Gedanken zur Tagung24

Am 17. Oktober 2024, dem Internationalen Tag für die Beseitigung der Armut, hat das Armutsnetzwerk Steiermark seine Tagung24 unter dem Motto „Wieviel Ungleichheit verträgt Demokratie?“ durchgeführt.

Wie bereits im Jahr 2019 wurde abermals das Graz Museum als Ort des Diskurses gewählt. Seit Anfang 2023 wird dieses Haus von Frau Mag.a Sibylle Dienesch geleitet und gemeinsam mit ihrem Team arbeitet sie an der „Vision eines demokratischen Museums„. Nicht verwunderlich also, dass sie in ihren Begrüßungsworten die Bedeutung von Vernetzungsarbeit hervorgehoben hat.

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Sibylle Dienesch und Moderator Wolfgang Schlag

Neben vielen weiteren Informationen über die Wirkung sozioökonomischer Faktoren auf das Wahlverhalten und die damit einhergehende Gefährdung der Demokratie erwähnt Dr.in Tamara Ehs in ihrem Vortrag mehrmals die „ungleiche Responsivität“ der Politik auf Anliegen der Bürger*innen.

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Was Lea Elsässer et al. bereits in ihrer Studie aus dem Jahr 2017 für Deutschland feststellten, gilt grundsätzlich auch für Österreich und die Schweiz: „Was Bürger_innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollten, hatte in den Jahren von 1998 bis 2015 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden.“ (S 177)

Ansatzpunkte für politische Akteure

Am Schluss ihres Vortrags lässt Mag.a Martina Zandonella gut erkennen, wo die Hebel zur Stärkung der Demokratie anzusetzen sind: bei der „Demokratie als Alltagserfahrung“ inkl. einer „wirksamen Mitbestimmung“ bis hin zu einer Korrektur der „Schieflagen des repräsentativen Systems“, die allein durch „mehr Beteiligungsangebote“ nicht zurechtgerückt werden können.

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In den anschließenden Workshops wurde zu verschiedenen Aspekten vertiefend darüber diskutiert. So wurde im WS „Demokratie und soziale Ungleichheit“ nochmals erwähnt, dass „Medien verschleiern“ und die Rechtslage in Österreich hinsichtlich des Erwerbs der Staatsbürgerschaft Einbürgerung bis in nachfolgende Zuwanderungsgenerationen erschwert. Es wurde aber auch darüber gesprochen, wie sehr selbst nach 5jähriger Existenzsicherung mittels „Housing First“-Maßnahmen das Interesse an Wahlen erlahmt ist. Hinzu kommt, dass „unser System sehr hochschwellig“ ist – Beispiel: „Ausflüge in Schulen kosten sehr viel“. Wenn „stille Schüler*innen über Missbrauch schweigen“, dann wird dies als ein Ausdruck dafür gesehen, dass „innerhalb des Systems“ Betroffene „mundtot gemacht werden“.

Als sehr positiv wurde konkrete „Motivierungsarbeit“ mit den Klient*innen dargestellt, die mitunter zu einem Wahlakt führt, wo dies zuvor nicht zu erwarten war. Auch das Reden über Demokratie ganz allgemein kann das politische Interesse insbesondere bei jungen Menschen wecken. Dennoch bleibt Bildungsarbeit über das sogenannte Bildungsbürgertum hinaus „massiv mühsam“.

Am Schluss wurde noch der Vorschlag eines verpflichtenden Fact-Checkings bei Livediskussionen gemacht. Dadurch sollte vermieden werden, dass Falschinformationen leichter verbreitet werden können und dem politischen Gegenüber Redezeit genommen wird, falls von dieser Seite eine Richtigstellung erfolgt.

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Die Teilnehmenden des Workshops „Demokratie und soziale Sicherheit“ erarbeiteten die Idee einer Sozialkammer, die dann als einzige schriftliche Darstellung im abschließenden Fishbowl präsentiert wurde.

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Eine letzte Wortmeldung im Fishbowl bezog sich dann nochmals auf die für eine Stärkung der Demokratie erforderliche Vernetzungsarbeit, mit dem Ziel, vergleichbare Forderungen wie jene der SOS Kinderdörfer nach Einrichtung eines Jugend-Checks für alle neuen Gesetze zu bündeln.

Gesucht: Maßnahmen für mehr Wohlbefinden durch mehr Demokratie

Unterstützung zur Überwindung von Prekarität ist gut, aber werden damit auch die strukturellen Formen der Gewalt und eine Wirtschaftsordnung, die Bevölkerungsgruppen einer nicht mehr lebbaren Prekarität aussetzt, in den Blick genommen und bekämpft?

Judith Butler, in: Die Macht der Gewaltlosigkeit, 2021, S 232

Obwohl Judith Butler die Gewaltlosigkeit präferiert, verwendet sie im erwähnten Zitat dennoch das Wort „bekämpft“. Offensichtlich ist es ihr ein besonderes Anliegen, dass Bevölkerungsgruppen nicht länger „einer nicht mehr lebbaren Prekarität“ ausgesetzt werden. Diese Sichtweise soll uns dazu motivieren, den Kampf gegen strukturelle Formen der Gewalt zu planen und zu führen. Auch wenn die Dreierkoalition in Österreich beabsichtigt, die Kinderarmut bis zum Jahr 2030 zu halbieren (S 105), sollen die bisherigen Überlegungen dazu einstweilen hier nachzulesen sein:

Aus der Volkshilfe-Broschüre Kindergrundsicherung: So schaffen wir Kinderarmut ab
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Gleichzeitig stellt sich heraus, dass wir mit gerechteren sozialen Lebensbedingungen für alle den materiellen Wohlstand im Land mehren können. Schließlich bringt beispielsweise bereits die Investition in die Abschaffung der Kinderarmut allen Menschen in Österreich einen wirtschaftlichen Bonus von über 10 Milliarden Euro jährlich (vgl. Housing-First). Ein Grund mehr, aktiv zu sein oder zu werden, weil damit – zB via Dankbarkeit – auch das Wohlbefinden gesteigert werden kann.

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Diese Fakten zeigen, dass die Parteiendemokratie nicht in der Lage ist, allein nur diesen einen Milliardenschatz zum Wohle der im Land lebenden Menschen zu heben. Ein paar Parteien mehr im Parlament würden das Problem allerdings ebenso wenig lösen wie Bildungsmaßnahmen. Damit werden wir die bestehenden Repräsentationslücken im Parlament nicht beseitigen, denn wie wir sehen, wählt selbst von den Studierenden nur ein Sechstel ihre Standesvertretung. Auch die politischen Schatten der Wahldemokratie Österreich bleiben uns weiter erhalten. In vielen anderen reichen – sogenannten „entwickelten“ – Ländern sieht die Situation nicht anders aus. Der Bedarf an einer institutionellen Weiterentwicklung der Demokratie ist daher nicht nur gegeben, ihre Förderung wird angesichts der durch Armut mitverursachten Gefährdungslage zu ihrer Überlebensfrage. Der deutsche Politikwissenschaftler und Princeton-Professor Jan-Werner Müller hält es für „unwahrscheinlich, dass man das, was manche für gute Gründe [für eine Denkzettel-Wahl] halten, ganz grundsätzlich ändern kann. Man kann jedoch die Anstrengungen unternehmen, die Institutionen und die Wahlmöglichkeiten zu ändern, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Und das heißt unter anderem: Die kritische Infrastruktur der Demokratie zu öffnen und umzugestalten. Dazu braucht es allerdings ein klares Verständnis der Prinzipien, die der Demokratie zugrunde liegen.“ (Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit, 2021, S 55)

