Die Überlegungen von Amartya Sen, „globale Demokratie und globale Gerechtigkeit auf den Weg“ zu bringen, regen dazu an, diese mit den Gedanken von Sergi Kapanadze zu verbinden:
„Seit den Wahlen im Oktober 2024 hat Georgien eine beispiellose Erosion seines demokratischen Gefüges und seiner Institutionen erlebt. Was einst eine aufstrebende Demokratie auf dem Weg zur europäischen Integration war, ist nun fast vollständig in den Autoritarismus abgerutscht.“
Beide können als Impuls dafür dienen, sich gemeinsam und fortwährend auf den Weg zu machen, die bestehenden „Regierungen durch Diskussion“ (Demokratien) weiterzuentwickeln. Wir könnten dazu die Antworten der Künstlichen Intelligenz als erste Anregungen dafür nehmen, um diesbezüglich in Bewegung zu kommen, zB von Bobbio nach Rom.
Wer die Gesellschaft verändern will, verändert ihre Organisationen.
Dafür sind sie unter anderem gemacht. Armin Nassehi
Ziel des Workshops
Dieser Workshop im Rahmen der NEFKÖ Jahreskonferenz 2025 dient der Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, die sich für die Stärkung der Demokratie durch die Förderung einerMitentscheidungskultur und die Sicherstellung gemeinwohlorientierterPrüfungen von Gesetzen und Verordnungen einsetzen. Ziel ist es, die Zusammenarbeit in gesellschaftspolitisch herausfordernden Bereichen zu intensivieren.
Zivilgesellschaftliche Institutionen spielen hierbei eine zentrale Rolle, indem sie die Beteiligung der Menschen fördern und sich dafür einsetzen, dass Gesetze und Verordnungen im Sinne des Gemeinwohls geprüft werden. Durch den Austausch und die Vernetzung solcher Institutionen können Synergien geschaffen und innovative Ansätze zur Mitentscheidung entwickelt werden, die nachhaltig zur Stärkung demokratischer Strukturen beitragen.
Diskussion über aktuelle Herausforderungen bei der gemeinwohlorientierten Gesetzesprüfung
Erarbeitung gemeinsamer Strategien zur Förderung der Bürgerbeteiligung
Austausch von Methoden und Diskussion über Möglichkeiten zur verbesserten Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen
Entwicklung konkreter Maßnahmen und Projekte zur Stärkung der demokratischen Teilhabe
Zielgruppe
Der Workshop richtet sich an Vertreter:innen aus der Wissenschaft, von NGOs, Bürgerinitiativen, Stiftungen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für die Förderung der Demokratie und die gemeinwohlorientierte Gesetzesprüfung engagieren.
Erwartetes Ergebnis
Teilnehmende erhalten neue Impulse für ihre Arbeit und erarbeiten gemeinsam Strategien zur Förderung der demokratischen Mitentscheidung und Zusammenarbeit. Die Vernetzung der Akteur:innen soll langfristig zu einer intensiveren Kooperation und einem stärkeren Einfluss der Zivilgesellschaft auf politische Entscheidungen führen.
Dauer: 1 Tag
Über Faktoren erfolgreichen zivilen Widerstands
Stefan Maaß (2013) über die „Erkenntnisse einer erstaunlichen Studie von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan“ (2008, seit 2024 auch auf deutsch: „Warum ziviler Widerstand funktioniert„):
„Gewaltfreie Kampagnen können offener zu Aktionen aufrufen und werben. Gewaltfreie Veranstaltungen haben manchmal geradezu eine ‚Festival Atmosphäre‘. So kann es bei Demonstrationsveranstaltungen Konzerte, Straßentheater, Kabarett und Satire geben. […]
Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die Heterogenität der Teilnehmenden. […]
Die gewaltfreie Kampagne wird effektiver, wenn sie zwischen verschiedenen Taktiken und Methoden variiert. Bei Methoden der Konzentration engagieren sich viele Menschen an einem zentralen Ort für ein gemeinsames politisches Ziel (z.B. Demonstrationen). Die Methoden der Dispersion finden an verschiedenen Orten statt und folgen eher dem Prinzip der Nichtkooperation (z.B. Boykott, Streiks). […]
Hilfreich ist die Fähigkeit zur Innovation. Wenn sich das bestehende System auf eine Taktik eingestellt hat, kann es von Vorteil sein, wenn die Kampagne schnell eine neue Taktik entwickelt. Gewaltfreie Kampagnen verfügen aufgrund ihrer vielfältigeren und größeren Teilnehmendenzahl über mehr Möglichkeiten, neue Taktiken und Ideen zu entwickeln.“
Was bleibt ist die Antwort auf die Frage, wie die Gemeinschaft der Demokratiebegeisterten so stark wird, dass politische Parteien beispielsweise Forderungen, wie sie das ÖNZ bereits formuliert hat, in die politische Praxis umsetzen.
Um diese Kraft des Gemeinsamen auf dem Weg zur Stärkung der Demokratie (zB via Update) zu bündeln, braucht es Formate, die landesweit über verschiedene Ebenen zivilgesellschaftlichen Engagements begeistern und solidarisierend wirken.
Wie bereits im Jahr 2019 wurde abermals das Graz Museum als Ort des Diskurses gewählt. Seit Anfang 2023 wird dieses Haus von Frau Mag.a Sibylle Dienesch geleitet und gemeinsam mit ihrem Team arbeitet sie an der „Vision eines demokratischen Museums„. Nicht verwunderlich also, dass sie in ihren Begrüßungsworten die Bedeutung von Vernetzungsarbeit hervorgehoben hat.
Sibylle Dienesch und Moderator Wolfgang Schlag
Neben vielen weiteren Informationen über die Wirkung sozioökonomischer Faktoren auf das Wahlverhalten und die damit einhergehende Gefährdung der Demokratie erwähnt Dr.in Tamara Ehs in ihrem Vortrag mehrmals die „ungleiche Responsivität“ der Politik auf Anliegen der Bürger*innen.
Was Lea Elsässer et al. bereits in ihrer Studie aus dem Jahr 2017 für Deutschland feststellten, gilt grundsätzlich auch für Österreich und die Schweiz: „Was Bürger_innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollten, hatte in den Jahren von 1998 bis 2015 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden.“ (S 177)
Ansatzpunkte für politische Akteure
Am Schluss ihres Vortrags lässt Mag.a Martina Zandonella gut erkennen, wo die Hebel zur Stärkung der Demokratie anzusetzen sind: bei der „Demokratie als Alltagserfahrung“ inkl. einer „wirksamen Mitbestimmung“ bis hin zu einer Korrektur der „Schieflagen des repräsentativen Systems“, die allein durch „mehr Beteiligungsangebote“ nicht zurechtgerückt werden können.
In den anschließenden Workshops wurde zu verschiedenen Aspekten vertiefend darüber diskutiert. So wurde im WS „Demokratie und soziale Ungleichheit“ nochmals erwähnt, dass „Medien verschleiern“ und die Rechtslage in Österreich hinsichtlich des Erwerbs der Staatsbürgerschaft Einbürgerung bis in nachfolgende Zuwanderungsgenerationen erschwert. Es wurde aber auch darüber gesprochen, wie sehr selbst nach 5jähriger Existenzsicherung mittels „Housing First“-Maßnahmen das Interesse an Wahlen erlahmt ist. Hinzu kommt, dass „unser System sehr hochschwellig“ ist – Beispiel: „Ausflüge in Schulen kosten sehr viel“. Wenn „stille Schüler*innen über Missbrauch schweigen“, dann wird dies als ein Ausdruck dafür gesehen, dass „innerhalb des Systems“ Betroffene „mundtot gemacht werden“.
Als sehr positiv wurde konkrete „Motivierungsarbeit“ mit den Klient*innen dargestellt, die mitunter zu einem Wahlakt führt, wo dies zuvor nicht zu erwarten war. Auch das Reden über Demokratie ganz allgemein kann das politische Interesse insbesondere bei jungen Menschen wecken. Dennoch bleibt Bildungsarbeit über das sogenannte Bildungsbürgertum hinaus „massiv mühsam“.
Am Schluss wurde noch der Vorschlag eines verpflichtenden Fact-Checkings bei Livediskussionen gemacht. Dadurch sollte vermieden werden, dass Falschinformationen leichter verbreitet werden können und dem politischen Gegenüber Redezeit genommen wird, falls von dieser Seite eine Richtigstellung erfolgt.
Die Teilnehmenden des Workshops „Demokratie und soziale Sicherheit“ erarbeiteten die Idee einer Sozialkammer, die dann als einzige schriftliche Darstellung im abschließenden Fishbowl präsentiert wurde.
Eine letzte Wortmeldung im Fishbowl bezog sich dann nochmals auf die für eine Stärkung der Demokratie erforderliche Vernetzungsarbeit, mit dem Ziel, vergleichbare Forderungen wie jene der SOS Kinderdörfer nach Einrichtung eines Jugend-Checks für alle neuen Gesetze zu bündeln.
Unterstützung zur Überwindung von Prekarität ist gut, aber werden damit auch die strukturellen Formen der Gewalt und eine Wirtschaftsordnung, die Bevölkerungsgruppen einer nicht mehr lebbaren Prekarität aussetzt, in den Blick genommen und bekämpft?
Obwohl Judith Butler die Gewaltlosigkeit präferiert, verwendet sie im erwähnten Zitat dennoch das Wort „bekämpft“. Offensichtlich ist es ihr ein besonderes Anliegen, dass Bevölkerungsgruppen nicht länger „einer nicht mehr lebbaren Prekarität“ ausgesetzt werden. Diese Sichtweise soll uns dazu motivieren, den Kampf gegen strukturelle Formen der Gewalt zu planen und zu führen. Auch wenn die Dreierkoalition in Österreich beabsichtigt, die Kinderarmut bis zum Jahr 2030 zu halbieren (S 105), sollen die bisherigen Überlegungen dazu einstweilen hier nachzulesen sein:
Aus der Volkshilfe-Broschüre Kindergrundsicherung: So schaffen wir Kinderarmut ab
Gleichzeitig stellt sich heraus, dass wir mit gerechteren sozialen Lebensbedingungen für alle den materiellen Wohlstand im Land mehren können. Schließlich bringt beispielsweise bereits die Investition in die Abschaffung der Kinderarmut allen Menschen in Österreich einen wirtschaftlichen Bonus von über 10 Milliarden Euro jährlich (vgl. Housing-First). Ein Grund mehr, aktiv zu sein oder zu werden, weil damit – zB via Dankbarkeit – auch das Wohlbefinden gesteigert werden kann.
Diese Fakten zeigen, dass die Parteiendemokratie nicht in der Lage ist, allein nur diesen einen Milliardenschatz zum Wohle der im Land lebenden Menschen zu heben. Ein paar Parteien mehr im Parlament würden das Problem allerdings ebenso wenig lösen wie Bildungsmaßnahmen. Damit werden wir die bestehenden Repräsentationslücken im Parlament nicht beseitigen, denn wie wir sehen, wählt selbst von den Studierenden nur ein Sechstel ihre Standesvertretung. Auch die politischen Schatten der Wahldemokratie Österreich bleiben uns weiter erhalten. In vielen anderen reichen – sogenannten „entwickelten“ – Ländern sieht die Situation nicht anders aus. Der Bedarf an einer institutionellen Weiterentwicklung der Demokratie ist daher nicht nur gegeben, ihre Förderung wird angesichts der durch Armut mitverursachten Gefährdungslage zu ihrer Überlebensfrage. Der deutsche Politikwissenschaftler und Princeton-Professor Jan-Werner Müller hält es für „unwahrscheinlich, dass man das, was manche für gute Gründe [für eine Denkzettel-Wahl] halten, ganz grundsätzlich ändern kann. Man kann jedoch die Anstrengungen unternehmen, die Institutionen und die Wahlmöglichkeiten zu ändern, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Und das heißt unter anderem: Die kritische Infrastruktur der Demokratie zu öffnen und umzugestalten. Dazu braucht es allerdings ein klares Verständnis der Prinzipien, die der Demokratie zugrunde liegen.“ (Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit, 2021, S 55)
Erwachende Zivilgesellschaft
Mittlerweile bemühen sich neben staatlichen Stellen auch zahlreiche Engagierte darum, die Gefährdungen einer unter Druck geratenen Demokratie abzuwenden; und sie stellen Fragen, die uns mitunter dazu veranlassen, sie zu beantworten. Die folgende entstammt dem Editorial von „Stimmen gegen Armut„, dem gleichnamigen Band der 12. Armutskonferenz im Jahr 2020: „Welche neuen Formen der Partizipation ermöglichen eine gleichberechtigte Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen?“
Demokratie braucht Allianz(en) für ein partizipatives Parlament
Hinweis: am Ende dieses > Beitrags werden einige Beispiele genannt
Begründung: Die bloße Vermehrung von Beteiligungsformaten ist nicht zielführend
Nun, allein auf mehr Partizipation durch Bürgerbeteiligung zu setzen, greift zu kurz: „Die neuen Partizipationsangebote verlangen den Bürger:innen wesentlich mehr ab als der im Vergleich niederschwellige Wahlakt.“ (Ehs/Zandonella, 2023) Dazu sind die meisten Bürger:innen nicht bereit, weshalb „die bloße Vermehrung von Beteiligungsformaten nicht zielführend ist“. Zur „Verbesserung der Demokratie“ braucht es daher neben aktivierenden Methoden wie zB Demokratiefestivals und verschiedenen anderen Leuchttürmen auch institutionelle Vorkehrungen als Wege zum repräsentativen Parlament.
Der Sinn eines plebiszitären Gesetzgebungsrechts besteht ja nicht darin, dass das Volk anstelle des Parlaments regiert, entscheidend sind vielmehr die Vorabwirkungen, die von diesem Recht ausgehen. Wenn die Regierenden wissen, dass das Volk eine bestimmte Materie notfalls selber an sich ziehen kann, werden sie wahrscheinlich genau dies zu verhindern suchen. Die plebiszitären Elemente führen insoweit bereits durch ihre schiere Existenz, ohne dass man sie anwenden muss, zu einer stärkeren Interessenberücksichtigung und Kompromissfindung.
Wie können wir nun dazu beitragen, eine weitere Gefährdung unserer Demokratien zu verhindern und dabei gleichzeitig unser Wohlbefinden zu steigern?
Maßnahmen und Ideen gibt es viele. Zur Steigerung ihrer Wirksamkeit fehlt allerdings noch ein koordiniertes Miteinander (innerhalb) dieser beiden Ebenen: eine in den verschiedenen sozialen Schichten gelebte Mitentscheidungskultur und zielgerichtete Bündnisse der Zivilgesellschaft.
Einen vergleichbaren Inhalt von Martina Zandonella finden wir in ihrem Referat „Demokratie und Politik“, das im stenografischen Protokoll zur parlamentarischen Enquete des Bundesrates „Demokratie braucht Zukunft – Brücken bauen, Demokratie stärken“ vom 12. November 2024 nachzulesen ist.
