von Widerständen“ (S 45) gegenüber Modellen der Mischarbeit auch auf den Arbeitsmärkten nicht viel bewegen.

An dieser Stelle sollten wir innehalten und uns bei der Planung von Räten fragen, was wir wollen: Reicht uns die Gründung eines Netzwerks, das „sich als ein überparteiliches, unabhängiges und überkonfessionelles Gegenüber von Politik und Verwaltung, aber auch von Wirtschaft und Medien versteht“ oder braucht es mehr formelle Einbeziehung in politische Entscheidungen? Welche Rolle würde einem Nationalen Sorgerat dabei zufallen? Genügt das Aufgabenniveau eines Österreichischen Seniorenrates oder darf es gemeinsam (siehe Gemeinwohlrat) auch mehr sein?

Vermutlich werden beratende Gremien wie Beiräte auf Dauer zu wenig gehört und ihre Attraktivität für zivilgesellschaftliches Engagement schwindet wieder, wie damals nach dem ersten landesweiten Salzburger BürgerInnen-Rat im Jahr 2014. Dieses Vertrauen von weiten Teilen der Bevölkerung in die besseren Entscheidungen muss ein außerparlamentarisches Gremium erst einmal erlangen, um vom Gesetzgeber wahrgenommen und respektiert zu werden. Schon bisher gab und gibt es zahlreiche Organisationen, die sich um soziale (und ökologische) Anliegen bemühen, die selektive Responsivität wirkt trotzdem! Solange es nicht auch eine repräsentative Institution zur Begutachtung von Gesetzen und Verordnungen auf deren Gemeinwohlgehalt gibt, bleiben die geäußerten Bedürfnisse (Beispiel: Arbeitszeitverkürzung zur gerechteren Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit [aus dem Jahr 2009]) entweder weitestgehend ungehört oder 2021-07-04_Die-Alternative_Zeitbewusst!-Warum-die-Arbeitszeit-verkuerzt-werden-muss_Karin-Stangerbestehende Errungenschaften werden wieder abgebaut**.

Mitunter betrifft dies selbst jahrzehntelang gepflegte Praktiken, dass sie ohne formelle Mitentscheidungskompetenz aus der politischen Tagesordnung verschwinden: „Nicht nur einmal spielte die Regierung die Opposition aus und verzichtete bei Gesetzen auf eine Begutachtung oder die Einbindung der Sozialpartner.“ So geschehen in Österreich, ein gutes Jahrzehnt nachdem die „sonstige (nichtterritoriale) Selbstverwaltung“ – eine besondere Form der öffentlichen Verwaltung – in die Bundesverfassung aufgenommen wurde.

Um es zu verdeutlichen: auch wenn seit der Pandemie 2020 die Forderungen nach einer „Zeitgerecht!„eren Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zugenommen haben, bleiben die Erfahrungen, wonach unzählige Betriebsräte im ganzen Land trotz jahrhundertelang geprüfter gewerkschaftlicher Organisationsmacht soziale Ausgrenzung durch die sogenannte Agenda-Politik nicht verhindern konnten. Dierk Hirschel vermerkt dazu in „Das Gift der Ungleichheit“ (S 136):

Ende Mai 2003 organisierten die Gewerkschaften unter dem Motto „Reformen ja, Sozialabbau, nein danke!“ bundesweite Massenproteste. Die IG Metall mobilisierte mit einer Unterschriftensammlung die Beschäftigten in den Betrieben. Jeden Montag demonstrierten in zahlreichen deutschen Städten tausende Menschen gegen die so genannten Arbeitsmarktreformen. Als jedoch der neoliberale Politikentwurf seinen Weg ins Gesetzesblatt gefunden hatte, ebbten die Proteste ab.

2021-07-13_jbi_bruttopensionen-von-frauen-und-maennern-im-vergleich

Health in All Policies

Aufgrund der Tatsache, dass das Soziale die beste Medizin ist (S 6), sollten wir uns nach jahrzehntelangen Bemühungen „eines intersektoralen Zugangs zur Förderung der Gesundheit“ endlich dazu aufmachen, neben dem bestehenden Obersten Sanitätsrat beim Gesundheitsministerium – ganz nach der österreichischen (nicht: deutschen [u. a. deshalb]) Art von Klimaräten – einen Solidaritätsrat*** einzurichten, der auch in weiteren Ministerien beratend tätig ist. Regionale Sorgeräte könnten darin mit Sitz und Stimme vertreten sein.

Ohne diese Vorgehensweise wird Identitätspolitik in einer sich immer stärker ausdifferenzierenden Gesellschaft nicht erfolgreich sein können. Günstige Bedingungen dafür sind ein „kritisches Bewusstsein“ und eine „radikale Solidarität“ (Dominik Gruber), die „die verschiedenen Kämpfe einen“ (Annika Lüttner) können. Darauf weisen Lea Susemichl und Jens Kastner in ihrem Werk Identitätspolitiken hin: „Wie jede Identitätspolitik muss auch sie anerkennen, dass die eigene Homogenität lediglich eine Hilfsfiktion ist und sie muss Differenz als konstituierendes und sogar konstruktives Merkmal bejahen.“ (S 136)

Das wichtigste Projekt der Vielen steht noch aus: Geschlossenheit zu zelebrieren und dauerhaft zu leben.