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Erwachende Zivilgesellschaft

Mittlerweile bemühen sich neben staatlichen Stellen auch zahlreiche Engagierte darum, die Gefährdungen einer unter Druck geratenen  Demokratie abzuwenden; und sie stellen Fragen, die uns mitunter dazu veranlassen, sie zu beantworten. Die folgende entstammt dem Editorial von „Stimmen gegen Armut„, dem gleichnamigen Band der 12. Armutskonferenz im Jahr 2020: „Welche neuen Formen der Partizipation ermöglichen eine gleichberechtigte Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen?“

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Demokratie braucht Allianz(en) für ein partizipatives Parlament

Hinweis: am Ende dieses > Beitrags werden einige Beispiele genannt

Begründung:
Die bloße Vermehrung von Beteiligungsformaten ist nicht zielführend

Nun, allein auf mehr Partizipation durch Bürgerbeteiligung zu setzen, greift zu kurz: „Die neuen Partizipationsangebote verlangen den Bürger:innen wesentlich mehr ab als der im Vergleich niederschwellige Wahlakt.“ (Ehs/Zandonella, 2023) Dazu sind die meisten Bürger:innen nicht bereit, weshalb „die bloße Vermehrung von Beteiligungsformaten nicht zielführend ist“. Zur „Verbesserung der Demokratie“ braucht es daher neben aktivierenden Methoden wie zB Demokratiefestivals und verschiedenen anderen Leuchttürmen auch institutionelle Vorkehrungen als Wege zum repräsentativen Parlament.

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Der Sinn eines plebiszitären Gesetzgebungsrechts besteht ja nicht darin, dass das Volk anstelle des Parlaments regiert, entscheidend sind vielmehr die Vorabwirkungen, die von diesem Recht ausgehen. Wenn die Regierenden wissen, dass das Volk eine bestimmte Materie notfalls selber an sich ziehen kann, werden sie wahrscheinlich genau dies zu verhindern suchen. Die plebiszitären Elemente führen insoweit bereits durch ihre schiere Existenz, ohne dass man sie anwenden muss, zu einer stärkeren Interessenberücksichtigung und Kompromissfindung.

Frank Decker,
in: Enquete-Kommission „Stärkung der Demokratie in Österreich„, 2014-12-18, S 124


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Aufruf zu handeln, statt auf „billige Gnade“ zu hoffen

Wie können wir nun dazu beitragen, eine weitere Gefährdung unserer Demokratien zu verhindern und dabei gleichzeitig unser Wohlbefinden zu steigern?

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Maßnahmen und Ideen gibt es viele. Zur Steigerung ihrer Wirksamkeit fehlt allerdings noch ein koordiniertes Miteinander (innerhalb) dieser beiden Ebenen: eine in den verschiedenen sozialen Schichten gelebte Mitentscheidungskultur und zielgerichtete Bündnisse der Zivilgesellschaft.

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Ansatzpunkte für politische Akteure

Am 17. Oktober 2024, dem Internationalen Tag für die Beseitigung der Armut, hat das Armutsnetzwerk Steiermark seine Tagung24 unter dem Motto „Wieviel Ungleichheit verträgt Demokratie?“ durchgeführt. Am Ende ihres Vortrags ließ Mag.a Martina Zandonella gut erkennen, wo die Hebel zur Stärkung der Demokratie anzusetzen sind: bei der „Demokratie als Alltagserfahrung“ inkl. einer „wirksamen Mitbestimmung“ bis hin zu einer Korrektur der „Schieflagen des repräsentativen Systems“, die allein durch „mehr Beteiligungsangebote“ als „Ersatz für Beteiligungsrechte“ nicht zurechtgerückt werden können.

Martina Zandonella

Einen vergleichbaren Inhalt von Martina Zandonella finden wir in ihrem Referat „Demokratie und Politik“, das im stenografischen Protokoll zur parlamentarischen Enquete des Bundesrates „Demokratie braucht Zukunft – Brücken bauen, Demokratie stärken“ vom 12. November 2024 nachzulesen ist.

Anmerkung: Vgl. dazu die Inhalte der Enquete-Kommission im Nationalrat aus dem Jahr 2014. Tamara Ehs am Schluss ihrer Ausführungen: „Zusammenfassend: Es gibt genügend gute Ideen und Vorbilder. Was es dafür braucht, ist ein gewisser Mut, vielleicht sogar schon einen militanten Optimismus, aber jedenfalls eine konkrete Utopie. Ein Demokratiebüro wäre eine erste Utopie, wo man anfangen könnte, neue Ideen der Bürgerbeteiligung nicht dem Volk überzustülpen, sondern es selbst und gemeinsam gestalten zu lassen. Immerhin kann die Antwort auf die Krise und auf die Demokratiekrise ja nur in einer umfassenden Demokratisierung bestehen.“ (Protokoll zur Enquete-Kommission „Stärkung der Demokratie in Österreich“ vom 2014-12-18, S 308)

Während Antworten auf die Kulturfrage ihre nachhaltige Wirkkraft ganz besonders von unten (vgl. Klimarat) her entfalten, verstärken zivilgesellschaftliche Bündnisse diese mit dem Fokus auf politische Parteien, ohne deren Zustimmung keine institutionellen Verbesserungen unserer Demokratien auf friedlichen Wegen zu erhalten sind. Jan-Werner Müller verdeutlicht damit verbundene Widerstände, die es gemeinsam zu überwinden gilt: „Warum sollten Parteien solchen Verfahren* je zustimmen? Denn damit würden sie sich ja immer zumindest ein Stück weit selbst entmachten.“ (2021, S 193)

Lange vor Jan-Werner Müller kommt Simone Weil zu vergleichbaren Befunden und Emanuel Towfigh erlangt durch die Arbeit an seiner Habilitationsschrift diese Erkenntnis:

„Ich plädiere für eine behutsame Weiterentwicklung unserer demokratischen Ordnung. Behutsam, weil die Demokratie ein fragiles und wertvolles System ist. Wir leben zudem in Frieden und Wohlstand, wir genießen eine stabile Ordnung. Dies ist auch ein Verdienst der Parteien, die nach dem Krieg ein Stabilisator des Systems waren. Aber die Parteiendemokratie hat sich offenkundig überlebt, die Nachteile dieses Systems werden immer deutlicher sichtbar.“ (Hervorhebungen: AN)

Was ist zu tun?

Eine zunehmende Zahl an einzelnen Initiativen zur Stärkung der Demokratie macht noch kein „kluges Update“ (Tamara Ehs). Die erste Demokratiewoche des Bündnis 2025 im Oktober desselben Jahres hat eine größere Chance, dass das Thema in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Um allerdings die Forderungen des Österreichischen Netzwerks Zivilgesellschaft in die politische Praxis zu transformieren, dazu bedarf es noch weiterer Anstrengungen zur Planung und Realisierung eines geeignete Formate integrierenden Gesamtkonzepts.