Anmerkung: Vgl. dazu die Inhalte der Enquete-Kommission im Nationalrat aus dem Jahr 2014.Tamara Ehs am Schluss ihrer Ausführungen: „Zusammenfassend: Es gibt genügend gute Ideen und Vorbilder. Was es dafür braucht, ist ein gewisser Mut, vielleicht sogar schon einen militanten Optimismus, aber jedenfalls eine konkrete Utopie. Ein Demokratiebüro wäre eine erste Utopie, wo man anfangen könnte, neue Ideen der Bürgerbeteiligung nicht dem Volk überzustülpen, sondern es selbst und gemeinsam gestalten zu lassen. Immerhin kann die Antwort auf die Krise und auf die Demokratiekrise ja nur in einer umfassenden Demokratisierung bestehen.“ (Protokoll zur Enquete-Kommission „Stärkung der Demokratie in Österreich“ vom 2014-12-18, S 308)
Während Antworten auf die Kulturfrage ihre nachhaltige Wirkkraft ganz besonders von unten (vgl. Klimarat) her entfalten, verstärken zivilgesellschaftliche Bündnisse diese mit dem Fokus auf politische Parteien, ohne deren Zustimmung keine institutionellen Verbesserungen unserer Demokratien auf friedlichen Wegen zu erhalten sind. Jan-Werner Müller verdeutlicht damit verbundene Widerstände, die es gemeinsam zu überwinden gilt: „Warum sollten Parteien solchen Verfahren* je zustimmen? Denn damit würden sie sich ja immer zumindest ein Stück weit selbst entmachten.“ (2021, S 193)
Lange vor Jan-Werner Müller kommt Simone Weil zu vergleichbaren Befunden und Emanuel Towfigh erlangt durch die Arbeit an seiner Habilitationsschrift diese Erkenntnis:
„Ich plädiere für eine behutsame Weiterentwicklung unserer demokratischen Ordnung. Behutsam, weil die Demokratie ein fragiles und wertvolles System ist. Wir leben zudem in Frieden und Wohlstand, wir genießen eine stabile Ordnung. Dies ist auch ein Verdienst der Parteien, die nach dem Krieg ein Stabilisator des Systems waren. Aber die Parteiendemokratie hat sich offenkundig überlebt, die Nachteile dieses Systems werden immer deutlicher sichtbar.“ (Hervorhebungen: AN)
Ohne entsprechenden Druck durch eine aktive Zivilgesellschaft würde auch ein nächster Österreich- oder Verfassungskonvent kein Update im gewünschten Ausmaß liefern.
Die Forderung nach Etablierung eines Demokratierates wirft spätestens angesichts der Erfahrungen mit den Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) die Frage auf, ob diese nicht zu wenig weit geht. Die politische Praxis zeigt, was möglich ist – siehe: irische Citizens‘ Assembly oder Ständiger Bürgerrat in Paris – und wie sinnvoll – Beispiel: Klimarat – konkrete Updates der Demokratie sein könn(t)en.
Michael Lederer in seinem Beitrag „Politik und Zufall“ zur 12. Armutskonferenz im Jahr 2020
Anmerkungen
*| Unter „solchen Verfahren“ versteht Jan-Werner Müller Bürgerbeteiligungen mit Losverfahren. Zuvor beschrieb er kurz das Oregon-Modell: „Das Herzstück des Modells ist, die ’normalen‘ Bürgerinnen und Bürger via Losverfahren in den demokratischen Prozess einzubinden und das Ergebnis ihrer Deliberationen allen Stimmbürgerinnen und -bürgern vor einer Volksabstimmung zukommen zu lassen.“ (Nenad Stojanović, in: Jahrbuch für Direkte Demokratie, 2020, S 77) Hinsichtlich der Verbindlichkeit für den Gesetzgeber sind viele weitere Wünsche und Forderungen progressiver, wie beispielsweise jene von SOS Mitmensch mit ihrer „Pass Egal Wahl“ als eine auf Dauer angelegte und umfassende Antwort auf die Kulturfrage, Michael Landau („Armuts-Check von Gesetzen und Verordnungen“), der 12. Armutskonferenz
oder SOS-Kinderdorf Österreich mit der Forderung nach einem „erweiterten Jugend-Check für alle neuen Gesetze: Jeder Entwurf soll von einer unabhängigen Stelle zu den Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche geprüft werden.“ Expert:innen in Fragen zur Demokratie(entwicklung) gehen einen Schritt weiter und empfehlen u. a. eine Zukunftskammer oder ein birepräsentatives Modell. Ein Hinweis von Tamara Ehs lautet: „Um Lehren aus der Krise zu ziehen, muss man bereits den Regelzustand verändern. Hierzu könnte man […] auch ohne Gesetzesänderung die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer interpretieren.“ (Krisendemokratie, 2020, S 101 f)
Siehe dazu auch Überlegungen von Brigitte Geißel und Stefan Jung hinsichtlich Etablierung eines Beteiligungsrates auf Bundesebene. In mehreren Städten werden sie bereits praktiziert, so auch als „Beteiligungsrat Gemeinwohl“ in Leipzig: „Es war eine durchaus verzwickte Frage, die die Ratsversammlung dazu brachte, einen Beteiligungsrat Gemeinwohl einzuberufen. 50 ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sollten sich Gedanken darüber machen, wie ‚gesellschaftliches gemeinwohlorientiertes Engagement der Einwohnerinnen und Einwohner‘ wirklich gefördert werden könnte.“ Begründung: „Vor dem Hintergrund des enormen Wachstums Leipzigs, gesellschaftlicher Spannungen und internationaler Krisen gewinnt der Gemeinwohlgedanke institutionenübergreifend an Bedeutung. Umso wichtiger erscheint es, die Auseinandersetzung über das Thema Gemeinwohl unter der breiten Beteiligung der Stadtgesellschaft anzuregen und insbesondere Menschen in den Dialog einzubinden, die sich nicht (mehr) am politischen Willensbildungsprozess beteiligen oder in gewählten Parlamenten oft stark unterrepräsentiert sind.“
Zukunftskammer – eine Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats der deutschen Bundesregierung für globale Umweltveränderungen aus dem Jahr 2011.
Schlussworte
Tamara Ehs, in: Krisendemokratie (2020), S 22: „Demokratie hat allerdings den Pluralismus und damit die Notwendigkeit der Einholung einer Diversität von Meinungen nicht nur idealerweise zur Voraussetzung, sondern eine [die „selektive Responsivität“ konterkarierende|Anm. AN] breitere Entscheidungsfindung führt auch zu besseren, weithin akzeptierten Gesetzen.“
Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem oft zitierten Wort aus Willy Brandts Regierungserklärung vom Oktober 1969, wonach die BRD mehr Demokratie wagen wolle, gibt es weiterhin unbeantwortete Fragen auf dem Weg dorthin. Zudem wird der damals konstatierte Bedarf mittlerweile nicht nur in Deutschland festgestellt.
Sofern wir die damit verbundenen Herausforderungen annehmen, sollten wir unsere Reise in eine Zukunft mit „mehr Demokratie“ passenderweise mit der Beantwortung grundsätzlicher Fragen beginnen. Eine davon lautet:
Wie können wir als Gesellschaft reifen? Die Antwort darauf ist schnell gefunden: Indem wir an unseren Schatten arbeiten und sie gegebenenfalls integrieren. Das funktioniert individuell ebenso wie gesamthaft.
Der bisherige Reifeprozess ging dabei nicht weit genug. Daher sind Demokratien unter Druck geraten. Dies auch deshalb, weil weniger das Gemeinwohl als vielmehr Parteiinteressen im Vordergrund standen und stehen. Auf den Wettkampf von Parteien zu setzen führt offensichtlich noch zu keinen zufriedenstellenden Ergebnissen. Es reicht auch nicht, wenn Regierungen und ihre missliebigen Teilgesellschaften – sprich: Parteien – abgewählt werden können. Die Verteidigung der Demokratie ist ebenso wenig zielführend. Schließlich ist ihre jeweilige Beschaffenheit eine wesentliche Quelle dafür, dass spätestens seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts dunkle Wolken am bislang azurblauen Polithimmel aufziehen. Als Antwort darauf weiterhin den Status quo prolongieren zu wollen, führt selbst nach erfolgreichen Protesten allenfalls zu kurzfristiger Aufhellung am gemeinwohlorientierten Firmament.
Was also tun? Weil Aufklärung nicht reicht, um ein „gutes Leben für alle“ zu gewährleisten, braucht es repräsentative(re) Parlamente als Legislative. „Wählen allein“ reicht dazu allerdings auch nicht, denn diese Form der Zuweisung von gesellschaftlicher Gestaltungsmacht führt nach David Van Reybrouck zu Ohnmacht. Um nun die gesetzgebenden Institutionen der Demokratie weiterzuentwickeln, bedarf es eines breiten Diskurses über die unterschiedlichen Ideen und Vorschläge. Im Vergleich zu anderen Modellen genießt das birepräsentative System dabei den Vorteil jahrtausendelang bewährter Erprobung. Die Kunst einer demokratiepolitisch aktiven Zivilgesellschaft wird sein, sich auf konkrete Forderungen zu einigen und diese gegen die zu erwartenden Widerstände dauerhaft zu institutionalisieren.
Proteste als Form der Partizipation
Hier beginnt nun unsere Arbeit daran, die oben erwähnten Schatten zu integrieren. Ist der Fokus für unser Engagement erst einmal definiert, gilt es zunächst – und auch weiterhin – äußerst hartnäckige Widerstände („einer lauten Minderheit„) aus dem Weg zu räumen. Schließlich geht es dabei um unreflektierte Haltungen ebenso wie um Macht in all ihren Facetten und Ausprägungen. Die angewendeten Mittel zur Verteidigung von politischer Einflussnahme zwecks Erwerbung und Erhalt von rechtlich verankerten und durch langjährige Praxis scheinbar legitimierten Vorteilen sind vielschichtig. Auf die nächste Krise1 zu hoffen bringt uns auch nur zufällig einen Schritt näher ans erstrebte Ziel einer repräsentativen Volksvertretung ohne Schatten. Was bleibt, ist uns zu demokratisieren. Mit uns sind alle gemeint, nicht nur die üblichen Aktivbürger. Um weitgehend alle zur Teilnahme zu motivieren, braucht es allerdings eine entsprechende „Kultur der Ermächtigung“ inklusive einer lebendigen Protestkultur.
Tobias Doppelbauer/Dirk Lange in Demokratie im Alltag: „Narmina erklärte etwa auf die Frage danach, wo ihr Demokratie im Alltag begegnet, dass sie die demokratische Gesellschaft im Alltag erlebt, wenn sie an einem Protest teilnimmt. Für sie ist es ein Kennzeichen der demokratischen Gesellschaft, dass Proteste als Form der Partizipation möglich sind.“ (S 190)
Die „Sommerakademie der sozialen Bewegungen 2024“ in Steyr lädt zur Diskussion ua über: Demokratie & Frieden, zivilgesellschaftliche Ermächtigung, Wege zur Stärkung der Demokratie …
Aber was heißt das jetzt, sich individuell und als Gesellschaft zu demokratisieren? Wir haben doch bereits – zumindest in Österreich – eine funktionierende Sozialpartnerschaft und die nichtterritoriale Selbstverwaltung von Kammern und Gesundheitskassen im Verfassungsrang. Wie wir bisher gesehen haben – beispielsweise bei der fehlenden Beseitigung von Kinderarmut -,
reicht das genauso wenig wie dieser Vorschlag von Tim Wihl in Wilde Demokratie:
„Um den aufgeführten Risiken beizukommen, wäre es allerdings noch vorteilhafter, wenn die digitale Öffentlichkeit sich letztendlich commons-haft beziehungsweise genossenschaftlich und selbstverwaltet organisieren würde. Dafür braucht sie den Staat als regulatorischen und womöglich auch fiskalischen Bündnispartner gegen den Markt.“ (S 27)
Doch genau diesen „Staat als Garanten von Unordnung“, wie Tim Wihl weiter ausführt, gibt es noch nicht in ausreichend gesichertem Maße. Ansonsten hätten wir die Probleme einer sich (fast) ausschließlich auf Wahlen stützenden Demokratie nicht, von der Emanuel Towfigh im Jahr 2015 meinte: „Aber die Parteiendemokratie hat sich offenkundig überlebt, die Nachteile dieses Systems werden immer deutlicher sichtbar.“ Ein Ausweg aus der Demokratiekrise wird deshalb nicht durch die Gründung neuer Parteien erfolgen.
Wir dürfen im Jahr 2023 sogar fragen: Welchen Anteil haben ehemals sozialistische Parteien daran, dass mehr als hundert Jahre nach ihrer Gründung Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie gilt? Die volonté générale (Gemeinwille) wird von den Reichen – Stichwort: „selektive Responsivität“ – weiterhin mit Füßen getreten: „Eine weitere massive Verschlechterung betrifft die Leistungen fürs Wohnen, auch die Wohnbeihilfe wird jetzt von den zuständigen Behörden einbehalten. Mindeststandards gibt es keine mehr, das Ziel der Armutsbekämpfung ist aus den Zielen des Gesetzes gestrichen worden. Manche wollen in dieser Situation Sozialleistungen für die Ärmsten im Land weiter kürzen.“ (Die Armutskonferenz, 2024)
Auf dem Weg zur einmütigen Mitentscheidungskultur2
Martina Handler im Podcast: Mitbestimmen statt meckern
Ein erster Schritt zu einer tieferen und damit kulturell verankerten Demokratisierung einer Gesellschaft führt uns in Schulen3 und Kindergärten, in denen Demokratie als Lebensform bereits praktiziert (Inhalte zu Partizipation im Zwergengarten Langenegg seit Frühjahr 2025 nur noch im Archiv abrufbar) wird. Darüber hinaus braucht es über das ganze Land verteilte Diskussionsveranstaltungen mit Workshops, Aktionen im öffentlichen Raum – wie zB ein zweiter Bundesrat als Probebühne für dessen Transformation in einen Gemeinwohlrat (vgl. Kontrollgremium „Der große Rat“ in Venedigs Republik und siehe weitere Hinweise) – und Festivalcharakter. Nur so kann Demokratie als gemeinschaftsbildende Kultur4 lebendig werden und bleiben. Plattformen können dabei unterstützend wirken. Ebenso Konferenzen als „Übung[sfelder] in Sachen Demokratie„. Damit aber werden die Steine am Parlamentsgebäude noch kein bisschen bunter. Was noch fehlt sind dauerhaft aktive, zivilgesellschaftliche Bündnisse, die Proteste als Demokratiegeneratoren (Armin Nassehi) verstehen und diese gezielt einsetzen, um „Repräsentationsarmut und Polarisierung“ (Tamara Ehs) durch die Weiterentwicklung5 des demokratischen Institutionengebäudes zu verringern.