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Gemeinwohlrat als nationale Perspektive

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Innovatives Beispiel für die Zusammensetzung von Räten

Die Arbeit zur Gründung von Räten für Sorgearbeit bietet eine gute Gelegenheit, sich weitergehende Gedanken darüber zu machen, wie zivilgesellschaftliche Anliegen eines Tages generell stärker in die Gesetzgebung einbezogen werden. Die Etablierung eines Gemeinwohlrates als zusätzliches Kontrollorgan betreffend braucht es möglicherweise nicht einmal die Gründung einer neuen Instanz, eine Reform des Bundesrates sollte genügen. Dessen Aufgaben und Ziele würden dann nicht mehr „nur“ dem föderalistischen Verfassungsprinzip dienen, sondern auch dem Gemeinwohl als Ausdruck des republikanischen Prinzips. Ganz im Sinne dieser wichtigen Wortmeldung auf Seite 9 der gemeinsamen Erklärung des bereits erwähnten Salzburger BürgerInnen-Rates:

Durch den BürgerInnen-Rat könnte sich die Politik von Partikularinteressen befreien. Er könnte dabei helfen, wieder das Gemeinwohl zu erkennen.

Verstehen wir mit Gabriele Winker die „Krise der Sorgearbeit als Folge der kapitalistischen Überakkumulationskrise„, so bieten die von ihr vorgeschlagenen „Care-Räte“ genau diese Möglichkeit: die Befreiung von Partikularinteressen durch mehr Demokratie! Gelingen kann dies vermutlich nur durch ein langfristig aktives Bündnis von Engagierten und Organisationen aus verschiedenen Bereichen der Zivilgesellschaft. Letztlich wird es dazu aber auch parlamentarische Mehrheiten benötigen und verfassungsmäßig legitimierte Kontrolle durch eine breite Allianz der Vielen.

2021-07-28_EESC-Report_Towards-the-uber-isation-of-Care

Empfehlungen

Webseiten: Care Revolution – Schritte in eine solidarische Gesellschaft von Gabriele Winker

Ernährungsrat Wien: Organisationsstruktur

Buch: „Equal Care – Über Fürsorge und Gesellschaft“ von Almut Schnerring und Sascha Verlan

Politische Forderung von AK Präsident Erwin Zangerl zur Einführung von Gleichbezahlungsbeauftragten

2021-06-08_bpb_Equal-Care


Anmerkungen

*| Beginnend bei der Forderung nach mehr Ausbildungsplätzen für Hebammen

2021-05-21_Mehr-fuer-Care-Aktionstag_2021-05-29

2021-06-20_Uni-Bremen_carat_caring-all-together_Sonja-Bastin_Andrea-Schaefer**| Welche Alternativen bieten sich? Der politische Druck verblasst mit der Dauer einer Bewegung, die Gründung von Parteien garantiert keine nachhaltige Berücksichtigung von Gruppeninteressen und eine hierarchiefreie politische Kultur abseits von Repräsentation und Delegation ist auch nicht zielführend: „Für Arbeitnehmer und Bürger mit familiären Verpflichtungen und begrenztem Zeitbudget war die radikaldemokratische Inklusion der permanenten Versammlungsdemokratie in der Praxis real exkludierend.“ (Oliver Nachtwey, 2016, S 210) Und selbst dort, wo Bürgerräte von der Politik gewünscht werden, erfahren wir in einer Zwischenbilanz aus dem Jahr 2014 von diesem Hauptkritikpunkt, wonach „das Thema und vor allem seine Umsetzung nach dem Bürgerrat ‚einschlafe‘.“ (S 11)

***| Vgl. erste Überlegungen dazu von Franz Groll zB in seinen „Vorschläge[n] für Transformationsschritte von der neoliberalen Politik zur zukunftsfähigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ (2017) oder in seinem Entwurf „Zur Bewahrung unserer Lebensgrundlagen“ aus dem Jahr 2019.

Nachdem mittlerweile sogar im skandinavischen Finnland der Staat als Gemeinwohlinstanz gegenüber privaten Gewinninteressen versagt beim patentfreien Herstellen von Corona-Vakzinen, ist es dringend geboten „neue Formen der Demokratie“ zu etablieren: „Finnland wird in den internationalen Medien oft als ein nordisches Traumland dargestellt. Während der Pandemie hat die neue Linksregierung das fortschrittliche Image des Landes weiter befördert. Man würde erwarten, dass eine solche Regierung der selbstverständlichste Befürworter einer öffentlich finanzierten und patentfreien Impfstofftechnologie ist. Doch die letzten Jahrzehnte des Neoliberalismus werfen einen langen Schatten.“

2021-03-11_Paul-Ginsborg_Wie-Demokratie-leben_Neue-Formen-der-Demokratie