Ohne entsprechenden Druck durch eine aktive Zivilgesellschaft würde auch ein nächster Österreich- oder Verfassungskonvent kein Update im gewünschten Ausmaß liefern.

Die Forderung nach Etablierung eines Demokratierates wirft spätestens angesichts der Erfahrungen mit den Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) die Frage auf, ob diese nicht zu wenig weit geht. Die politische Praxis zeigt, was möglich ist – siehe: irische Citizens‘ Assembly oder Ständiger Bürgerrat in Paris – und wie sinnvoll – Beispiel: Klimarat – konkrete Updates der Demokratie sein könn(t)en.


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Michael Lederer in seinem Beitrag „Politik und Zufall“ zur 12. Armutskonferenz im Jahr 2020

Anmerkungen

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*| Unter „solchen Verfahren“ versteht Jan-Werner Müller Bürgerbeteiligungen mit Losverfahren. Zuvor beschrieb er kurz das Oregon-Modell: „Das Herzstück des Modells ist, die ’normalen‘ Bürgerinnen und Bürger via Losverfahren in den demokratischen Prozess einzubinden und das Ergebnis ihrer Deliberationen allen Stimmbürgerinnen und -bürgern vor einer Volksabstimmung zukommen zu lassen.“ (Nenad Stojanović, in: Jahrbuch für Direkte Demokratie, 2020, S 77) Hinsichtlich der Verbindlichkeit für den Gesetzgeber sind viele weitere Wünsche und Forderungen progressiver, wie beispielsweise jene von SOS Mitmensch mit ihrer „Pass Egal Wahl“ als eine auf Dauer angelegte und umfassende Antwort auf die Kulturfrage, Michael Landau („Armuts-Check von Gesetzen und Verordnungen“), der 12. Armutskonferenz


Auch diese drei Forderungen der 12ten Armutskonferenz:

Neue Partizipationsprojekte
Sozialverträglichkeitsprüfung“ gesetzlicher Maßnahmen
Health Impact Assessment

blieben von den Regierenden bislang unberücksichtigt.


2024-09-28_politik-lernen_Demokratie-in-der-Schule

oder SOS-Kinderdorf Österreich mit der Forderung nach einem „erweiterten Jugend-Check für alle neuen Gesetze: Jeder Entwurf soll von einer unabhängigen Stelle zu den Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche geprüft werden.“ Expert:innen in Fragen zur Demokratie(entwicklung) gehen einen Schritt weiter und empfehlen u. a. eine Zukunftskammer oder ein birepräsentatives Modell. Ein Hinweis von Tamara Ehs lautet: „Um Lehren aus der Krise zu ziehen, muss man bereits den Regelzustand verändern. Hierzu könnte man […] auch ohne Gesetzesänderung die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer interpretieren.“ (Krisendemokratie, 2020, S 101 f)

2024-10-19_sieglinde-rosenberger_aktive-zivilgesellschaft
2024-09-28_mastodon_manin_reybrouck_repraesentativsystem_aristokratischer-reflex_demokratie
2024-09-28_seismo_direkte-demokratie-in-der-schweiz_schaub-buehlmann_partizipation

Siehe dazu auch Überlegungen von Brigitte Geißel und Stefan Jung hinsichtlich Etablierung eines Beteiligungsrates auf Bundesebene. In mehreren Städten werden sie bereits praktiziert, so auch als „Beteiligungsrat Gemeinwohl“ in Leipzig: „Es war eine durchaus verzwickte Frage, die die Ratsversammlung dazu brachte, einen Beteiligungsrat Gemeinwohl einzuberufen. 50 ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sollten sich Gedanken darüber machen, wie ‚gesellschaftliches gemeinwohlorientiertes Engagement der Einwohnerinnen und Einwohner‘ wirklich gefördert werden könnte.“ Begründung: „Vor dem Hintergrund des enormen Wachstums Leipzigs, gesellschaftlicher Spannungen und internationaler Krisen gewinnt der Gemeinwohlgedanke institutionenübergreifend an Bedeutung. Umso wichtiger erscheint es, die Auseinandersetzung über das Thema Gemeinwohl unter der breiten Beteiligung der Stadtgesellschaft anzuregen und insbesondere Menschen in den Dialog einzubinden, die sich nicht (mehr) am politischen Willensbildungsprozess beteiligen oder in gewählten Parlamenten oft stark unterrepräsentiert sind.“

> Gemeinwohlkontrolle
> EU Bürgerforum gegen Hass
> seismo

2022-03-01_armin-nassehi_wer-die-gesellschaft-veraendern-will-veraendert-ihre-organisationen

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2024-10-08_Allianzen-reichen-nicht_Demokratie-staerken-durch-mehr-Partizipation-in-der-Gesetzgebung

An dieser Stelle nochmals dieser Hinweis:

Zukunftskammer – eine Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats der deutschen Bundesregierung für globale Umweltveränderungen aus dem Jahr 2011.

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Schlussworte

Tamara Ehs, in: Krisendemokratie (2020), S 22: „Demokratie hat allerdings den Pluralismus und damit die Notwendigkeit der Einholung einer Diversität von Meinungen nicht nur idealerweise zur Voraussetzung, sondern eine [die „selektive Responsivität“ konterkarierende|Anm. AN] breitere Entscheidungsfindung führt auch zu besseren, weithin akzeptierten Gesetzen.“

… erst eine innere Bekehrung verwandelt die äußeren Umstände, aber zugleich stützen und ermöglichen äußere gerechte Zustände eine innere Bekehrung des Menschen zum Guten, der ohne äußere Gerechtigkeit der inneren Lieblosigkeit zum Opfer fiele.

Peter Schallenberg, in: Zivilökonomie, 2013, S 23

                    


Auszüge dieser Webseite vom 16. August 2024 als pdf-Datei

Demokratisiert Euch!

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem oft zitierten Wort aus Willy Brandts Regierungserklärung vom Oktober 1969, wonach die BRD mehr Demokratie wagen wolle, gibt es weiterhin unbeantwortete Fragen auf dem Weg dorthin. Zudem wird der damals konstatierte Bedarf mittlerweile nicht nur in Deutschland festgestellt.

Sofern wir die damit verbundenen Herausforderungen annehmen, sollten wir unsere Reise in eine Zukunft mit „mehr Demokratie“ passenderweise mit der Beantwortung grundsätzlicher Fragen beginnen. Eine davon lautet:

Wie können wir als Gesellschaft reifen? Die Antwort darauf ist schnell gefunden: Indem wir an unseren Schatten arbeiten und sie gegebenenfalls integrieren. Das funktioniert individuell ebenso wie gesamthaft.

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Der bisherige Reifeprozess ging dabei nicht weit genug. Daher sind Demokratien unter Druck geraten. Dies auch deshalb, weil weniger das Gemeinwohl als vielmehr Parteiinteressen im Vordergrund standen und stehen. Auf den Wettkampf von Parteien zu setzen führt offensichtlich noch zu keinen zufriedenstellenden Ergebnissen. Es reicht auch nicht, wenn Regierungen und ihre missliebigen Teilgesellschaften – sprich: Parteien – abgewählt werden können. Die Verteidigung der Demokratie ist ebenso wenig zielführend. Schließlich ist ihre jeweilige Beschaffenheit eine wesentliche Quelle dafür, dass spätestens seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts dunkle Wolken am bislang azurblauen Polithimmel aufziehen. Als Antwort darauf weiterhin den Status quo prolongieren zu wollen, führt selbst nach erfolgreichen Protesten allenfalls zu kurzfristiger Aufhellung am gemeinwohlorientierten Firmament.