3| Siehe auch Zentrum polis: Demokratie in der Schule – Beispiele: Sportmittelschule in Feldbach, Volksschulen im Bezirk Weiz – in einer für die Oberstufe der AHS geltenden Verordnung der Bundesministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur aus dem Jahr 2003 heißt es dazu: „Die Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden, Sachverhalte und Probleme in ihrer Vielschichtigkeit, ihren Ursachen und Folgen zu erfassen und ein an den Menschenrechten orientiertes Politik- und Demokratieverständnis zu erarbeiten. Dies verlangt eine entsprechende Praxismöglichkeit im Lebens- und Erfahrungsbereich der Schülerinnen und Schüler.“ (S 35)
In der Europarats-Charta zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung lautet das Ziel (Grundsatz) unter Pkt. 5 Abs. g: „Ein grundlegendes Ziel jeder Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung besteht darin, die Lernenden nicht nur mit Wissen, Verständnis und Kompetenzen auszustatten, sondern sie auch dazu zu befähigen, im Dienste der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Gesellschaft aktiv werden zu wollen.“ (S 4)
Die bisherigen Bildungsmaßnahmen jedenfalls waren noch kein Garant für die Beibehaltung des Status einer liberalen Demokratie in Österreich. So kam es, dass die Alpenrepublik im Jahr 2022 erstmals wieder zur Wahldemokratie herabgestuft wurde. Um im weltweiten Demokratie-Ranking vorne dabei zu sein braucht es also mehr als politische Bildung in der herkömmlichen Form, es braucht eine Weiterentwicklung demokratischer Strukturen als permanent wirksamen Ausdruck für den Souverän (vgl. Hans Kelsen).
Tim Wihl, sich auf Canettis Modell der Umkehrungsmassen beziehend: „Es spiegelt wider, dass die Demokratie nur gedeihen kann, wenn sich Menschen von Zeit zu Zeit erheben, um sich von zu vielen Stacheln der Befehle zu befreien.“ (Wilde Demokratie, S 93) Zu beachten sei dabei folgender Aspekt: „Nur Proteste, die den politisch-ökonomischen Kontext berücksichtigen, können zu einem dauerhaften Wandel beitragen, der in demokratische Entscheidungsprozesse mündet.“ (S 96 f) Am Schluss seines Buches noch dieser Hinweis: „Civic courage ist das schlechthinnige Ideal der Demokratie im Sinne des US-Richters Louis Brandeis: Nur wo Menschen sich gemeinsam etwas trauen, werden sie auf Dauer in einer Demokratie leben.“ (S 129 f)
4| Mehr Demokratie: „Unsere demokratischen Strukturen sind darauf angelegt, die Würde des Menschen zu schützen und Freiheit zu gewährleisten. Doch der staatliche Rahmen allein schafft noch keine lebendige Demokratie: Um sie erlebbar zu machen, sind bestimmte innere Haltungen notwendig, bestimmte Herangehensweisen und Formate hilfreich. Eine solche demokratische Kultur lässt sich nicht regeln oder verordnen – sie muss entwickelt, bewegt und praktiziert werden. Aus dieser Dynamik heraus lassen sich dann auch die Strukturen weiterentwickeln.“
Kritik an der Durchführung des Bürgerrates Demokratie und dessen Ergebnissen im Jahr 2019
Dieser Vorschlag des WBGU aus dem Jahr 2011 blieb unberücksichtigt :
„Um Zukunftsinteressen institutionell zu verankern, empfiehlt der WBGU zu erproben, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren um eine deliberative ‚Zukunftskammer‘ zu erweitern. Um interessens- und parteipolitische Einmischung zu vermeiden, könnte die Zusammensetzung dieser Kammer beispielsweise durch Losverfahren ermittelt werden.“
5| „Die Demokratie braucht [Anm.: auch] die Gewerkschaften„. Die Akademie für ArbeitnehmerWeiterbildung stellt am 12. August 2024 dazu ua folgende Fragen: „Protest zeigt immer Probleme und Risskanten einer Gesellschaft auf. Dazu beschäftigt uns die Frage, welche Ursachen für Proteste existieren und welche Herausforderungen Protestkultur im 21. Jahrhundert widerfährt. Wir beschäftigen uns des Weiteren mit der Frage, wie viel Protestpotenzial in uns steckt: Gäbe es für uns auch einen Grund zu protestieren oder ist es nicht wünschenswert, in Ruhe ohne Protest und Konflikte zu leben? Und ist nicht das ein Privileg, das man sich leisten können muss?“ (vgl. Armin Nassehi, Ciani-Sophia Hoeder u. v. a. m.)
Zuletzt noch dieser Gedanke von Marcus Hernig: „Doch Revolutionen können auf Dauer nur Erfolg haben, wenn die Masse der Bevölkerung diese unterstützt.“ (S 83)
Weitere Hinweise dazu von Daniel Loick und anderen hier.
Wenn unsere gemeinsame Zukunft als Grundlage für ein friedliches Miteinander und ein gutes Leben für alle auf dem Spiel steht, dann sind auch Religionen mit an Bord: https://religionsforfuture.at/#treffen-der-steiermark
Am besten funktionieren solche Veränderungen, an die man sich gewöhnen kann und die zumindest nicht disruptiv sind. (Armin Nassehi, in: Unbehagen, S 330)
Wege zum repräsentativen Parlament
Das Motto der 14. Armutskonferenz in St. Virgil, Salzburg, ist kein Aufruf zur Revolution. Es wäre vermessen zu glauben, eine Umkehrung der Machtverhältnisse führt zu wohlstandsmehrenden Lebensverhältnissen für die zuvor Benachteiligten. Ein gutes Leben für alle braucht in einer offenen Gesellschaft auf Dauer das gesamte Meinungsspektrum in den Institutionen der Volksvertretung. Genau deshalb, weil dieses durch die bestehenden Repräsentationslücken derzeit nicht gegeben ist, benötigen die politischen Entscheidungsgremien vielmehr eine partizipative Aufwertung. Eine starke Demokratie wäre die Folge davon.
Verschiedene Formen stehen dafür zur Auswahl. Zwischen Bürger*innen-Rät*innen und Losbewegungen ist vieles sinnvoll. Nicht vertreten hingegen ist dabei die Idee eines Jean Jacques Rousseau, der in seinem Gesellschaftsvertrag meinte: wenn es denn schon Teilgesellschaften – sprich: Parteien – geben soll, dann „ist es wichtig, ihre Zahl zu vervielfachen und ihrer Ungleichheit vorzubeugen“ (Nr. 320). Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Auch wenn das Angebot der KPÖ+ in Salzburg zahlreiche Bürger*innen wieder zurück an die Wahlurnen bewegt, wird dadurch auf Dauer kein vielfältiges Meinungsspektrum gewährleistet. Diese Garantie erfordert in letzter Konsequenz wie die nichtterritoriale Selbstverwaltung Bestimmungen im Bundes-Verfassungsgesetz (S 18). Demokratiestärkende Reformen sind allerdings erst – wie in anderen Ländern auch – nach entwicklungsfördernden Regierungskrisen zu erwarten. Es gibt aber noch weitere Barrieren zu überwinden:
Erfolge im Kampf gegen die relative Armut sind viel schwerer zu erringen als im Kampf gegen die absolute Armut, weil … die Bekämpfung der relativen Armut [erfordert], dass man den Reichtum antastet.(Christoph Butterwegge)
Wer die „selektive Responsivität“ als strukturelle Bevorzugung der Reichen in der Gesetzgebung aufheben will, kämpft gegen dieselben Windmühlen.
Zur Überwindung von Widerständen braucht es eine entsprechende Kultur (siehe zB Vorarlberg) zur Erzielung nachhaltiger Transformationserfolge auf dem Weg zu der von Hartmut Rosa vorgeschlagenen „Gemeinwohlkonzeption, weil Politik nicht einfach Interessendurchsetzung ist.“ Wenn durch diese das Volk souverän wirken können soll, hat sie nach Hans Kelsen eine Institution der Republik zu sein. Dazu brauchte es Tamara Ehs zufolge nicht einmal eine Gesetzesänderung: es reicht, „die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer [zu] interpretieren.“ (Krisendemokratie, 2020, S 101 f)
Das wäre zwar ein willkommener erster Schritt, doch dieser ist nicht ohne unser Engagement abseits von Krisen zu erwarten. Das zeigen beispielsweise die Ergebnisse einer parlamentarischen Enquete-Kommission aus dem Jahr 2014 zur „Stärkung der Demokratie in Österreich“. Damals wurden viele Überlegungen nicht einmal ignoriert – wie auch jene von Tamara Ehs:
„Wir haben gemeinsam dieses Grünbuch ‚#besserentscheiden‘ ausgearbeitet, und da kam die Idee auf, ob es nicht der Bundesrat sein könnte, der sich hier neu orientiert. Eine Neuorientierung des Bundesrates als eine Art politischer Think Tank, wo Expertinnen und Experten eingeladen werden, wo der Bundesrat aber auch Bürgerkonferenzen in den einzelnen Bundesländern organisiert, als zukunftsgerichteter Think Tank, eben auch nach Beispiel des finnischen Zukunftsausschusses, wo man Veränderung begleiten kann. Veränderung findet ja immer statt, es geht nur darum: Laufen wir quasi der Veränderung hinterher oder gestalten wir sie mit? – Da könnte der Bundesrat mit dem bereits angesprochenen Demokratiebüro zusammenarbeiten, einen Raum auch für alternative Ideen finden, wo Bürgerinnen und Bürger gemeinsam neue Formen der Demokratie überhaupt erst einmal ausarbeiten können.“ (a. a. O., S 308)
Was die Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit betrifft, so darf die im Jahr 2013 eingeführte Pass Egal Wahl von SOS Mitmensch (vgl. mitstimme.ch) als Vorbild genannt werden. Dadurch konnte erstmals neun Jahre später die Arbeiterkammer Wien zur Mitwirkung gewonnen werden.
3. Eine der Forderungen der Arbeiterkammer zur Stärkung der „Demokratie auf allen Ebenen“ lautet:
„Den Umbau demokratisch gestalten: Politik lebt von der Mitwirkung. Die Maßnahmen des sozialen und ökologischen Umbaus sollten daher in breiten und partizipativen Diskussionsprozessen entwickelt und demokratisch entschieden werden. Dabei sollten innovative, sozial repräsentative und inklusive Formen von Partizpation angewandt werden, um der Bevölkerung effektive Möglichkeiten zur Mitwirkung zu geben.“
4. Was es neben den bisherigen Bemühungen noch braucht: institutionalisierte Dauerhaftigkeit
Politische Erfolge der Bürger*innenräte und des Legislativen Theaters sind wichtige Schritte auf dem Weg zu repräsentativen Parlamenten in Gemeinden, Städten, Regionen, Nationen und in supranationalen Institutionen. Ihre Schwerpunkte liegen in ausgewählten Themen. Zudem liefern sie wichtige kulturelle Beiträge („soziales Kapital„) zur Zukunftsfähigkeit von demokratischen Gesellschaften. Allerdings sind sie damit noch weit entfernt von einer dauerhaften Gemeinwohlkontrolle im Sinne eines Armuts-Checks von Gesetzen und Verordnungen, formuliert von Dr. Michael Landau im Jänner 2020. Die Steine auf dem Weg dorthin sind nur gemeinsam zu beseitigen. Einzelne Projekte oder Wortmeldungen – selbst jene von Willy Brandt in seiner Regierungserklärung im Jahr 1969, die da lautet: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ – bringen uns der wünschenswerten und zu fordernden Repräsentativität in der Gesetzgebung allenfalls nach schweren Krisen näher. Bislang aber selbst dann nicht nahe genug.
*| Wenn es also Proteste benötigt, um die Demokratie als Herrschaftsform weiter zu entwickeln, sollten wir uns dann in Anlehnung an die Grazer Stadtschreiberin Andrea Scrima nicht auch fragen, WO „man das Aufbegehren lehren kann„? Ist diesbezüglich ein jährlich wiederkehrendes Protestcamp im öffentlichen Raum nicht die geeignetere Form anstelle von Diskursen in klimatisierten Stadthallen?
Wegweisende Maßnahmen der 14. Armutskonferenz
Demokratie als Lebensform wird mittlerweile bereits in Kindergärtenpraktiziert und gelernt. Gleichzeitig braucht es idealerweise auch eine verfassungsmäßig verankerte Gewährleistung einer repräsentativen Mitwirkung an öffentlich relevanten Entscheidungen. In der 14. Armutskonferenz wurde daher folgendes von den anwesenden „Minister*innen“ in der Zukunftswerkstatt Beteiligung beschlossen:
Einzelne Maßnahmen wie Informationen zu „Direkte Demokratie und Partizipation in den österreichischen Gemeinden“ im Anschluss an das gleichnamige Symposium vom 5. November 2014 führen allerdings von sich aus noch zu keiner flächendeckenden Versorgung mit partizipativen Elementen der Mitentscheidung als ein wesentlicher Bestandteil einer breitenwirksamen Mitentscheidungskultur.
In guter Absicht werden Jugendliche im Rahmen eines zweijährigen Programms zu Gedenkfahrten eingeladen, denn: „Wer vor Ort erlebt hat, wohin Nationalismus und Rassismus führen, wird mit viel größerer Überzeugung für unsere freiheitliche Demokratie, eine vielfältige Gesellschaft und ein friedliches Europa eintreten und diese Überzeugung auch an die nächste Generation weitergeben.“ Derlei Anstrengungen sind wichtig, doch zeitliche Begrenzung und das fehlende flächendeckende Angebot sind weder nachhaltig noch ambitioniert genug.
Um einer „Wiederholung der Geschichte“ zu entkommen und gleichzeitig in eine „gute Zukunft“ führen zu können, braucht es größere Anstrengungen als Erinnerungen wach zu halten. Denn noch so umfangreiche Bemühungen darum führen ins Leere bei einer gleichzeitig stattfindenden Politik sozialer Ausgrenzungen – Stichwort: „selektive Responsivität„. Wir stellen dann zwar fest: „Armut frisst Demokratie“ (s. a. „Studie: Armut ist Risiko für Demokratie …„), unser Handeln zur Abwendung von Deklassierung jedoch ist noch nicht ausreichend fokussiert auf die Erzielung von „demokratischen Innovationen“ beim „institutionellen Design“ (Kübler/Leggewie/Nanz, S 76). Stattdessen glauben viele, „mit [Anm.: diskursiver] Bildungspolitik für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen zu können.“ (Dierk Hirschel) Für Menschen mit Ressentiments als der „gefährlichste[n] Krankheit für die Demokratie“ sind nicht „Erkenntnis und Wissen“ das Ziel der Therapie, sondern die Fähigkeit, „zum Handeln zu gelangen“. (s. Cynthia Fleury) Bereits ausgearbeitete Ideen und Visionen liegen stattdessen brach und bleiben weiter unangetastet. So fehlen nicht nur den Jugendlichen in Sachsen-Anhalt und anderswo ausreichend Perspektiven, um sich mit vollem Elan am Bau für die gemeinsame Zukunft einer offenen und prosperierenden Gesellschaft, einer resilienten Demokratie zu beteiligen. Zudem fehlt es ihnen auch an „Macht […], die Verteilungsordnung mitzugestalten.“ (S. Lessenich, S 33) Doch genau darin liegt eine vermutete Begründung: denn wieso sollte sich jemand für den gemeinsamen Bau einer Zukunft „abrackern“ wollen, die vermutlich nie die eigene sein wird?