2024-05-25_mastodon_ziblatt_demokratie-jetzt-entwickelnWas also tun? Weil Aufklärung nicht reicht, um ein „gutes Leben für alle“ zu gewährleisten, braucht es repräsentative(re) Parlamente als Legislative. 2024-07-07_the-wolf-and-the-sheep_once-elected-i-will-be-vegetarian„Wählen allein“ reicht dazu allerdings auch nicht, denn diese Form der Zuweisung von gesellschaftlicher Gestaltungsmacht führt nach David Van Reybrouck zu Ohnmacht. Um nun die gesetzgebenden Institutionen der Demokratie weiterzuentwickeln, bedarf es eines breiten Diskurses über die unterschiedlichen Ideen und Vorschläge. Im Vergleich zu anderen Modellen genießt das birepräsentative System dabei den Vorteil jahrtausendelang bewährter Erprobung. Die Kunst einer demokratiepolitisch aktiven Zivilgesellschaft wird sein, sich auf konkrete Forderungen zu einigen und diese gegen die zu erwartenden Widerstände dauerhaft zu institutionalisieren.

2024-07-09_Markus-Benke_Rousseau_Tyrannei-der-Mehrheit-und-der-Minderheit

Proteste als Form der Partizipation

Hier beginnt nun unsere Arbeit daran, die oben erwähnten Schatten zu integrieren. Ist der Fokus für unser Engagement erst einmal definiert, gilt es zunächst – und auch weiterhin – äußerst hartnäckige Widerstände („einer lauten Minderheit„) aus dem Weg zu räumen.2024-05-16_dialogperspektiven_demokratisiert-euch Schließlich geht es dabei um unreflektierte Haltungen ebenso wie um Macht in all ihren Facetten und Ausprägungen. Die angewendeten Mittel zur Verteidigung von politischer Einflussnahme zwecks Erwerbung und Erhalt von rechtlich verankerten und durch langjährige Praxis scheinbar legitimierten Vorteilen sind vielschichtig. Auf die nächste Krise1 zu hoffen bringt uns auch nur zufällig einen Schritt näher ans erstrebte Ziel einer repräsentativen Volksvertretung ohne Schatten. Was bleibt, ist uns zu demokratisieren. Mit uns sind alle gemeint, nicht nur die üblichen Aktivbürger. Um weitgehend alle zur Teilnahme zu motivieren, braucht es allerdings eine entsprechende „Kultur der Ermächtigung“ inklusive einer lebendigen Protestkultur.

Tobias Doppelbauer/Dirk Lange in Demokratie im Alltag: 2024-06-13_attac_steyr_sommerakademie-der-sozialen-bewegungen„Narmina erklärte etwa auf die Frage danach, wo ihr Demokratie im Alltag begegnet, dass sie die demokratische Gesellschaft im Alltag erlebt, wenn sie an einem Protest teilnimmt. Für sie ist es ein Kennzeichen der demokratischen Gesellschaft, dass Proteste als Form der Partizipation möglich sind.“ (S 190)

Die „Sommerakademie der sozialen Bewegungen 2024“ in Steyr lädt zur Diskussion ua über: Demokratie & Frieden, zivilgesellschaftliche Ermächtigung, Wege zur Stärkung der Demokratie …

2024-04-17_armutskonferenz_w2_buergerinnenraete-in-verfassung-und-auf-gemeindeebene

Aber was heißt das jetzt, sich individuell und als Gesellschaft zu demokratisieren? Wir haben doch bereits – zumindest in Österreich – eine funktionierende Sozialpartnerschaft und die nichtterritoriale Selbstverwaltung von Kammern und Gesundheitskassen im Verfassungsrang. Wie wir bisher gesehen haben – beispielsweise bei der fehlenden Beseitigung von Kinderarmut -,

2024-07-23_science-apa_OECD_Kinderarmut

reicht das genauso wenig wie dieser Vorschlag von Tim Wihl in Wilde Demokratie:

„Um den aufgeführten Risiken beizukommen, wäre es allerdings noch vorteilhafter, wenn die digitale Öffentlichkeit sich letztendlich commons-haft beziehungsweise genossenschaftlich und selbstverwaltet organisieren würde. Dafür braucht sie den Staat als regulatorischen und womöglich auch fiskalischen Bündnispartner gegen den Markt.“ (S 27)

2024-06-12_mastodon_karl-dietz-verlag_jean-jauresDoch genau diesen „Staat als Garanten von Unordnung“, wie Tim Wihl weiter ausführt, gibt es noch nicht in ausreichend gesichertem Maße. Ansonsten hätten wir die Probleme einer sich (fast) ausschließlich auf Wahlen stützenden Demokratie nicht, von der Emanuel Towfigh im Jahr 2015 meinte: „Aber die Parteiendemokratie hat sich offenkundig überlebt, die Nachteile dieses Systems werden immer deutlicher sichtbar.“ Ein Ausweg aus der Demokratiekrise wird deshalb nicht durch die Gründung neuer Parteien erfolgen.

2023-12-14_brot-fuer-die-welt_handabdruck_kampagnen-des-protests-sind-notwendige-strategien_auszug

Wir dürfen im Jahr 2023 sogar fragen: Welchen Anteil haben ehemals sozialistische Parteien daran, dass mehr als hundert Jahre nach ihrer Gründung Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie gilt? Die volonté générale (Gemeinwille) wird von den Reichen – Stichwort: „selektive Responsivität“ – weiterhin mit Füßen getreten: „Eine weitere massive Verschlechterung betrifft die Leistungen fürs Wohnen, auch die Wohnbeihilfe wird jetzt von den zuständigen Behörden einbehalten. Mindeststandards gibt es keine mehr, das Ziel der Armutsbekämpfung ist aus den Zielen des Gesetzes gestrichen worden. Manche wollen in dieser Situation Sozialleistungen für die Ärmsten im Land weiter kürzen.“ (Die Armutskonferenz, 2024)

2024-06-27_Plaedoyer-fuer-mehr-Mitentscheidung

Auf dem Weg zur einmütigen Mitentscheidungskultur2

Martina Handler im Podcast: Mitbestimmen statt meckern

Ein erster Schritt zu einer tieferen und damit kulturell verankerten Demokratisierung einer Gesellschaft führt uns in Schulen3 und Kindergärten, in denen Demokratie als Lebensform bereits praktiziert (Inhalte zu Partizipation im Zwergengarten Langenegg seit Frühjahr 2025 nur noch im Archiv abrufbar) wird.Screenshot_20240802-213713 Darüber hinaus braucht es über das ganze Land verteilte Diskussionsveranstaltungen mit Workshops, Aktionen im öffentlichen Raum – wie zB ein zweiter Bundesrat als Probebühne für dessen Transformation in einen Gemeinwohlrat (vgl. Kontrollgremium „Der große Rat“ in Venedigs Republik und siehe weitere Hinweise) – und Festivalcharakter. Nur so kann Demokratie als gemeinschaftsbildende Kultur4 lebendig werden und bleiben. Plattformen können dabei unterstützend wirken. Ebenso Konferenzen als „Übung[sfelder] in Sachen Demokratie„.

2024-07-02_qr-code_t1p-de_mitentscheidungskulturDamit aber werden die Steine am Parlamentsgebäude noch kein bisschen bunter. Was noch fehlt sind dauerhaft aktive, zivilgesellschaftliche Bündnisse, die Proteste als Demokratiegeneratoren (Armin Nassehi) verstehen und diese gezielt einsetzen, um „Repräsentationsarmut und Polarisierung“ (Tamara Ehs) durch die Weiterentwicklung5 des demokratischen Institutionengebäudes zu verringern.

2024-06-11_bpb_nicht-institutionalisierte-politische-beteiligung-und-protestverhalten


2024-07-16_Danielle-Allen_Politische-Gleichheit_demokratische-Entscheidungsfindung

Anmerkungen

1| Tim Wihl schreibt angesichts struktureller Probleme korrekterweise von „Zeichen demokratischer Malaise„.

2| Erste Details dazu siehe: „Mitentscheidungskultur als Weg zur resilienten Demokratie“

2024-06-13_uni-leipzig_demokratie-braucht-kultur

3| Siehe auch Zentrum polis: Demokratie in der Schule – Beispiele: Sportmittelschule in Feldbach, Volksschulen im Bezirk Weiz – in einer für die Oberstufe der AHS geltenden Verordnung der Bundesministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur aus dem Jahr 2003 heißt es dazu: „Die Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden, Sachverhalte und Probleme in ihrer Vielschichtigkeit, ihren Ursachen und Folgen zu erfassen und ein an den Menschenrechten orientiertes Politik- und Demokratieverständnis zu erarbeiten. Dies verlangt eine entsprechende Praxismöglichkeit im Lebens- und Erfahrungsbereich der Schülerinnen und Schüler.“ (S 35)

2024-05-31_Wie-ungueltig-oder-nicht-waehlen-Demokratie-gefaehrdet

In der Europarats-Charta zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung lautet das Ziel (Grundsatz) unter Pkt. 5 Abs. g: „Ein grundlegendes Ziel jeder Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung besteht darin, die Lernenden nicht nur mit Wissen, Verständnis und Kompetenzen auszustatten, sondern sie auch dazu zu befähigen, im Dienste der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Gesellschaft aktiv werden zu wollen.“ (S 4)

2024-05-26_Steiermark_Demokratiebildung_Wahlen-sind-zu-wenigDie bisherigen Bildungsmaßnahmen jedenfalls waren noch kein Garant für die Beibehaltung des Status einer liberalen Demokratie in Österreich. So kam es, dass die Alpenrepublik im Jahr 2022 erstmals wieder zur Wahldemokratie herabgestuft wurde. Um im weltweiten Demokratie-Ranking vorne dabei zu sein braucht es also mehr als politische Bildung in der herkömmlichen Form, es braucht eine Weiterentwicklung demokratischer Strukturen als permanent wirksamen Ausdruck für den Souverän (vgl. Hans Kelsen).

Tim Wihl, sich auf Canettis Modell der Umkehrungsmassen beziehend: „Es spiegelt wider, dass die Demokratie nur gedeihen kann, wenn sich Menschen von Zeit zu Zeit erheben, um sich von zu vielen Stacheln der Befehle zu befreien.“ (Wilde Demokratie, S 93) Zu beachten sei dabei folgender Aspekt: „Nur Proteste, die den politisch-ökonomischen Kontext berücksichtigen, können zu einem dauerhaften Wandel beitragen, der in demokratische Entscheidungsprozesse mündet.“ (S 96 f) Am Schluss seines Buches noch dieser Hinweis: „Civic courage ist das schlechthinnige Ideal der Demokratie im Sinne des US-Richters Louis Brandeis: Nur wo Menschen sich gemeinsam etwas trauen, werden sie auf Dauer in einer Demokratie leben.“ (S 129 f)

2024-06-11_zeit-de_losen-statt-waehlen_bundeskunsthalle-seziert-die-demokratie


4| Mehr Demokratie: „Unsere demokratischen Strukturen sind darauf angelegt, die Würde des Menschen zu schützen und Freiheit zu gewährleisten. Doch der staatliche Rahmen allein schafft noch keine lebendige Demokratie: Um sie erlebbar zu machen, sind bestimmte innere Haltungen notwendig, bestimmte Herangehensweisen und Formate hilfreich. Eine solche demokratische Kultur lässt sich nicht regeln oder verordnen – sie muss entwickelt, bewegt und praktiziert werden. Aus dieser Dynamik heraus lassen sich dann auch die Strukturen weiterentwickeln.“

2024-06-04_diw_marcel-fratzscher_zivilgesellschaft-ersetzt-nicht-den-sozialstaat

inspirieren – beteiligen – mitentscheiden: „Partizipation braucht Erwachsene

Inspirierende Ideen für mögliche Entwicklungen unserer demokratischen Strukturen gibt es mittlerweile viele, wie zB jene von Hubertus Buchstein, dem WBGU, Tamara Ehs, Michael Landau oder David Van Reybrouck. Um nur eine einzige davon zu realisieren, braucht es Menschen mit einem Herz für politisches Engagement jenseits von Parteieninteressen. Ein Bündnis für mehr Demokratie (als Lebensform) könnte dabei wertvolle Beiträge liefern.

2024-05-15_bosolei_jetzt-uebernehmen-wir_mit-buendnissen-widerstaende-ueberwinden

Auch der DGB ist proaktiv dabei:

Währenddessen wird in Österreich noch beraten, hoffentlich:

2024-05-15_bosolei_jetzt-uebernehmen-wir_Mehr-Demokratie_erfolgreiche-Volksinitiative_Buergerentscheid

Weitere Informationen darüber hier: https://www.mehr-demokratie.de/nachrichten/einzelansicht/volksinitiative-buergerentscheid-in-schleswig-holstein-gerettet

2024-06-25_buergerrat-de_buergergutachten_ergaenzung-der-parlamentarisch-repraesetnativen-demokratie

Kritik an der Durchführung des Bürgerrates Demokratie und dessen Ergebnissen im Jahr 2019

Screenshot_20240616-191706Dieser Vorschlag des WBGU aus dem Jahr 2011 blieb unberücksichtigt :

„Um Zukunftsinteressen institutionell zu verankern, empfiehlt der WBGU zu erproben, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren um eine deliberative ‚Zukunftskammer‘ zu erweitern. Um interessens- und parteipolitische Einmischung zu vermeiden, könnte die Zusammensetzung dieser Kammer beispielsweise durch Losverfahren ermittelt werden.“

Quelle: Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, S 10 f


5| „Die Demokratie braucht [Anm.: auch] die Gewerkschaften„. Die Akademie für ArbeitnehmerWeiterbildung stellt am 12. August 2024 dazu ua folgende Fragen: „Protest zeigt immer Probleme und Risskanten einer Gesellschaft auf. Dazu beschäftigt uns die Frage, welche Ursachen für Proteste existieren und welche Herausforderungen Protestkultur im 21. Jahrhundert widerfährt. Wir beschäftigen uns des Weiteren mit der Frage, wie viel Protestpotenzial in uns steckt: Gäbe es für uns auch einen Grund zu protestieren oder ist es nicht wünschenswert, in Ruhe ohne Protest und 2024-07-22_Daniel-Loick_Minoritaet-und-die-Allianz-mit-heterogenen-KraeftenKonflikte zu leben? Und ist nicht das ein Privileg, das man sich leisten können muss?“ (vgl. Armin Nassehi, Ciani-Sophia Hoeder u. v. a. m.)