„Kluge Leute“ helfen uns aber auch nicht weiter, um ins Handeln und damit zu notwendigen Reformen auf dem Weg zu mehr Partizipation zu gelangen. Sie wollen Milo Rau gemäß lieber „Recht […] behalten“ oder appellieren an die Vernunft des Einzelnen (vgl. Thilo Bode) und so stützt die „Uneinigkeit der Wohlmeinenden“ vielmehr „die herrschenden Verhältnisse“ als sie auf eine bessere Zukunft vorzubereiten. Alternativ dazu auf eine derart große Krise zu hoffen, „dass es auch der letzte Trottel begreift“ (Philipp Blom, 2020), kann mitunter fatal enden. Besser, wir setzen ganz im Sinne von Milo Rau auf „die ‚praktischen Solidaritäten‘ […], die ‚reale Utopien‘ aufmachen.“ Sich mit den möglichen Zukünften zu beschäftigen macht zudem glücklicher. Florence Gaub: „Dafür brauchen wir das Wissen, das Handwerkzeug, die Kultur und auch die Institutionen.“
Sir Karl R. Popper: „…; wir müssen Institutionen konstruieren, …“
BreitenwirksameKunst – beispielsweise „One Three Some“ von Danae Theodoridou im Rahmen von Demokratiefestivals – könne dabei als wesentlicher Hebel dienen: „Sie müsse sich herausbewegen, um eine größere Zielgruppe zu erreichen, sagt Milo Rau, der Kunst mit politischem Aktivismus verbindet.“
Mitbestimmung für die Vielen
Wenn wir nicht wollen, dass es eine Demokratie gibt, in der Mitbestimmung immer mehr zu einem Privileg der Bessergestellten wird, muss man gegensteuern. (AK Wien, 2022)
Martin Jäggle hat eine mögliche Antwort, die gleichzeitig als Handlungsanweisung für politisch Aktive zu lesen ist:
Ab diesem gleichnamigen Kapitel verknüpft Cynthia Fleury in ihrem Buch „Hier liegt Bitterkeit begraben“ zwei üblicherweise getrennt untersuchte Welten: die des Individuums mit jener der Gesellschaft als soziales Phänomen. Dabei kommt sie zu Überlegungen, die ich unter dem Begriff resiliente Demokratie einordne:
Die Verwendung der Gesundheit als Metapher hilft uns, die innere Dynamik des Subjekts und der Demokratie zu erfassen. (S 281)
Die psychische Gesundheit der Individuen und die demokratische Gesundheit sind miteinander zu verbinden, indem man nach einem guten Funktionieren der Gesellschaft fragt, nach ihrer Fähigkeit, ihrer eigenen Entropie zu widerstehen, und nicht eine unerschütterlich tugendhafte Ausübung demonstriert. Bei guter Gesundheit zu sein bedeutet, krank zu werden und wieder aufzustehen, wie uns Canguilhem und viele andere gelehrt haben. Die demokratische Gesundheit teilt dieselbe Fähigkeit: Sie muss in der Lage sein, mit ihren inneren Störungen fertigzuwerden, darf nicht von ihnen paralysiert werden und muss einen Weg finden, um Fortschritte zu machen, auch wenn es immerwährende Gegenwinde gibt. Diese zeugen nicht unbedingt von einem gesunden Pluralismus. (S 261)
Sobald man das Ressentiment als eines der gefährlichsten Übel für die psychische Gesundheit des Subjekts und die Funktionsfähigkeit der Demokratie bezeichnet, ist es wichtig zu verstehen, wie man sich vor ihm schützen kann, sicher institutionell, aber auch klinisch, … (S 264)
Bürgerbeteiligung kommt in Mode
„Der Bürger*innenrat ist eine Form der Zusammenarbeit zwischen Bevölkerung und Politik, stimuliert kommunikativen Austausch und leistet somit auch ein Stück weit politische Bildung (vgl. dazu Lederer 2009). Unter qualitätsvoller Moderation werden mit zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern einer Gemeinde, Region oder eines Landes an einem Wochenende Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen ausgearbeitet. Aufgrund der Zufallsauswahl handelt es sich bei den Teilnehmenden um ’normale‘ Personen, die über keinerlei spezielles Vorwissen oder spezielle Qualifikationen verfügen. Insbesondere vertreten sie dadurch keine Interessengruppen, sondern ihre persönliche Meinung. Die Teilnehmenden eines Bürger*innenrats werden dazu motiviert, Themen und Anliegen zu einer bestimmten Ausgangsfrage oder einem definierten Themenfeld an diesen eineinhalb Tagen zu diskutieren. Aufgrund der auswahlbedingt vielfältigen Zusammensetzung der Gruppe geht es mit ziemlicher Sicherheit um Fragen, die viele Menschen in der Gemeinde bewegen. Zu diesen Themen diskutiert der Bürger*innenrat Thesen, Sichtweisen, Lösungsideen und Empfehlungen. …
Der Bürger*innenrat ist ein unparteiisches Sprachrohr der Bevölkerung, bringt Politik und Bürgerinnen und Bürger näher zusammen und ist als Ergänzung zum repräsentativen System zu sehen. …
Abschließend kann noch einmal festgehalten werden, dass das Zusammenspiel unterschiedlicher Formen der politischen Beteiligung entscheidend für die Demokratiequalität ist. Es geht um eine gute Ausgewogenheit der repräsentativen Demokratie mit Formen der direkten und partizipativen Demokratie. Letzteres bedeutet nicht nur mehr Arbeit, die sich effektiv lohnt, sondern auch eine neue Art der Politik voranzutreiben.“ (Michael Lederer, Die Armutskonferenz et al. [Hrsg.] [2020]: Stimmen gegen Armut. BoD-Verlag)
Kritik und Ausblick
Angesichts wiederkehrender Erfolge rechtspopulistischer Parteien – Philipp Ther bevorzugt den Begriff „Rechtsnationalisten“ (S 56) – waren die bisherigen Bemühungen um „Demokratie und Toleranz“ im Rahmen von Demokratiebildung unzureichend. Auch die „soziale Schieflage der Wahlbeteiligung“ konnte damit nicht beseitigt werden. Daran wird sich wohl auch in Zukunft nichts ändern. Im Sinne von Willy Brandt sollten wir daher endlich „mehr Demokratie wagen„, indem wir institutionelle Reformen zuerst anstreben, vorbereiten und dann durchführen.
Fallweise durchgeführte Bürgerforen wie die „Citizens‘ Assemblies“ in Irland oder Bürgerräte des Deutschen Bundestages ab 2023 sind dafür ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer gleichwertigen Mitbestimmung der Vielen. Weiter unten werden wir sehen: es geht allerdings noch mehr.
Während die Beratungsergebnisse in Irland in der Legislative durchaus Berücksichtigung finden, ist in den meisten Fällen von Bürgerbeteiligungen nicht einmal dieser Aspekt gewährleistet. Ein besonders krasses Beispiel stellt diesbezüglich der im ersten Halbjahr des Jahres 2022 stattgefundene Klimarat in Österreich dar. Armin Schäfer und Michael Zürn bezeichnen die „Einführung von Bürgerhaushalten in Deutschland“ gar als „Pseudobeteiligungsmöglichkeiten“ (S 210). „Doch wer Beteiligung wünscht“, schreiben sie weiter, „muss die Bürgerinnen tatsächlich entscheiden lassen. Falsche Reformen sind solche, die entweder den Akademikerüberschuss verstärken oder primär symbolischen Charakter haben und somit die Schere zwischen Rhetorik und Realität wachsen lassen.“ Ihr Vorschlag: „Die Beteiligung sollte daher auf Los- oder ähnlichen Verfahren beruhen. Dadurch wird die Mitwirkung von denen befördert, die sonst nicht mitmachen würden.“
Wer Bürgerbeteiligung ernst meint, lädt dazu nicht nur „Menschen mit Migrationshintergrund“ ein, sondern stellt dafür auch dauerhafte institutionelle Ressourcen zur Verfügung. Beispiel: Bürgerdialog in Ostbelgien. Noch nicht einmal richtig eingerichtet diente dieser bereits im Jahr 2021 als Vorbild bei der Gründung des Ständigen Bürgerrates in Paris (> paris.fr).
Bedauerlicherweise brauchte es dazu wie in Irland, so auch in diesen beiden Fällen erst krisenhafte Erfahrungen: in Belgien war die Geburtsstunde der Bürgerbeteiligung im Jahr 2011, nach mehr als einem Jahr ohne Regierung und in Paris waren es die Gelbwesten-Proteste. Im Jahr 2019, „mitten in der Krise um die Gelbwesten, wurde in einer Bürgerbefragung, die nach einer Art ‚großer Debatte‘ auf Pariser Ebene organisiert wurde, die Schaffung eines Gremiums gefordert, das den Bürgern die Möglichkeit geben sollte, an der Gestaltung der Politik mitzuwirken.
‚Wir befinden uns in einer sehr angespannten Situation mit einer Rekordzahl an Nichtwählern und einem großen Misstrauen in der Gesellschaft gegenüber den Institutionen, daher war es der richtige Zeitpunkt, diesen Bürgerrat einzuberufen‘, meint der gewählte Vertreter des 15. Arrondissements.“ (buergerrat.de)
Am Ende ist zwar klar erkennbar, dass ein Land nicht länger demokratisch regiert wird, weil die Medien nicht frei, die Opposition behindert, die Gewaltenteilung untergraben wird und Gerichte gleichgeschaltet sind, aber wann genau der erste Schritt in diese Richtung erfolgt, entgeht den Zeitgenossen häufig (vgl. Przeworski 2020, Kap. 10). Wann der ‚Vorkrieg‘ um das Überleben der Demokratie beginnt, ist auch deshalb schwierig zu erkennen, weil die neuen Autokratinnen für sich reklamieren, mehr Demokratie wagen zu wollen, und weil sie auf reale Probleme existierender Regime verweisen können. Funktionierte die Demokratie einwandfrei, böte sie ihren Gegnerinnen weniger Angriffsflächen.
Armin Schäfer/Michael Zürn in: Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus. Bonn, 2021, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, S 57 f
Aktiv-Demokrat:innen sollten nicht länger warten bis sich bestehende Krisen zu einer Staatskrise auswachsen. Sinnvoller ist das präventive Engagement in Richtung Reform und Ausbau der (insbesondere in der Schweiz) bewährten Konkordanzdemokratie als „Gegenmodell zu[r] Konkurrenzdemokratie„. Vorreiter in dieser Hinsicht ist das Bundesland Vorarlberg mit seinem Erfolgsmodell bürgerlicher Beteiligung: „Viel Erfahrung mit diesem Instrument hat Vorarlberg. Es gilt, was die institutionelle Verankerung von Bürgerbeteiligungsprozessen angeht, international als Vorbild.
Bereits vor fünfzehn Jahren hat das Büro für Zukunftsfragen, eine Stabstelle, die direkt dem Landeshauptmann zugeordnet ist, erstmals einen Bürgerrat einberufen. Ein voller Erfolg, weshalb konsultative Bürgerbeteiligungsverfahren 2013 in der Landesverfassung verankert wurden.“ (ORF, 2021)
Der andere BürgerRat: ein legislatives Kontrollorgan
Zumeist werden beratende (konsultative, deliberative) Ansätze diskutiert, ausprobiert und im besten Fall auch realisiert. Daneben bietet sich einem Land mit einem Zweikammerparlament noch die Möglichkeit eines Bundes-BürgerRates als zweite Kammer im Sinne eines Gemeinwohlcontrollings*. Siehe dazu Hinweise weiter unten in den Schlussbemerkungen zum Thema „Birepräsentative Modelle mit Losverfahren„.
*| Der Begriff „Gemeinwohlcontrolling“ wurde in einem vergleichbaren Zusammenhang erstmals von Prof. Birger Priddat in einem 3sat-Interview im Jahr 2017 verwendet. Siehe hier eingebettetes Interview.
„Die Reichen und Mächtigen haben das System manipuliert, um ihre Privilegien zu behalten; die Akademiker haben herausgefunden, wie sie ihre Vorteile an ihre Kinder weitergeben können, wodurch die Meritokratie zu einer Erbaristokratie geworden ist.“ (S 191; vgl. Philipp Blom)
Wir müssen nicht erst über den großen Teich blicken, um zu sehen, was auf uns zukommen wird. Denn die gespaltene Gesellschaft ist bereits in Europa angekommen.
Vgl. Cornelia Koppetsch: Die durch Deklassierung „verlorenen Einsätze und Investitionen des Subjekts“ sollen durch „Re-Klassifizierungsangebote“ wieder zurückgebracht werden.
Krise der repräsentativen Demokratie
Bereits im Jahr 2012 stellte Hubert Kleinert „Auszehrungserscheinungen“ der „klassischen Demokratien des Westens“ fest. In seiner Ursachenanalyse weist er darauf hin, „dass eine Reihe von Bedingungen, die für den Erfolg der Parteiendemokratie und die Integrationskraft des repräsentativen Systems in Deutschland und anderen vergleichbaren Ländern nach 1945 vorlagen, so nicht mehr vorhanden sind.“ Am Tag vor Weihnachten 2013 titelt Wolfgang J. Koschnik gar: „Die repräsentative Demokratie frisst ihre Kinder„.
Tamara Ehs am Schluss ihrer Rezension des Buches „Die demokratische Regression“ von Armin Schäfer und Michael Zürn: „Politiker*innen von nicht-autoritärpopulistischer Prägung, welche dieser Tage noch knapp Wahlen gewinnen (Joe Biden, Emmanuel Macron und andere), sollten nicht froh sein, dass es ’noch mal gut gegangen ist‘, sondern dringend an der Demokratisierung der Demokratie arbeiten.“ Die „Entfremdung von der Demokratie“ begünstigt den „Aufstieg autoritär-populistischer Parteien. […] Das Gefühl des Nicht-gehört-Werdens hat dabei eine klar sozioökonomische Komponente, die wiederum auf die Schieflage in der parlamentarischen Repräsentation repliziert (126).“
Im folgenden Plädoyer für Bürgerräte als – ganz im Sinne von Jürgen Habermas – deliberative Institutionen wird versucht, Fragen zu beantworten, die es vor der Planung und Durchführung von Bürgerräten zu beantworten gilt:
„Wie inklusiv sind Bürgerräte, wer nimmt an ihnen teil, wie lassen sich diese mit den repräsentativen Institutionen wie dem Parlament kombinieren, welches Design der Bürgerräte verstärkt die demokratisierenden Effekte, welche Regelungen produzieren problematische Konsequenzen?“
Wolfgang Merkel, Filip Milačić und Andreas Schäfer haben in ihrer Studie „Bürgerräte“ versucht, diese für uns zu beantworten. Hier eine Sammlung von Textstellen aus deren Einleitung:
Fakten versus negative Kritik
Mittlerweile gibt es auch zunehmend Kritik an „mehr Bürgerbeteiligung“. So würden Bürgerräte sogar „das Vertrauen in die Politik“ zerstören. Weil die Fakten allerdings eindeutig für eine flächendeckende Mitbestimmung durch verschiedene Modelle der Bürgerbeteiligung sprechen, ist die Kritik daran – aus durchaus verständlichen Beweggründen – mitunter polemisierend und/oder inhaltlich unrichtig. Schließlich aber heben jahrhundertelange Anwendungen die Vorteile von Losverfahren durch mehr „Wohlstand, Prosperität und Kultur“ noch dadurch hervor, dass sie gleichzeitig „politische Stabilität“ gewährleisten, „trotz großer interner Unterschiede zwischen rivalisierenden Gruppen“. (Gegen Wahlen, 7. Aufl., 2021, S 83)
Schlussbemerkungen
Auf dem Weg zu mehr Demokratie durch institutionalisierte Bürgerbeteiligung liegt noch viel Arbeit vor engagierten Demokratiearbeiter:innen. Um erfolgreich im Sinne von „dauerhaft mitbestimmend“ sein zu können, ist es nach Erica Chenoweth förderlich, 3,5 Prozent der im jeweiligen Land lebenden und Steuer zahlenden Mitmenschen zu motivieren. Diesbezüglich können Demokratie-Festivals wertvolle Beiträge liefern.