Zuletzt noch dieser Gedanke von Marcus Hernig: „Doch Revolutionen können auf Dauer nur Erfolg haben, wenn die Masse der Bevölkerung diese unterstützt.“ (S 83)

Weitere Hinweise dazu von Daniel Loick und anderen hier.

Screenshot_20240725-153618Wenn unsere gemeinsame Zukunft als Grundlage für ein friedliches Miteinander und ein gutes Leben für alle auf dem Spiel steht, dann sind auch Religionen mit an Bord: https://religionsforfuture.at/#treffen-der-steiermark

2024-06-18_Global-Democracy-Conference-2024
Eine Anregung für „Demokratie in Aktion“-Aktivitäten: Global Democracy Conference 2024

2024-06-18_social-anoxinon_zeit_david-holt_wir-integrieren-alle-politik

2024-08-09_politix_widerstand-&-utopie_melvin-tricoire_emanzipieren-wir-uns


Diese Webseite gibt es auch als pdf-Datei (Stand 25.6.2024) zum Download.

Jetzt übernehmen wir!

Am besten funktionieren solche Veränderungen, an die man sich gewöhnen kann und die zumindest nicht disruptiv sind. (Armin Nassehi, in: Unbehagen, S 330)

Wege zum repräsentativen Parlament

Das Motto der 14. Armutskonferenz in St. Virgil, Salzburg, ist kein Aufruf zur Revolution. Es wäre vermessen zu glauben, eine Umkehrung der Machtverhältnisse führt zu wohlstandsmehrenden Lebensverhältnissen für die zuvor Benachteiligten. Ein gutes Leben für alle braucht in einer offenen Gesellschaft auf Dauer das gesamte Meinungsspektrum in den Institutionen der Volksvertretung. Genau deshalb, weil dieses durch die bestehenden Repräsentationslücken derzeit nicht gegeben ist, benötigen die politischen Entscheidungsgremien vielmehr eine partizipative Aufwertung. Eine starke Demokratie wäre die Folge davon.

Verschiedene Formen stehen dafür zur Auswahl. Zwischen Bürger*innen-Rät*innen und Losbewegungen ist vieles sinnvoll. Nicht vertreten hingegen ist dabei die Idee eines Jean Jacques Rousseau, der in seinem Gesellschaftsvertrag meinte: wenn es denn schon Teilgesellschaften – sprich: Parteien – geben soll, dann „ist es wichtig, ihre Zahl zu vervielfachen und ihrer Ungleichheit vorzubeugen“ (Nr. 320). Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Auch wenn das Angebot der KPÖ+ in Salzburg zahlreiche Bürger*innen wieder zurück an die Wahlurnen bewegt, wird dadurch auf Dauer kein vielfältiges Meinungsspektrum gewährleistet. Diese Garantie erfordert in letzter Konsequenz wie die nichtterritoriale Selbstverwaltung Bestimmungen im Bundes-Verfassungsgesetz (S 18). Demokratiestärkende Reformen sind allerdings erst – wie in anderen Ländern auch – nach entwicklungsfördernden Regierungskrisen zu erwarten. Es gibt aber noch weitere Barrieren zu überwinden:

Erfolge im Kampf gegen die relative Armut sind viel schwerer zu erringen als im Kampf gegen die absolute Armut, weil … die Bekämpfung der relativen Armut [erfordert], dass man den Reichtum antastet. (Christoph Butterwegge)

Wer die „selektive Responsivität“ als strukturelle Bevorzugung der Reichen in der Gesetzgebung aufheben will, kämpft gegen dieselben Windmühlen.

2024-06-07_Armutsnetzwerk-Stmk_Flyer-Tagung24_A5_Endversion

Dringend empfohlen: eine Kultur der Mitentscheidung

Zur Überwindung von Widerständen braucht es eine entsprechende Kultur (siehe zB Vorarlberg) zur Erzielung nachhaltiger Transformationserfolge auf dem Weg zu der von Hartmut Rosa vorgeschlagenen „Gemeinwohlkonzeption, weil Politik nicht einfach Interessendurchsetzung ist.“ Wenn durch diese das Volk souverän wirken können soll, hat sie nach Hans Kelsen eine Institution der Republik zu sein. Dazu brauchte es Tamara Ehs zufolge nicht einmal eine Gesetzesänderung: es reicht, „die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer [zu] interpretieren.“ (Krisendemokratie, 2020, S 101 f)

Das wäre zwar ein willkommener erster Schritt, doch dieser ist nicht ohne unser Engagement abseits von Krisen zu erwarten. Das zeigen beispielsweise die Ergebnisse einer parlamentarischen Enquete-Kommission aus dem Jahr 2014 zur „Stärkung der Demokratie in Österreich“. Damals wurden viele Überlegungen nicht einmal ignoriert – wie auch jene von Tamara Ehs:

„Wir haben gemeinsam dieses Grünbuch ‚#besserentscheiden‘ ausgearbeitet, und da kam die Idee auf, ob es nicht der Bundesrat sein könnte, der sich hier neu orientiert. Eine Neuorientierung des Bundesrates als eine Art politischer Think Tank, wo Expertinnen und Experten eingeladen werden, wo der Bundesrat aber auch Bürgerkonferenzen in den einzelnen Bundesländern organisiert, als zukunftsgerichteter Think Tank, eben auch nach Beispiel des finnischen Zukunftsausschusses, wo man Veränderung begleiten kann. Veränderung findet ja immer statt, es geht nur darum: Laufen wir quasi der Veränderung hinterher oder gestalten wir sie mit? – Da könnte der Bundesrat mit dem bereits angesprochenen Demokratiebüro zusammenarbeiten, einen Raum auch für alternative Ideen finden, wo Bürgerinnen und Bürger gemeinsam neue Formen der Demokratie überhaupt erst einmal ausarbeiten können.“ (a. a. O., S 308)

2024-07-21_Postkarte-VS_Mitentscheiden_Ein-Fest-fuer-alle_Um nicht tatenlos auf eine reformbegünstigende Krise warten zu müssen, können wir jederzeit wichtige Schritte setzen zur Vorbereitung einer partizipativen Gesetzgebung. Diesbezüglich und zur möglichen Abwendung von Krisen bieten Demokratiefestivals* – mitunter auch Awards wie zB „European Capital of Democracy“ – einen von vielen Wegen zur Entwicklung einer Mitentscheidungskultur, mit dem Ziel, angestrebte Reformvorhaben zu beschleunigen.

Gesuchter Meilenstein: Antworten auf die Kulturfrage

Eine dauerhaft wirkende Partizipations– resp. Mitentscheidungskultur etabliert sich allerdings erst durch dauerhaft Wirkende** in all ihrer Buntheit. Attraktive kulturelle Angebote von kooperierenden Playern der Zivilgesellschaft (zB im Rahmen einer Langen Nacht der Partizipation) an verschiedenen Orten können die dargebotene „demokratische Kultur“ zur lebendigen Volkskultur werden lassen – mit entsprechenden Aufträgen*** an die Politik.

Was die Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit betrifft, so darf die im Jahr 2013 eingeführte Pass Egal Wahl von SOS Mitmensch (vgl. mitstimme.ch) als Vorbild genannt werden. Dadurch konnte erstmals neun Jahre später die Arbeiterkammer Wien zur Mitwirkung gewonnen werden.

Neben den bereits erwähnten Demokratiefestivals gibt es zB noch die Demokratiewoche in Telfs rund um den Internationalen Tag der Demokratie, Projekte von Faktor-D und viele andere interessante Formate mehr.

2024-06-27_Plaedoyer-fuer-mehr-Mitentscheidung

2024-08-21_bsky_Armin-Nassehi_Aufklaerung_Proteste-Demokratiegeneratoren*| Siehe auch a) „Festival für Bürgerbeteiligung und deliberative Demokratie„, das vom Kompetenzzentrum für partizipative und deliberative Demokratie (CC-DEMOS) der Europäischen Kommission organisiert wird und b) Mitmacht, ein Festival von Faktor D.
**| Dieter Rucht erwartet sich von kontinuierlicher Arbeit „auf lange Sicht viel mehr als von den kurzzeitig aufflammenden Protesten von Hunderttausenden oder gar Millionen.“ (S 8)
***| Vgl. Druck auf politische Eliten in Bosnien-Herzegowina, sich um einen EU-Beitritt zu bemühen. Inwieweit „Kulturstrategien als Übungsfeld für mehr Partizipation“ gelten dürfen ist fraglich, schließlich werden „konkrete Vorschläge“ wie „Kunst als Übung für partizipative Demokratie“ (S 17) erst an stiefmütterlich letzter Stelle genannt. Einen Versuch in diese Richtung unternimmt Florian Kutej mit dem Musiktheaterspaziergang „Kirschenrummel„.

2024-04-29_Armin-Nassehi_Theorie-der-ueberforderten-Gesellschaft_Soziodizee-der-Gewohnheit

2024-03-21_qr-code_bosolei-com_jetzt-uebernehmen-wir

Der Inhalt dieser Webseite vom MI 10. April 2024 als pdf-Datei


2024-04-25_uni-leipzig_demokratie-braucht-kultur

Ergänzende Hinweise

1. Publikationen und Medien, zusammengestellt von der Stiftung Mitarbeit.

2. Tamara Ehs in der oben erwähnten Enquete-KommissionStärkung der Demokratie in Österreich“ am 18. Dezember 2014:2024-03-14_Enquete-Kommission_Staerkung-Demokratie_2014_Tamara-Ehs_transparente-Gesetzgebung

3. Screenshot_20240501-083552Eine der Forderungen der Arbeiterkammer zur Stärkung der „Demokratie auf allen Ebenen“ lautet:

„Den Umbau demokratisch gestalten: Politik lebt von der Mitwirkung. Die Maßnahmen des sozialen und ökologischen Umbaus sollten daher in breiten und partizipativen Diskussionsprozessen entwickelt und demokratisch entschieden werden. Dabei sollten innovative, sozial repräsentative und inklusive Formen von Partizpation angewandt werden, um der Bevölkerung effektive Möglichkeiten zur Mitwirkung zu geben.“

Quelle: Wirtschaft & Umwelt 1, 2024, S 21

2024-05-06_ak-wien_zweit-drittel-demokratie-droht_mitbestimmung-privileg-der-bessergestellten


2024-04-26_Van-Reybrouck_Gegen-Wahlen_Losverfahren-in-Kombination-mit-Wahlen

4. Was es neben den bisherigen Bemühungen noch braucht: institutionalisierte Dauerhaftigkeit

2024-04-05_InterAct_25-Jahre_Legislatives-Theater_UniZentrum-WallPolitische Erfolge der Bürger*innenräte und des Legislativen Theaters sind wichtige Schritte auf dem Weg zu repräsentativen Parlamenten in Gemeinden, Städten, Regionen, Nationen und in supranationalen Institutionen. Ihre Schwerpunkte liegen in ausgewählten Themen. Zudem liefern sie wichtige kulturelle Beiträge („soziales Kapital„) zur Zukunftsfähigkeit von demokratischen Gesellschaften. Allerdings sind sie damit noch weit entfernt von einer dauerhaften 2024-05-03_Michael-Lederer_armutskonferenz-2020_Institutionalisierung-der-partizipativen-DemokratieGemeinwohlkontrolle im Sinne eines Armuts-Checks von Gesetzen und Verordnungen, formuliert von Dr. Michael Landau im Jänner 2020. Die Steine auf dem Weg dorthin sind nur gemeinsam zu beseitigen. Einzelne Projekte oder Wortmeldungen – selbst jene von Willy Brandt in seiner Regierungserklärung im Jahr 1969, die da lautet: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ – bringen uns der wünschenswerten und zu fordernden Repräsentativität in der Gesetzgebung allenfalls nach schweren Krisen näher. Bislang aber selbst dann nicht nahe genug.

Demokratie als Lebensform

Deshalb braucht es noch zusätzlich Proteste als Demokratiegeneratoren* (Armin Nassehi) ebenso wie Diskurse und Festivals, am besten im Rahmen einer lebendigen Mitentscheidungskultur. Solange ausreichend viele „konkrete demokratische Erfahrungsräume fehlen“ (Jakob Fürst), sind wir aufgerufen, „Mitentscheidung einzufordern„. Wie sonst soll (Kinder-)Armut als Risiko für [die] Demokratie jemals aus der Welt geschafft werden?

*| Wenn es also Proteste benötigt, um die Demokratie als Herrschaftsform weiter zu entwickeln, sollten wir uns dann in Anlehnung an die Grazer Stadtschreiberin Andrea Scrima nicht auch fragen, WO „man das Aufbegehren lehren kann„? Ist diesbezüglich ein jährlich wiederkehrendes Protestcamp im öffentlichen Raum nicht die geeignetere Form anstelle von Diskursen in klimatisierten Stadthallen?

2024-05-10_tim-wihl_wilde-demokratie_protest

Wegweisende Maßnahmen der 14. Armutskonferenz

Demokratie als Lebensform wird mittlerweile bereits in Kindergärten praktiziert und gelernt. Gleichzeitig braucht es idealerweise auch eine verfassungsmäßig verankerte Gewährleistung einer repräsentativen Mitwirkung an öffentlich relevanten Entscheidungen. In der 14. Armutskonferenz wurde daher folgendes von den anwesenden „Minister*innen“ in der Zukunftswerkstatt Beteiligung beschlossen:

2024-04-17_Armutskonferenz_W2_BuergerInnenraete-in-Verfassung-und-auf-Gemeindeebene

Einzelne Maßnahmen wie Informationen zu „Direkte Demokratie und Partizipation in den österreichischen Gemeinden“ im Anschluss an das gleichnamige Symposium vom 5. November 2014 führen allerdings von sich aus noch zu keiner flächendeckenden Versorgung mit partizipativen Elementen der Mitentscheidung als ein wesentlicher Bestandteil einer breitenwirksamen Mitentscheidungskultur.