Hilfreich sind dabei auch Überlegungen der Politikwissenschafterin Tamara Ehs. Sie hat im ersten Pandemiejahr ihren Essay „Krisendemokratie“ veröffentlicht, in dem sie sieben Lektionen aus der Coronakrise beschreibt. Eine davon lautet: „Pluralismus der Meinungen ist das Wesen der Demokratie. Die Vielfalt zu hören und aufzunehmen ist Gelingensvoraussetzung des demokratischen Staates und führt zu besseren Entscheidungen.“ Das gilt nicht nur für Wahlen in Krisenzeiten, auf die sie diese Lektion bezieht. Deutlich wird dies im Schlusskapitel „Utopie“, in dem sie festhält: „Im Grunde ist es auch egal, wo wir mit der Demokratisierung beginnen; wichtig ist nur anzufangen.“
Birepräsentative (Zweikammer-)Modelle mit Losverfahren
Nachfolgend beschreibt sie verschiedene Ansatzpunkte für demokratiestärkende Veränderungen und zivilgesellschaftliches Engagement. Einen für mich zentralen Punkt formuliert sie so: „Um Lehren aus der Krise zu ziehen, muss man bereits den Regelzustand verändern. Hierzu könnte man […] auch ohne Gesetzesänderung die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer interpretieren.“ (Krisendemokratie, S 101 f) Zudem müssen im Unterschied zu Deutschland die Mitglieder des Bundesrates in Österreich nicht als Abgeordnete in die jeweiligen Landtage gewählt worden sein. Sie müssen lediglich zum Landtag wählbar sein (Art. 35 (2) B-VG).
An anderer Stelle konkretisiert Tamara Ehs mit den Worten: „Für Österreich würde dies auf Nationalstaatsebene bedeuten, den Bundesrat als Bürgerrat neu zu gründen.„
Milo Tesselar schließt mit den Worten: „Um gestärkt aus der gegenwärtigen Krise unserer Demokratie zu gehen, sollten wir diese Möglichkeit des Bürgerrats im Parlament ernsthaft diskutieren. Österreich muss dabei aus Eigeninteresse vorausgehen. Mit einem Bürgerrat statt des Bundesrats können wir unsere Demokratie wesentlich verbessern und nebenbei ein Vorreiter in Europa und Vorbild für die Welt werden.“
Beispiele für „Formate und Übungsfelder“, die es zu etablieren gilt
„Wenn die Parteien sich dafür entscheiden, die in den Bundesrat zu entsendenden Personen aus einem per Los bestimmten Pool von Anwärter*innen auszuwählen und diese dann gemäß den gesetzlichen Regeln des B-VG durch den Landtag zu wählen, ist diese Vorgehensweise grundsätzlich zulässig.“ (Gemini, 2025-12-12)
Die Idee eines partizipativeren Parlamentarismus ist nicht neu. So haben bereits Anthony Barnett & Peter Carty im Jahr 2008 (s. Anmerkung 7) darauf hingewiesen, das House of Lords, die zweite Kammer des britischen Parlaments, „nicht abzuschaffen oder ihre Kompetenzen einzugrenzen, sondern den Bestellungsmodus dahingehend zu ändern, dass ein Teil seiner Mitglieder künftig unter allen britischen Bürgern ausgelost würde.“ (Hubertus Buchstein, 2009) Siehe auch Überlegungen des WBGU zur Einführung einer „Zukunftskammer„. Das war im Jahr 2011. Im selben Jahr wurde der „ursprünglich für Wien tätige Verband“ Aktion 21 – pro Bürgerbeteiligung „auf ganz Österreich ausgeweitet“.
Besonders ausführlich sind die Überlegungen des belgischen Politikwissenschaftlers und Sachbuchautors David Van Reybrouck in seinem Buch „Gegen Wahlen“:
Diese Lehren zieht David Van Reybrouck ua aus seinem „flüchtige[n] Überblick über die Geschichte“: „Der Gebrauch des Losverfahrens fiel häufig mit dem Höhepunkt von Wohlstand, Prosperität und Kultur zusammen“, das Losverfahren sorgte für „weniger Konflikte und größere Beteiligung der Bürger“, es wurde „immer in Kombination mit Wahlen praktiziert, um Kompetenz zu garantieren“* und „Staaten, die das Losverfahren anwandten, erlebten häufig Jahrhunderte der politischen Stabilität, trotz großer interner Unterschiede zwischen rivalisierenden Gruppen.“ (S 82 f)
*| Sich auf Montesquieu und Rousseau beziehend schlussfolgert Van Reybrouck: „Die zwei wichtigsten Bücher über politische Philosophie aus dem achtzehnten Jahrhundert stimmen […] darin überein, dass das Losverfahren demokratischer sei als Wahlen und dass eine Kombination beider Methoden für eine Gesellschaft von Vorteil sei. Die aleatorischen und elektoralen Verfahren könnten einander stärken.“ (a. a. O., S 85; vgl. Hubertus Buchstein)
Auf dem Weg zu einer partizipativen Demokratie gilt es „zahlreiche Hindernisse“ zu überwinden. Diese beiden stellen dabei die größten Herausforderungen dar:
Herkömmliche politische Eliten sind von sich aus allenfalls in Sonntagsreden vom wohlstandsverbessernden Stabilisierungsfaktor einer Loskammer (House of Lots) überzeugt.
Das Fehlen einer attraktiven Kultur der Beteiligung macht es schwierig, dem Erfinden von „irgendwelche[n] Ausreden“ konstruktiv zu begegnen.
Eine Plattform PRO Bundes-BürgerRat könnte beispielsweise einen Arbeitskreis mit der Erstellung von Konzepten zur Überwindung dieser Hindernisse beauftragen. Let’s do it!
Da die besseren Lösungen komplexer Aufgabenstellungen insbesondere in einer individualisierten Welt ganzheitliche Herangehensweisen erfordern, darf am Schluss auf diese Hinweise von Papst Franziskus, Michael Landau und Kurt Remele nicht verzichtet werden:
Die gesellschaftliche Eingliederung der Armen
Der private Besitz von Gütern rechtfertigt sich dadurch, dass man sie so hütet und mehrt, dass sie dem Gemeinwohl besser dienen; deshalb muss die Solidarität als die Entscheidung gelebt werden, dem Armen das zurückzugeben, was ihm zusteht. Wenn diese Einsichten und eine solidarische Gewohnheit uns in Fleisch und Blut übergehen, öffnen sie den Weg für weitere strukturelle Umwandlungen und machen sie möglich. Eine Änderung der Strukturen, die hingegen keine neuen Einsichten und Verhaltensweisen hervorbringt, wird dazu führen, dass ebendiese Strukturen früher oder später korrupt, drückend und unwirksam werden.
Zu Eutopia, dem Land des Glücks, fühlen wir uns schon immer hingezogen. Wen wundert es also, dass bereits verschiedene Projekte danach benannt wurden. Die Sehnsucht nach dem Paradies, dem „guten Ort“, um eine weitere Bedeutung des Begriffs Eutopia zu verwenden, wird uns auch weiterhin begleiten. Wenn wir versuchen wollen, diesen Wunsch lebendig werden zu lassen, dann dürfen wir uns allerdings nicht die Mühe ersparen, die gegebenen Verhältnisse zu analysieren und allfällige Realisierungschancen zu erörtern. Danach erst sollten wir zur Tat schreiten bzw dazu einladen. Das Paradies auf Erden fällt schließlich nicht ohne unser Zutun vom Himmel.
Zunächst also die Analyse:
Beginnen wir unsere Untersuchungen bei den aktuellen Preissteigerungen, wie wir sie seit einem Menschenleben nicht mehr erlebt haben. Die damit verbundene Krise ist aber nur eine von mehreren, die uns seit einigen Jahren herausfordern.
Wie kam es dazu und welche Schritte können wir setzen, um deren Vermehrung einzubremsen und ihre Auswirkungen zu lindern?
Offensichtlich hat die zunehmende Krisenanfälligkeit unserer westlichen Gesellschaften etwas mit unseren politisch-wirtschaftlichen Gegebenheiten zu tun. Weil nur der Erfolg zählt haben wir uns in Abhängigkeiten begeben, durch die ein einziger Unfall im Suezkanal zu weltweiten und monatelangen Lieferverzögerungen führt. Hinzu kommen soziale Ausgrenzungen von Menschen und die zerstörerische Ausbeutung der Natur.
Lange Zeit wurden die Schattenseiten der willkommenen Wohlstandsvermehrung verschwiegen oder gar in Abrede gestellt. So veröffentlichte das Magazin Spektrum der Wissenschaft bereits im November 2015 die Hintergrundrecherche: „Wie Exxon den Klimawandel entdeckte – und leugnete“. Doch erst Jahre später wird breit darüber berichtet und diskutiert. Kaum bekannt sind auch die Analysen von Per Molander und Michael J. Sandel. Beide beschreiben dasselbe gesellschaftsimmanente Phänomen der Erbaristokratie. Wie sehr das in Leistungsgesellschaften unter Druck geratene Gemeinwohl mittlerweile Demokratien gefährdet, darauf weist der US-amerikanische Moralphilosoph Sandel in seinem 2020 erschienenen Werk „Vom Ende des Gemeinwohls“ hin: „Die Reichen und Mächtigen haben das System manipuliert, um ihre Privilegien zu behalten; die Akademiker haben herausgefunden, wie sie ihre Vorteile an ihre Kinder weitergeben können, wodurch die Meritokratie zu einer Erbaristokratie geworden ist.“ (S 191)
„In bestimmten Situationen kann eine Meritokratie über die Aristokratie gestellt werden. Ein bekanntes Beispiel ist die spätmittelalterliche Verwandlung der Handelsrepublik Venedig von einer regionalen Großmacht mit dynamischer Ökonomie in einen Stadtstaat unter vielen. Die Entwicklung des Überseehandels im 9. und 10. Jahrhundert hatte dazu geführt, dass das Amt des Dogen, das in der Praxis vererbbar gewesen war, seit dem Jahr 1032 durch Wahlen besetzt wurde. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts wurde ein Kontrollgremium gebildet, der große Rat, das Machtzentrum der Republik. Er wurde jedoch zunehmend von einer Gruppe mächtiger Familien dominiert, und gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurden nach und nach mehrere Verfassungsänderungen vorgenommen, um den Zugang zu begrenzen. Die 1297 verfügte Schließung des Rats, La Serrata, die Venedig zu einer Erbaristokratie machte, wurde im Jahr 1319 endgültig besiegelt.“ Die Folgen waren damals wie heute dieselben: „… die Wirtschaftspolitik entfernte sich von den Prinzipien der Offenheit und des Wettbewerbs.“ (S 190, mehr dazu in: Erbaristokratie versus Gemeinwohl)
Genau an dieser Stelle befinden wir uns heute wieder. Das von Hans Kelsen mit besonderem Nachdruck eingeführte Kontrollgremium Bundesrat konnte in mehr als 100 Jahren kaum jemals im ursprünglichen Sinne wirksam werden. Deshalb gibt es die nicht in der Verfassung genannte Landeshauptleutekonferenz, wodurch die Interessen der Bundesländer nicht wie vorgesehen in die Gesetzgebung des Bundes eingebracht werden. Der Bundesrat als zweite Kammer des Parlaments erfüllt damit und aufgrund des praktizierten Klubzwangs innerhalb der politischen Parteien nur fallweise und mehr zufällig seine Funktion im Rahmen des föderalen Verfassungsprinzips. Viele fragen sich, wie diese Kontrollinstitution zu reformieren sei. Eine Überlegung dazu betrifft das Gemeinwohl als einen Ausdruck des republikanischen Verfassungsprinzips. Darüber später mehr.
Kommen wir zurück zu den Schattenseiten einer willkommenen Wohlstandsvermehrung und den jahrelang vernachlässigten Berichten über Exxon:
Am Ende des fossilen Zeitalters folgen nun – mittlerweile unvermeidlich – die Tage der Abrechnung. Hoffen wir, dass in klimapolitischen Fragen endlich mehr auf das sogenannte „einfache Volk“ gehört wird. Dieses wäre nämlich – das zeigen die Ergebnisse der Beratungen des Klimarates – durchaus bereit zu selbstbegrenzenden Maßnahmen. Der Appell des Klimaforschers Georg Kaser bei der Präsentation am 4. Juli 2022 lautete nämlich: „Und das möchte ich allen Entscheidungsträgern ans Herz legen: Sie würden um vieles weiter gehen, als es die Entscheidungsträger bisher geglaubt haben, weil sie verstanden haben, dass es notwendig ist.“ Zur Kritik an der Auswahl der Teilnehmenden ist folgendes anzumerken: zwar wurde keine Methode einer „aufsuchenden Beteiligung“ gewählt und dennoch war die Gesamtbevölkerung durch die mehr als 80 Teilnehmenden „breit repräsentativ“ vertreten.
Genau darum geht es aber in einer Demokratie, dass – ganz im Sinne von Jean Jacques Rousseau – der Gemeinwille regiert und nicht die „Summe der individuellen privaten Einzelinteressen„, die sich aus „familiäre[n] oder wirtschaftliche[n] Bindungen […] bilden. […] Diese Mahnung lässt sich auch gegen politische Parteien wenden, sofern sie Klientelpolitik treiben.“
Wie bereits erwähnt, zählt heute mehr denn je nur der private Erfolg jedes Einzelnen. Von „einer spezifischen vertu oder Tugend, an das Gemeinwohl des Ganzen zu denken“ ist in wirtschaftsliberalen Kreisen nichts zu erkennen. Dies wäre ja geradezu blasphemisch hinsichtlich der zu vertretenden Ideologie eines grenzenlosen Wachstums. Das gilt für profitmaximierende Unternehmen ebenso, wie für politische Parteien. Während uns noch die Worte von Papst Franziskus aus seinem apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium aus dem Jahr 2013 gut in Erinnerung sind, die da lauten: „Diese Wirtschaft tötet.“ (S 238), träumt derselbe Papst mittlerweile von einer „anderen Wirtschaft“, wenn er sagt: „Die Wirtschaft muss immer sozial sein und dem Sozialen dienen.“
Um dies erreichen zu können, braucht es das demokratische Gegenüber als Regulator für den wirtschaftlichen Wettbewerb. Stattdessen führte dieser zu einer Demokratie, von der Emanuel Towfigh im Jahr 2015 meinte: „Aber die Parteiendemokratie hat sich offenkundig überlebt, die Nachteile dieses Systems werden immer deutlicher sichtbar.“
Fast drei Jahrhunderte davor formulierte Jean Jacques Rousseau daher folgende Überlegungen: „Um wirklich die Aussage des Gemeinwillens zu bekommen, ist es deshalb wichtig, dass es im Staat keine Teilgesellschaften gibt und dass jeder Bürger nur seine eigene Meinung vertritt. […] Wenn es aber Teilgesellschaften gibt, ist es wichtig, ihre Zahl zu vervielfachen und ihrer Ungleichheit vorzubeugen […].“ (Vom Gesellschaftsvertrag …, 320 ff) Wollen wir nun – endlich -, dass mehr das Gemeinwohl „regiert“ und weniger die Partikularinteressen der großen Einflüsterer, dann stellt sich uns diese nächste Frage:
Wie bringen wir nun den aus zwei Kammern bestehenden Vertretungskörper Parlament dazu, mehr auf alle Menschen im Land zu hören, und nicht nur auf ihre jeweiligen Teilgesellschaften?
Gemäß den Erhebungen der Politikwissenschafterin Erica Chenoweth müssen wir lediglich 3,5 Prozent der Bevölkerung mobilisieren (vgl. Harald Welzer), um ein „Umschwenken der Politik“ zu erzielen. Wichtige Nebenerkenntnis ihrer Forschungen: „Gewaltfreie Bewegungen führten in 53 Prozent zu politischen Veränderungen, verglichen mit nur 26 Prozent bei den gewalttätigen Protesten.“
Von diesen Untersuchungsergebnissen dürfen wir uns aber auch nicht blenden lassen für unser eigenes Tun. Denn aus dem Lichtermeer vom 23. Jänner 1993 in Wien ging zwar die NGO SOS Mitmensch hervor, doch Helmut Schüller als einer ihrer Initiatoren stellt 30 Jahre danach ernüchtert fest: „Denn so, wie es aussieht, ist es noch einigermaßen weit zu einer Politik für Geflüchtete, die ihr Maß an den Menschenrechten nimmt.“ (MO 69: Geflüchtete als Spielball)
Seit 2013 bietet dieselbe Flüchtlingsorganisation daher allen Steuerzahlenden ohne österreichischen Reisepass die Möglichkeit einer Stimmabgabe via „Pass Egal Wahl„. Trotz des hohen Bekanntheitsgrades der Organisation und der bisherigen Erfolge wurde erst neun Jahre nach Beginn der Aktion erstmals im Jahr 2022 ein Wahllokal in der AK Wien eingerichtet.
Neben den bekannten Abwehrmechanismen zur Verteidigung der bereits erwähnten Klientelpolitik gilt es auch noch Widerstände in der „medialen Berichterstattung“ zu berücksichtigen. Co-Autor Quirin Dammerer zu den Ergebnissen der im Mai 2021 publizierten Studie „Die Vermögenssteuer-Debatte in österreichischen Tageszeitungen“: „Es ist interessant, dass wir auf der einen Seite sehen, dass es Mehrheiten für eine Vermögenssteuer in der Bevölkerung gibt und gleichzeitig diese veröffentlichte Meinung stark von dieser befürwortenden Haltung abweicht.“
Wo setzen wir also an, wenn es darum geht, sich als Gesellschaft für kommende Krisen besser vorzubereiten?
Mit dieser Frage verlassen wir nun endgültig die Analyse und gelangen zum konstruktiveren Teil, genauer: zu konstruierenden Aspekten, die uns künftige Krisen leichter bewältigen helfen sollen oder gar vermeiden. Vielleicht sind es wieder die Jungen wie Greta Thunberg, die den älteren Generationen darin ein Vorbild sein können, aktiv zu werden. So stellt auch Selina Thaler in ihrem UniStandard-Beitrag „Nur nicht abstürzen“ fest: „In all den Krisen seien viele Junge politisch aktiv geworden. Die Welt zu einem besseren Ort zu machen sei für einige ein Antreiber.“
Die nächste Frage wird noch deutlicher:
Wo könnten wir ansetzen und wie sollten wir uns dann engagieren, um 3,5 Prozent unserer Mitmenschen zu motivieren, politisch aktiv und damit auch erfolgreich zu werden?
Die Politikwissenschafterin Tamara Ehs hat im ersten Pandemiejahr ihren Essay „Krisendemokratie“ veröffentlicht, in dem sie sieben Lektionen aus der Coronakrise beschreibt. Eine davon lautet: „Pluralismus der Meinungen ist das Wesen der Demokratie. Die Vielfalt zu hören und aufzunehmen ist Gelingensvoraussetzung des demokratischen Staates und führt zu besseren Entscheidungen.“ Das gilt nicht nur für Wahlen in Krisenzeiten, auf die sie diese Lektion bezieht. Deutlich wird dies im Schlusskapitel „Utopie“, in dem sie festhält: „Im Grunde ist es auch egal, wo wir mit der Demokratisierung beginnen; wichtig ist nur anzufangen.“ Nachfolgend beschreibt sie verschiedene Ansatzpunkte für demokratiestärkende Veränderungen und zivilgesellschaftliches Engagement. Einen für mich zentralen Punkt formuliert sie so: „Um Lehren aus der Krise zu ziehen, muss man bereits den Regelzustand verändern. Hierzu könnte man […] auch ohne Gesetzesänderung die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer interpretieren.“ (S 101 f)
Tamara Ehs konkretisiert an anderer Stelle mit den Worten: „Für Österreich würde dies auf Nationalstaatsebene bedeuten, den Bundesrat als Bürgerrat neu zu gründen.„
Die Idee eines partizipativeren Parlamentarismus ist nicht neu. So haben bereits Anthony Barnett & Peter Carty im Jahr 2008 (s. Anmerkung 7) darauf hingewiesen, das House of Lords, die zweite Kammer des britischen Parlaments, „nicht abzuschaffen oder ihre Kompetenzen einzugrenzen, sondern den Bestellungsmodus dahingehend zu ändern, dass ein Teil seiner Mitglieder künftig unter allen britischen Bürgern ausgelost würde.“ (Hubertus Buchstein, 2009)
Fünf Jahre später veröffentlichte der Belgier David Van Reybrouck sein Buch „Gegen Wahlen„, in dem er die Vorteile des Losverfahrens (s. a. Hubertus Buchstein) bereits in der Athener Demokratie verortete und dabei folgendes hervorhob: sein Gebrauch „fiel häufig mit dem Höhepunkt von Wohlstand, Prosperität und Kultur zusammen“, es sorgte „in der Regel für weniger Konflikte und größere Beteiligung der Bürger“ und „wurde immer in Kombination mit Wahlen praktiziert, um Kompetenz zu garantieren“. Schließlich stellt er fest: „Staaten, die das Losverfahren anwandten, erlebten häufig Jahrhunderte der politischen Stabilität, trotz großer interner Unterschiede zwischen rivalisierenden Gruppen.“ (S 83) Sich auf Montesquieu und Rousseau beziehend meint Van Reybrouck: „Die zwei wichtigsten Bücher über politische Philosophie aus dem achtzehnten Jahrhundert stimmen […] darin überein, dass das Losverfahren demokratischer sei als Wahlen und dass eine Kombination beider Methoden für eine Gesellschaft von Vorteil sei. Die aleatorischen und elektoralen Verfahren könnten einander stärken.“ (a. a. O., S 85; vgl. Hubertus Buchstein) Diese Kombination bezeichnet Van Reybrouck als „birepräsentatives Modell“ oder „birepräsentatives System“.
Übertragen auf Österreich hieße das: die Wahl von Abgeordneten in den Nationalrat erfolgt wie bisher, die Entsendung in den Bundesrat als zweite Kammer des Parlaments jedoch erfolgt nicht mehr per indirekte Wahl in den Landtagen, sondern per Los.
„Um Zukunftsinteressen institutionell zu verankern, empfiehlt der WBGU zu erproben, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren um eine deliberative ‚Zukunftskammer‘ zu erweitern: Um interessens- und parteipolitische Einmischung zu vermeiden, könnte die Zusammensetzung dieser Kammer beispielsweise durch Losverfahren ermittelt werden.“ (S 10 f)
Damit sind wir an einem Punkt, an dem wir aufgerufen sind zu handeln. Unser politisches Engagement ist gefragt. Das gilt übrigens auch für die katholische Kirche und ihre Gläubigen. Denn anlässlich der „Ansprache von Papst Franziskus an die Schüler der von Jesuiten geführten Schulen in Italien und Albanien“ antwortete dieser auf eine Frage des Spanischlehrers Jesús Maria Martínez: „Wir müssen uns in die Politik einmischen, denn die Politik ist eine der höchsten Formen der Nächstenliebe, denn sie sucht das Gemeinwohl. Und die Laien müssen sich in der Politik einsetzen.“ Wir sind somit gefordert, uns für eine krisenresistentere Zukunft in einer resilienten Demokratie zu engagieren. Meine bisherigen Ausführungen mögen dabei unterstützend wirken.
Abschließend habe ich nur noch folgende Hinweise:
Sofern die im Nationalrat, der Kammer mit gewählten Abgeordneten, getroffenen Entscheidungen nicht ausreichend partizipativ zustande gekommen sind, gilt das Wort: „Macht braucht Kontrolle“. In einem Artikel aus dem Jahr 2003 zur Reform des Bundesrates in Deutschland heißt es dazu:
„In vordemokratischen Zeiten wurde die Fähigkeit der Gemeinwohlsicherung sozial hervorgehobenen Persönlichkeiten zugeschrieben. Mit dem britischen Oberhaus hat sich bis heute eine solchermaßen geprägte Institution erhalten. Die Form der Bestellung, die sich mit der Idee der Gemeinwohlkorrektur von Parlamentsentscheidungen verbindet, ist diejenige der vererbten Mitgliedschaft in der Zweiten Kammer oder moderner: der Ernennung.“ In den beiden Jahrzehnten seither hat sich viel getan. Es wurden nicht nur Bücher und zahlreiche Artikel über die Verwendung von Losverfahren als Ersatz für die erwähnte „Ernennung“ geschrieben, es wurden mittlerweile auch unterschiedliche Bürgerbeteiligungsmodelle in verschiedenen Ländern erfolgreich in bestehende Entscheidungsstrukturen implementiert.
Weil EuTopia, das Paradies auf Erden, nicht vom Himmel fällt, liegt Krisenbewältigung weiterhin und weitestgehend in unseren Händen. Naturbedingte Krisen, beispielsweise aufgrund von Erdbeben, sind hier keine Ausnahme, denn durch erdbebensicheres Bauen kann viel Leid vermieden werden. Wer sich nicht um entsprechenden Erkenntnisgewinn bemüht, um ihn dann in steigende Lebensqualität zu transformieren anstelle von Wohlstandsvermehrung um jeden Preis, macht sich mitverantwortlich für vermeidbare Folgen. Um die zu bewältigenden Aufgaben gemeinsam besser lösen zu können, bedarf es einer stärkeren Demokratie als bisher. Neben der Wahrung von Bundesländerinteressen braucht es zur Abwehr von Spaltungstendenzen in einer immer differenzierteren Gesellschaft in gleichem Ausmaß eine Institution zur Durchsetzung nichtterritorialer Gemeinwohlinteressen. Wer sich dafür begeistern kann und engagieren will ist herzlich eingeladen zur Gründung eines interdisziplinären Arbeitskreises Demokratie. GlückAuf!
Abseits einer liberalen Demokratie lebt es sich weniger frei. Jede und jeder ist davon betroffen. Dies wird von Regierenden zum Teil erkannt, doch in vielen Ländern wird darauf – sofern überhaupt – nur halbherzig reagiert. Wer will schon ohne entsprechenden politischen Druck (von der Straße) etwas von seiner Macht abgeben? So werden „Mitbestimmung, Teilhabe und Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung“ im deutschen Entwurf für ein Demokratiefördergesetz (S 18) zum Idealfall einer Kultur erklärt. Institutionelle Vorkehrungen, die eine über die Bundesländer hinausreichende Mitbestimmung durch die Vielen (zB via Gemeinwohlkontrolle) auch ermöglichen, sind keine vorgesehen. Annäherungen an diesen Idealfall gibt es aber mittlerweile in einigen Ländern Europas. Um dies auch anderswo erreichen zu können und um die zivilgesellschaftlichen Bemühungen zu verstärken, bieten Demokratie-Festspiele eine ebenso unterhaltsame wie kulturell nachhaltige Möglichkeit. Karl R. Popper:
Wir dürfen nicht mehr andere Menschen tadeln, wir dürfen auch nicht die dunklen ökonomischen Dämonen hinter der Szene anklagen. Denn in einer Demokratie besitzen wir den Schlüssel zur Kontrolle der Dämonen. Wir können sie zähmen. Es ist wichtig, daß wir diese Einsicht gewinnen und die Schlüssel gebrauchen; wir müssen Institutionen konstruieren, die es uns erlauben, die ökonomische Gewalt auf demokratische Weise zu kontrollieren und die uns Schutz vor der ökonomischen Ausbeutung gewähren.
Karl R. Popper, in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2; geschrieben während des Zweiten Weltkriegs im Exil in Christchurch, Neuseeland
Unterstützt werden diese Überlegungen durch den im Jahr 2022 veröffentlichten UNRISD Flagship-Bericht „Krisen der Ungleichheit„. Darin lesen wir auf S 26:
Die Schlüsselfrage ist nun, wie wir die politische Unterstützung und die finanziellen Mittel für die Umsetzung dieser Vorschläge in die Praxis erreichen können. Die Bildung von Allianzen ist von entscheidender Bedeutung, um die Macht der Vielen wirksam zu nutzen, um den Einfluss der Wenigen zu zügeln und die bestehenden Machtstrukturen neu auszutarieren. […] UNRISD-Forschungen haben gezeigt, dass eine Kombination aus fortschrittlicher Führung, die vom Gemeinwohl und dem öffentlichen Interesse inspiriert ist, und Druck von unten durch protestierende Bürgerinnen und Bürger, fortschrittliche soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen, unterstützt von multilateralen Organisationen und Rahmenwerken, einen großen Beitrag zu nachhaltigeren und inklusiveren Entwicklungsansätzen leisten kann.
Vermutlich braucht’s noch mehr als bisher die Aktivierung einer Protestkultur mit ausreichend Sexappeal als die bessere Alternative zu Cocooning-Angeboten. Im Sinne einer Weiterentwicklung der Demokratie könnte ihr Ziel die institutionalisierte Gemeinwohlkontrolle sein, zB in Form der bereits ausführlich beschriebenen Zukunftskammer.
Daher zum Schluss nochmals der Hinweis auf diesen Gedanken von Tamara Ehs:
„Im Grunde ist es auch egal, wo wir mit der Demokratisierung beginnen; wichtig ist nur anzufangen.“
*| Interessierte informieren sich bei Bedarf zunächst via allianz.bosolei.com und melden sich danach gegebenenfalls bei Arno Niesner via Kontaktformular oder per Anruf unter +43 699 105 90 966.
*| vgl. Armin Schäfer/Michael Zürn: „Die demokratische Entfremdung und der Aufstieg der autoritären Populisten ist somit das Resultat einer historischen Sequenz, die durch den Aufstieg der Volksparteien ausgelöst wurde.“ (Die demokratische Regression, 2021, S 118)
Nach ihrem erfolgreichsten Jahrhundert in ihrer zweieinhalb Jahrtausende währenden Geschichte zeigt die Demokratie Ermüdungserscheinungen. Oliver Marchart zufolge ist sie nicht nur „strukturell prekär“, sondern die „Prekarisierung des Sozialen“ stellt noch zusätzlich eine „Gefahr für die Demokratie“ selbst dar. Vergleichbar Herfried Münkler über „die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg und die […] Empörung einer in prekäre Beschäftigungsverhältnisse abgesunkenen Arbeiterschaft […]: In diesen Bevölkerungsgruppen findet eine liberale, weltoffene Politik keine Resonanz mehr.“ (S 97) Gleichzeitig entstehen zahlreiche Zellen der Erneuerung. Sie tragen unterschiedliche Namen wie Olympiaden der Demokratie, Bürgerbeteiligungssatzung, Citizens‘ Assemblies, Wisdom Councils, Ständiger Bürgerrat für Paris, dem ersten permanenten kommunalen Bürgerrat Deutschlands in Aachen oder Bürgerdialog in Ostbelgien.
Partizipation ist mittlerweile nicht nur zum Schlagwort avanciert, sondern sie findet auch Einzug in viele Lebens- & Arbeitsbereiche, zB in Form der „partizipatorischen Demokratie“ in den politischen Alltag. Allerdings gibt es zu deren Verbreitung Hürden zu überwinden. Katrin Praprotnik: „Generell muss man die Bürgerinnen und Bürger mehr einbinden. Und dann auf die Vorschläge angemessen reagieren. Es reicht nicht, zu fragen und dann zu ignorieren.“ (Kleine Zeitung, S 19)
„Die aktive Zivilgesellschaft auf den Straßen begehrt zwar auf, sie ist aber meist nicht in der Lage, die staatlichen Gewaltverhältnisse nachhaltig zu ändern.“ Sieglinde Rosenberger, 2023
Gemeinwohlkontrolle mittels Checks von Gesetzen & Verordnungen
So meinte auch Caritas-Präsident Dr. Michael Landau im Jänner 2020: „Wir würden uns beispielsweise wünschen, dass künftige Gesetze und Verordnungen nicht nur einem Klima-Check1, sondern auch einem Armuts-Check unterzogen werden, also jeweils überprüft wird, dass sie Kinder- und Altersarmut sinken und nicht steigen lassen.“ (Kurier, 2020-01-12)
Ähnliche Ambitionen hegt Andreas Kollross in seiner Funktion als Bürgermeister der niederösterreichischen Gemeinde Trumau: „Wer auf Bundesebene Aufgaben und Auswirkungen auf die Gemeindeebene beschließt, hat auch für die finanzielle Deckung zu sorgen. Ein verpflichtender Gemeindecheck diesbezüglich würde da schon genügen.“ Diese Aufgabe verortet er in einem mit „mehr Kompetenzen“ ausgestatteten Bundesrat. Auch eine Zukunftskammer des WBGU oder ein Bundes- & Gemeinwohlrat könnten diesen Wunsch erfüllen. Ebenso ließe sich nach Hubertus Buchstein das „Demokratiedefizit der Europäischen Union“ durch die „Einführung einer gelosten Zweiten Kammer des Europäischen Parlaments […] reduzieren, denn ein solches ‚House of Lots’ (Haus der Ausgelosten) trüge gleichzeitig zur Stärkung der Beteiligung der Bürger als auch zur sachlichen Qualität von politischen Entscheidungen auf Ebene der EU bei.“
Georg Mair: „Macht braucht Kontrolle. Ohne Opposition keine Demokratie.“ Eine Kontrolle durch die Vielen allerdings, also durch den Souverän im Sinne von J. J. Rousseau, gibt es nur ohne den Klubzwang in den von Partikularinteressen (Lobbies) – inkl. Bildungseliten (siehe Michael J. Sandel) – beeinflussten politischen Parteien. Um ihre volle ausgleichende Wirkung – mitunter auch gegen eine „Politik der Gesprächsverweigerung“ – entfalten zu können, benötigt sie eine permanent eingerichtete Institution mit Abgeordneten, die „großzügig Zeit und Energie an die Gesellschaft“ verschenken.
Um Lehren aus der Krise zu ziehen, muss man bereits den Regelzustand verändern. Hierzu könnte man […] auch ohne Gesetzesänderung die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer interpretieren.
Tragisch nur, dass die Solidarität unter den Menschen bereits lange vor dieser „kooperativen Lebensweise“ zu bröckeln beginnt (sofern sie zuvor überhaupt vorhanden war). Während „progressive gesellschaftliche Transformation“ nur gelingen kann, wenn alle mit mitgenommen werden, besteht die Schwierigkeit nun darin, die dafür erforderliche Solidarität einer „aktiven Zivilgesellschaft“ so lange zu organisieren, bis sie erfolgreich wird.
Im Anschluss an diesen Text aus dem ökumenischen Sozialwort 2003 ist auf Seite 51 eine Einladung formuliert „an einzelne, an kirchliche und gesellschaftliche Initiativen und Einrichtungen […], sich die Anliegen des Sozialworts zu eigen zu machen und gemeinsam weiterzuführen.“
Selbst wenn sie über die Welt der Kommunen hinausreichen, gehen die meisten Initiativen zur Förderung und Stärkung der Demokratie allerdings „nur“ (gewiss: Demokratie braucht „zunächst informierte Bürger„) den langen Bildungsweg der Aufklärung – vorzugsweise mit Jugendlichen. Und auch die programmatischen unter ihnen gehen mit ihren Forderungen für mehr direkte Demokratie mittels „Volksbegehren und Volksentscheiden“ nicht weit genug. Mitunter führt Bildung sogar in eine demokratiepolitische Sackgasse: vgl. Michael J. Sandel. So bliebe Gemeinwohlkorrektur hinter ihren Möglichkeiten zurück, sollte sie nur individuell-präventiven Ansprüchen genügen. Deshalb ist sie über all die sonstigen Anstrengungen hinaus auch institutionell (> Kelsen/Popper) zu denken, zu planen und zu realisieren. Selbst eine drohende „Vetokratie“, wie sie Francis Fukuyama bereits in den USA ortete, lässt diesen weiterhin verkünden: „Aber liberale Beschränkungen der Macht sollten als eine Art Versicherungspolice gesehen werden“ (S 106), denn „die Machtausübung überhaupt nicht zu beschränken, ist und bleibt ein gefährliches Versäumnis, weil wir die Identität zukünftiger Machtinhaber nicht im Voraus kennen können.“ (S 107)
Jede grundsätzliche Zunahme der Organisationshöhe erfordert zusätzliche Kontrollen zur Verringerung der Fehlerrate.
Gemeinwohlcontrolling hat zwecks Vermeidung von volkswirtschaftlichen Nachteilen, Umweltschäden und/oder menschlichem Leid dort anzusetzen, wo Gesetze und Verordnungen verabschiedet werden. Dazu braucht es einen (durchaus föderal organisierten) institutionalisierten Pluralismus, der beispielsweise mithilfe eines interdisziplinären „Arbeitskreises Demokratie“2 seiner politischen Realisierung zugeführt wird.
Diese Lehren zieht David Van Reybrouck ua aus seinem „flüchtige[n] Überblick über die Geschichte“: „Der Gebrauch des Losverfahrens fiel häufig mit dem Höhepunkt von Wohlstand, Prosperität und Kultur zusammen“, das Losverfahren sorgte für „weniger Konflikte und größere Beteiligung der Bürger“, es wurde „immer in Kombination mit Wahlen praktiziert, um Kompetenz zu garantieren“3 und „Staaten, die das Losverfahren anwandten, erlebten häufig Jahrhunderte der politischen Stabilität, trotz großer interner Unterschiede zwischen rivalisierenden Gruppen.“ (S 82 f)
„EsbrauchteineErmutigung aller Wählerinnen und Wähler, gerade auch derer in prekären Lebenslagen, mit ihrer Stimme ihre politischen Prioritäten zum Ausdruck zu bringen und ‚ihren‘ Kandidat/innen den Einzug in die Parlamente zu ermöglichen, so dass diese Responsivität und Repräsentativität verlässlich gewährleisten.“
Per Klick auf das folgende Bild zur Zwischenbemerkung mit Argumenten für die gemeinwohlfördernde Wirkung von Partizipation:
Es werden aber, und hier folge ich dem belgischen Historiker David van Reybrouck, diese Anstrengungen im 21. Jahrhundert nicht ausreichen, um die repräsentative Demokratie zukunftsfähig zu erhalten. Nicht erst die neuen Einflussmöglichkeiten durch ’soziale Medien‘ lassen Wahlkämpfe zu einer Reality Show mutieren, die Demokratie als Spektakel (auf privaten und öffentlichen Fernsehbühnen) inszeniert und Teilhabe des Volkssouveräns oft nur noch simuliert. In den USA haben wir bei den Präsidentschaftswahlen 2016 erschreckt beobachten können, was alles (technisch) möglich ist und was alles (politisch) eingesetzt wird, um mit zielgruppengerecht aufbereiteten reißerischen Botschaften, deren Wahrheitsgehalt nicht entscheidend ist, (via Facebook, Twitter und Instagram…) Emotionen zu schüren und Wahlentscheidungen in Echtzeit zu beeinflussen.“
Ergänzende Hinweise:Die im Beitragsbild erwähnte „Resiliente Demokratie“ bezieht sich auf den gleichnamigen Workshop anlässlich der Tagung22 des Armutsnetzwerks Steiermark. Hinweis von Bischofsvikar Dr. Heinrich Schnuderl auf die Worte von Papst Franziskus: „Wir müssen uns in die Politik einmischen, denn die Politik ist eine der höchsten Formen der Nächstenliebe, denn sie sucht das Gemeinwohl. Und die Laien müssen sich in der Politik einsetzen.“ In „Kirche muss Politik“ gibt es weitere Informationen dazu.
Sollen Demokratie-Festivals zu politischen Erfolgen führen, dann haben diese neben aufklärerischen gleichzeitig auch aktionistische Elemente zu enthalten. Im Bereich der Bildung sieht dies beim ersten österreichweiten Aktionstag in Graz so aus:
Diese Diashow benötigt JavaScript.
Anmerkungen
1| Im Koalitionspakt, aber nicht umgesetzt: Wo Türkis-Grün beim Klima säumig ist: „Nicht nur das Klimaschutzgesetz, sondern sämtliche Gesetze und Verordnungen sollten in Sachen Klimaschutz auf Herz und Nieren geprüft werden. Auch das nahm sich die Regierung vor vier Jahren vor. Aus dem sogenannten Klimacheck wurde jedoch nichts, der Punkt bleibt offen. Zwar nicht im Regierungsprogramm, aber in einem parlamentarischen Antrag einigten sich ÖVP und Grüne auf die Einrichtung eines wissenschaftlichen Klimabeirats, der die Einhaltung des noch verfügbaren Treibhausgasbudgets prüfen sollte. Auch von diesem fehlt bislang jede Spur. ‚Sowohl der Klimacheck als auch der wissenschaftliche Beirat sind Bestandteile des Entwurfs des Klimaschutzgesetzes, der dem Koalitionspartner seit längerem vorliegt‘, heißt es dazu aus dem Klimaministerium.“ (Der Standard, 2024-01-07)
2| Zum Begriff „interdisziplinärer Arbeitskreis Demokratie“ am 23. 11. 2022 als älteste und einzige Eintragung im Internet gefunden: „Runder Tisch und direkte Demokratie“ – mit inhaltlichen Bezügen bis ins Jahr 1997 zurück. Die Interdisziplinarität stellt dabei eine wesentliche Voraussetzung dar, wenn es darum geht, gemeinsam erfolgreich zu sein. 3| Sich auf Montesquieu und Rousseau beziehend schlussfolgert Van Reybrouck: „Die zwei wichtigsten Bücher über politische Philosophie aus dem achtzehnten Jahrhundert stimmen […] darin überein, dass das Losverfahren demokratischer sei als Wahlen und dass eine Kombination beider Methoden für eine Gesellschaft von Vorteil sei. Die aleatorischen und elektoralen Verfahren könnten einander stärken.“ (a. a. O., S 85; vgl. Hubertus Buchstein)
Inhalte dieser Webseite vom 2023-02-26 als pdf-Datei
Anhang
Bereits im Jahr 2005 stellte Armin Nassehi fest: „Im 20. Jahrhundert haben wir gesehen, dass alle Diktaturen ökonomisch gescheitert sind.“ Deshalb sollten wir bei unseren Bestrebungen diesen anderen Gedanken von ihm immer wieder erneut in Erinnerung rufen: „Demokratie heißt Partizipation und Partizipation braucht Zeit. Überzeugungszeit.“
In dieser Hinsicht ist es dann nicht verwunderlich, wenn sich die AK Wien nach neun Jahren „Pass Egal Wahl“ erst im Jahr 2022 erstmals daran beteiligte.
____________
„Außerdem korrespondieren sie mit den in der Wissenschaft (zuletzt Gastil/Wright 2018) schon länger getätigten Überlegungen, die zweite Kammer der Landes- und/oder Regionalparlamente durch geloste BürgerInnenversammlungen zu ersetzen beziehungsweise Einkammernsysteme um eine solche zweite Kammer zu ergänzen. Für Österreich würde dies auf Nationalstaatsebene bedeuten, den Bundesrat als Bürgerrat neu zu gründen.“
für einen „Arbeitskreis Demokratie“ klarer sichtbar:
A) Bewusstseinsbildende Maßnahmen und Arbeit an den Strukturen
Partizipative Konzepte werden üblicherweise so verstanden, dass die vielen Stimmen im Vorfeld politischer Entscheidungen gehört werden. Im Vergleich zu dem was idealtypisch erstrebenswert oder zumindest möglich ist, gibt es für die tägliche Praxis noch viel Luft nach oben. Die folgende Auswahl an mittlerweile zahlreichen Beispielen zeigt den vorhandenen Willen zur Umsetzung:
B) Gemeinwohlkorrektur von Parlamentsentscheidungen
Sofern die in einer Kammer mit gewählten Abgeordneten getroffenen Entscheidungen nicht ausreichend partizipativ zustande gekommen sind, gilt das Wort: „Macht braucht Kontrolle“. In einem Artikel aus dem Jahr 2003 zur Reform des Bundesrates in Deutschland heißt es dazu:
„In vordemokratischen Zeiten wurde die Fähigkeit der Gemeinwohlsicherung sozial hervorgehobenen Persönlichkeiten zugeschrieben. Mit dem britischen Oberhaus hat sich bis heute eine solchermaßen geprägte Institution erhalten. Die Form der Bestellung, die sich mit der Idee der Gemeinwohlkorrektur von Parlamentsentscheidungen verbindet, ist diejenige der vererbten Mitgliedschaft in der Zweiten Kammer oder moderner: der Ernennung.“
In Anlehnung an Wright(2017)sind insgesamtsiebenElementefüreinegelingende PartizipationinnerhalbdemokratischerVerfahrenzentral.Partizipationsollte,lautWright,nacheinemBottom–Up–Prinziperfolgen. Die Partizipierenden sollen nicht nurdie Möglichkeit bekommen, ihre Ansichten zuöffentlichen Angelegenheiten zu äußern, siesollenzudemauchdirektindie Entscheidungsfindungmiteingebundenwerden (1). […] Die dezentralen und deliberativen Elemente der Entscheidungsfindung gilt es dabei durch die höheren staatlichen Instanzen fest und dauerhaft zu institutionalisieren (6).
„Diese neuen Instrumente sind wertvoll, zumal die organisierte Zivilgesellschaft heute weniger zu sagen hat. Aber sie greifen noch immer viel zu kurz. Die Bürgerinitiative bringt die Nöte des Volkes an die Tür des Gesetzgebers, als handelte es sich um Milchflaschen. Nicht weiter. Bei einem Referendum darf das Volk einen fertigen Gesetzentwurf aus dem Fenster entgegennehmen. Nicht eher. Erst dann darf es sich mit Schaum vor dem Mund darauf stürzen. Gespräche mit dem Ombudsmann finden wiederum im Garten statt: weit vom legislativen Prozess entfernt. Nicht näher.“
David Van Reybrouck, a. a. O., S 169 f
Wenn auch aus anderen Überlegungen heraus, aber immerhin gibt es hinsichtlich der Einsetzung einer Parlamentsreform-Kommission eine auf Rita Süssmuth verweisende erste Anregung von Helmut Brandstätter nach dem Downgrading Österreichs von einer liberalen zur Wahldemokratie. Wenngleich die empirische Haltbarkeit dieser Herabstufung berechtigterweise zu hinterfragen ist, dennoch trifft sie auf umfangreich formulierte Bedürfnisse aus Sicht der Opposition: Jörg Leichtfried mahnt deshalb auch die „Stärkung des Parlaments“ ein. Die Einführung eines Mehrheitswahlrechts würde dabei auch keine Verbesserung erwarten lassen. Dieses ist vielmehr auch dann abzulehnen, wenn der „Nachteil für kleinere Parteien“ durch begleitende Maßnahmen wie zB ein „sorgfältiger Umgang mit Volksbegehren“ relativiert werden soll. Die Idee der Aufwertung des Bundesrates (siehe „Bundesrat als Volkskammer„) und der Landtage durch zusätzliche, „Staats–undLandesgrenzenüberschreitendeAufgabenstellungen“ behalten wir allerdings weiterhin im Auge, denn die zweite Kammer des Parlaments könnte doch tatsächlich durch „demokratische Losverfahren„ im Sinne eines institutionalisierten Pluralismus gestärkt werden.
Schließlich beginnt auch Herfried Münkler im Zuge seiner Überlegungen über die Zukunft der Demokratie darüber „nachzudenken, ob und wie veränderte Formen des bürgerschaftlichen Engagements eine nachhaltige Umkehr der jüngeren Entwicklung des Wahlverfahrens durch eine aleatorische Aufgabenzuweisung – also ein Einsatz, der von Los und Würfel bestimmt wird – die mit der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger in radikaler Weise ernst macht, bis hin zu organisatorisch offenen Formen der Bürgerbeteiligung, bei denen auch jene in Entscheidungssituationen versetzt werden, die sich sonst nie politisch engagieren würden.“ (S 167) Sein letzter Satz im Buch ist ein unmissverständlicher Aufruf, in diese Richtung zu handeln: „Eine Demokratie ohne Engagement der Bürgerinnen und Bürger ist nicht überlebensfähig – wenn sie eine Zukunft haben soll, müssen vor allem in diesem Bereich neue Ansätze entwickelt werden.“ (S 176)
Der Weg zu mehr direktdemokratischer Bürgerbeteiligung führt allerdings nicht weit genug (vgl. Van Reybrouck w. o.), denn er endet noch vor einer partizipativen Mitentscheidung (s. a. András Jakab). Diese wiederum ist als verfassungswidrige „Volksgesetzgebung“ (S 19) zu verstehen und als solche dürfen ihre Arbeitsergebnisse zu „keinerlei Verpflichtung zur direkten Umsetzung“ in „repräsentativ-demokratischen“ Gremien führen. Währenddessen trifft diese Verfassung auf parteipolitische Interessen, die trotz vorheriger Zustimmung „im Rahmen eines Entschließungsantrags für die Umsetzung des Gremiums“ Klimarat zu dieser Wortmeldung des ÖVP-Umwelt- und Klimasprechers Johannes Schmuckenschlager führten: „Ich kritisiere nicht die Bürger, die sich da engagieren, aber ich kritisiere das Gremium als Institution.“ (in: Der Standard, 11. Juni 2022)
Die Arbeit von James Fishkin führte einen wahren deliberative turn in den politischen Wissenschaften herbei. Dass deliberative Demokratie dem todkranken Leib der elektoral-repräsentativen Demokratie einen kräftigen Impuls geben kann, wird von keinem seriösen Wissenschaftler mehr bezweifelt. Bürgerbeteiligung meint nicht nur demonstrieren, streiken, Petitionen unterschreiben zu dürfen und andere Formen erlaubter Mobilisierung im öffentlichen Raum, sondern muss auch institutionell verankert werden. […] Jedes Mal führte die Beratung zu einer neuen Gesetzgebung.
Mehr Demokratie auf nationaler Ebene via partizipative Bestellung von Abgeordneten für den Bundesrat
Eine Änderung der Geschäftsordnung des Bundesrates mit Blick auf eine besondere Anwendung des Art. 35 (2) könnte ausreichen, um sowohl eine kommunalpolitische als auch zivilgesellschaftliche Aufwertung des Bundesrates zu erzielen, denn gemäß dieser Bestimmung müssen Mitglieder des Bundesrates nicht dem Landtag angehören. Die Geschäftsordnung des Bundesrates könnte somit vorsehen, dass dessen Mitglieder beispielsweise auch aus einem nationalen Klimarat, aus Gemeinderäten, regionalen Sorgeräten oder (ebenfalls noch zu gründenden) Zukunftsräten entsendet werden. Gelten soll dies jedenfalls für „alle, die hier leben„. Inwieweit die über 100 Jahre geübte Praxis der Bestellung von Abgeordneten für den Bundesrat selbst den geforderten „repräsentativ-demokratischen Grundsätzen“ (siehe oben: „verfassungswidrige Volksgesetzgebung„) entspricht ist gesondert zu klären (vgl. Roland Sturm). In diesem Zusammenhang wäre es aber auch interessant zu wissen, ob einzelne Landtage bereits vor einer allfälligen Änderung der Geschäftsordnung des Bundesrates zu einer zeitgemäßeren Form der Bestellung von Abgeordneten für den Bundesrat bereit sind.
Um Zukunftsinteressen institutionell zu verankern, empfiehlt der WBGU zu erproben, das parlamentarischeGesetzgebungsverfahrenumeinedeliberative „Zukunftskammer“ zu erweitern. Um interessens- und parteipolitische Einmischung zu vermeiden, könnte die Zusammensetzung dieser Kammer beispielsweise durch Losverfahren ermittelt werden.
Desgleichen Jean Jacques Rousseau: „Das englische Volk wähnt frei zu sein; es täuscht sich außerordentlich; nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; haben diese stattgefunden, dann lebt es wieder in Knechtschaft, ist es nichts.“
Unterwegs zu mehr politischer Teilhabe
Ob es für diese Anpassungsleistung wieder ein „Lichtermeer“ braucht als Gründungsimpuls oder doch „nur“ so etwas wie eine „Pass Egal Wahl“ in der Form eines Demokratie-Festivals als bewusstseinsbildende und transitionsbeschleunigende Institution? In jedem Fall braucht es mehrPartizipation als ergänzendes Korrektiv zur Parteiendemokratie. Denn was hat sich in 30 Jahren SOS Mitmensch geändert? Bereits zur Zeit des Lichtermeers ließ sich die „‚Große Koalition‘ […] von Jörg Haider vor sich hertreiben, und nicht wenige in ihren Reihen fanden selbst Gefallen an den leichten Punkten, die man mit diesem Populismus machen kann“, so der ehemalige Ko-Initiator Helmut Schüller in seinem Resümee 30 Jahre danach. Mittlerweile hat sich dieser Gefallen am Populismus weiter ausgebreitet und nimmt ganze Regierungen in Beschlag. Helmut Schüller im SN-Interview zum Thema Solidarität: „Es fehlt weniger an der Bereitschaft der Menschen, es mangelt viel mehr an der Unterstützung durch die Rahmenbedingungen in der Politik.“ Ohne entsprechende (birepräsentative) Mitregierung durch die Vielen werden sich auch deren angestrebten Ziele – siehe beispielsweise Klimarat – nicht oder nur in Einzelfällen erreichen lassen. Helmut Schüller:
„Denn so, wie es aussieht, ist es noch einigermaßen weit zu einer Politik für Geflüchtete, die ihr Maß an den Menschenrechten nimmt.“
Die resiliente Demokratie mag solidarischer sein, doch wenn die 30 Jahre währende Arbeit einer seit Beginn ihres Bestehens von zahlreichen Testimonials unterstützten Organisation kaum Fortschritte erzielt, wie schwierig ist es erst, wenn am „Herzen der Demokratie“ (V. Reybrouck, a. a. O., S 121) operiert wird, um dieses Ziel zu erreichen? Van Reybrouck weiter: „Das war etwas anderes, als die Bürger über Windräder oder Maiskolben mitreden zu lassen.“ Und so kommt auch er vor seiner (lesenswerten!) Analyse des „lehrreichen“ Scheiterns einiger Projekte zu der Erkenntnis: „Demokratische Erneuerung ist ein langsamer Prozess.“ (S 127) Bevor er dann (endlich) doch noch über ein vorbildhaft-positives Beispiel aus Island (ab S 130, hier nachzulesen ab S 104) berichtet, fragt er sich wie viele andere auch: „Als heftigste Gegner erweisen sich immer wieder politische Parteien und kommerzielle Medien. Das Phänomen ist weit verbreitet und faszinierend. Woher diese Bissigkeit?“ (S 129)
Fazit
Schließlich lautet sein Plädoyer: „Wir müssen heute hin zu einembirepräsentativen Modell, einer Volksvertretung, die sowohl durch Abstimmung als auch durch Auslosung zustande kommt.BeidehabenschließlichihreQualitäten:dieSachkompetenzvon Berufspolitikern* und die Freiheit von Bürgern, die nicht wiedergewählt zu werden brauchen. Das elektorale und das aleatorische Modell gehen also Hand in Hand.“ (S 161)
Am Ende seiner Beschreibung des „sortition based government system“ von Terrill Bouricius weist Van Reybrouck darauf hin, dass die Zeit „allmählich reif“ ist für die Phase 4: „um eine gewählte Kammer in einem Zweikammersystem zu ersetzen“. (S 154) ______ *| Siehe Heinz Fischer im ZiB2-Interview über die Vorteile juristischer Qualifikation von Abgeordneten als verteidigende Antwort auf die Frage nach der Repräsentativität des Parlaments als Volksvertretungsorgan, denn Armin Wolf entdeckte bei seinen Recherchen nur noch einen Arbeiter. Zuletzt wurde auch noch über die Sinnhaftigkeit eines (kaum wahrgenommenen) Bundesrates mit nur wenigen Kompetenzen diskutiert.
„Die Gesellschaft ist soweit! Wir werden in den tagtäglichen Themen im Fernsehen damit konfrontiert. Wer nicht soweit ist, ist die politische Klasse. Wir haben in der derzeitigen Demokratie eine Repräsentation von Mächten und Gruppen, die von Partikularinteressen bestimmt ist, daher kommen sie nie zu gemeinsamen, schon gar nicht zu globalen Lösungen. […]
Es bilden sich bereits überparteiliche Bewegungen, da wird’s eine Revolution geben. Denn die politische Kontrolle funktioniert nicht. Es muss Formen der unmittelbaren Demokratie geben, der oberste Souverän, das Volk, muss die Kontrolle haben.“
Am Schluss seiner Ausführungen hatte der Referent Dr. Manfred Hellrigl als damaliger Leiter des Zukunftsbüros beim Amt der Vorarlberger Landesregierung (seit 2020 „Büro für Freiwilliges Engagement und Beteiligung„) darauf hingewiesen, „dass es einen Flaschenhals gibt bei den Bürgerräten, einen Engpass, eine kritische Stelle. Die kritische Stelle ist nicht, wie wir ursprünglich gedacht haben, die Bürgerin oder der Bürger – dass diese also vielleicht nicht reif oder nicht fähig sind, diese Methoden zu benutzen –, sondern unsere Erfahrung hat gezeigt, dass es eigentlich die Entscheidungsträger sind. Es ist vor allem die Politik gefordert, ein bisschen loszulassen und Freiräume zu schaffen, wo die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, sich am politischen Spiel, am politischen System zu beteiligen und sich aktiv einzubringen. Da muss Vertrauen gebildet werden. Vertrauen entsteht durch Erfahrung, und ich bin sehr zuversichtlich, dass es uns mit einer wachsenden Zahl von konkreten Beispielen von Bürgerräten gelingen kann, dieses Vertrauen aufzubauen. – Vielen Dank. (Beifall.)“
Vom damals, von Edgar Mayer im April 2013 angekündigten Versuch, die in Vorarlberg und auch anderswo gemachten Erfahrungen mit Bürgerräten über den Arlberg zu transportieren, wurde auch im Mai 2022 nichts bemerkt, als in Bregenz eine 20-köpfige Delegation von „Bundesrat im Bundesland“ zu Gast war.
Ebenso wie Unrecht benötigt auch eine „Demokratie als Dystopie“ Widerstand! Um ein weiteres „Auseinanderdriften der Gesellschaft“ (S 12) zu vermeiden braucht es „mehr und neue Formen der Partizipation“ (S 13). Herkömmliche Bildung ist zu wenig, denn sie allein kann keine meritokratische Gesellschaft auf ihrem liberalen Weg zur Erbaristokratie vor dem Ende des Gemeinwohls bewahren (siehe Molander/Sandel).
In diesem Sinne ist vermutlich auch Uwe Mattheiß zu verstehen.
Und damit sind wir schließlich schon sehr nahe an den Überlegungen zur Etablierung von Demokratie-Festspielen an unterschiedlichen Orten.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.