2024-04-28_schlaining_workshop_erfolgreiche-beteiligungsprojekt-in-klimafragenMit Bündnissen Widerstände überwinden

Wie damals in Frankreich erfolgt bei den „privilegierten Ständen [auch heute k]ein Verzicht auf ihre Vorrechte freiwillig und aus Einsicht„. Jetzt übernehmen zu wollen, um die Demokratie zu stärken, braucht zuerst unser Engagement in lebendigen und damit starken Bündnissen zwischen verschiedenen Playern der Zivilgesellschaft.

Bild: Arno Niesner

2024-09-03_allianz-fuer-einen-fairen-beitrag-der-reichsten


Beispiel für ein erfolgreiches Bündnis

von über 50 Organisationen:

2024-05-15_Mehr-Demokratie_Newsletter-Mailing
Europa, Deutschland, Schleswig Holstein, Kiel, Rathausplatz, Mehr Demokratie e.V., Volksinitiative Rettet den Bürgerentscheid

2024-08-10_Allianzen-reichen-nicht_wir-brauchen-auch-Events_Pass-Egal-Wahl

Zukunft braucht Resilienz

2023-08-05_Einladung-Gruendung_Plattform_PRO_Bundes-BuergerRatIn guter Absicht werden Jugendliche im Rahmen eines zweijährigen Programms zu Gedenkfahrten eingeladen, denn: „Wer vor Ort erlebt hat, wohin Nationalismus und Rassismus führen, wird mit viel größerer Überzeugung für unsere freiheitliche Demokratie, eine vielfältige Gesellschaft und ein friedliches Europa eintreten und diese Überzeugung auch an die nächste Generation weitergeben.“ Derlei Anstrengungen sind wichtig, doch zeitliche Begrenzung und das fehlende flächendeckende Angebot sind weder nachhaltig noch ambitioniert genug.

2023-08-08_Promotionskolleg_Stephan-Lessenich_Grenzen-der-Demokratie

Inhalt: Individuelle Gesundheit und DemokratieBürgerbeteiligung kommt in ModeDas sagt die ForschungSchlussbemerkungen: Zweikammermodelle mit Losverfahren, Aufruf zu Handeln

Handeln als Therapie

Um einer „Wiederholung der Geschichte“ zu entkommen und gleichzeitig in eine „gute Zukunft“ führen zu können, braucht es größere Anstrengungen als Erinnerungen wach zu halten. Denn noch so umfangreiche Bemühungen darum führen ins Leere bei einer gleichzeitig stattfindenden Politik 2017-04 Suedwind-Magazin - Robert-Sommer: Gesellschaft reproduziert bewusst Randsozialer Ausgrenzungen – Stichwort: „selektive Responsivität„. Wir stellen dann zwar fest: „Armut frisst Demokratie“ (s. a. „Studie: Armut ist Risiko für Demokratie …„), unser Handeln zur Abwendung von Deklassierung jedoch ist noch nicht ausreichend fokussiert auf die Erzielung von „demokratischen Innovationen“ beim „institutionellen Design“ (Kübler/Leggewie/Nanz, S 76). Stattdessen glauben viele, „mit [Anm.: diskursiver] Bildungspolitik für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen zu können.“ (Dierk Hirschel) Für Menschen mit Ressentiments als der „gefährlichste[n] Krankheit für die Demokratie“ sind nicht „Erkenntnis und Wissen“ das Ziel der Therapie, sondern die Fähigkeit, „zum Handeln zu gelangen“. (s. Cynthia Fleury) Bereits ausgearbeitete Ideen und Visionen liegen stattdessen brach und bleiben weiter unangetastet. So fehlen nicht nur den Jugendlichen in Sachsen-Anhalt und anderswo ausreichend Perspektiven, um sich mit vollem Elan am Bau für die gemeinsame Zukunft einer offenen und 2023-07-22_Lehrer-News_Jugendstudie-2022_der_Vodafone-Stiftung-Deutschlandprosperierenden Gesellschaft, einer resilienten Demokratie zu beteiligen. Zudem fehlt es ihnen auch an „Macht […], die Verteilungsordnung mitzugestalten.“ (S. Lessenich, S 33) Doch genau darin liegt eine vermutete Begründung: denn wieso sollte sich jemand für den gemeinsamen Bau einer Zukunft „abrackern“ wollen, die vermutlich nie die eigene sein wird?

„Kluge Leute“ helfen uns aber auch nicht weiter, um ins Handeln und damit zu notwendigen Reformen auf dem Weg zu mehr Partizipation zu gelangen. Sie wollen Milo Rau gemäß lieber „Recht […] behalten“ oder appellieren an die Vernunft des Einzelnen (vgl. Thilo Bode) und so stützt die „Uneinigkeit der Wohlmeinenden“ vielmehr „die herrschenden Verhältnisse“ als sie auf eine bessere Zukunft vorzubereiten. 2023-09-25_deutschlandfunk-nova_twitter_die-distanzierte-mitte_andreas-hoevermann_ausschnittAlternativ dazu auf eine derart große Krise zu hoffen, „dass es auch der letzte Trottel begreift“ (Philipp Blom, 2020), kann mitunter fatal enden. Besser, wir setzen ganz im Sinne von Milo Rau auf „die ‚praktischen Solidaritäten‘ […], die ‚reale Utopien‘ aufmachen.“ Sich mit den möglichen Zukünften zu beschäftigen macht zudem glücklicher. Florence Gaub: „Dafür brauchen wir das Wissen, das Handwerkzeug, die Kultur und auch die Institutionen.“

Sir Karl R. Popper: „…; wir müssen Institutionen konstruieren, …“

Breitenwirksame Kunst – beispielsweise „One Three Some“ von Danae Theodoridou im Rahmen von Demokratiefestivals – könne dabei als wesentlicher Hebel dienen: „Sie müsse sich herausbewegen, um eine größere Zielgruppe zu erreichen, sagt Milo Rau, der Kunst mit politischem Aktivismus verbindet.“

2023-09-22_SWR-Kultur_Milo-Rau_Kunst-als-Hebel

Mitbestimmung für die Vielen

Wenn wir nicht wollen, dass es eine Demokratie gibt, in der Mitbestimmung immer mehr zu einem Privileg der Bessergestellten wird, muss man gegensteuern. (AK Wien, 2022)

Martin Jäggle hat eine mögliche Antwort, die gleichzeitig als Handlungsanweisung für politisch Aktive zu lesen ist:

2022-11-06_Suedwind-Magazin_Editorial_Martin-Jaeggle_Demokratie-braucht-mehr-Partizipation

Individuelle Gesundheit und Demokratie

Ab diesem gleichnamigen Kapitel verknüpft Cynthia Fleury in ihrem Buch „Hier liegt Bitterkeit begraben“ zwei üblicherweise getrennt untersuchte Welten: die des Individuums mit jener der Gesellschaft als soziales Phänomen. Dabei kommt sie zu Überlegungen, die ich unter dem Begriff resiliente Demokratie einordne:

Die Verwendung der Gesundheit als Metapher hilft uns, die innere Dynamik des Subjekts und der Demokratie zu erfassen. (S 281)

Die psychische Gesundheit der Individuen und die demokratische Gesundheit sind miteinander zu verbinden, indem man nach einem guten Funktionieren der Gesellschaft fragt, nach ihrer Fähigkeit, ihrer eigenen Entropie zu widerstehen, und nicht eine unerschütterlich tugendhafte Ausübung demonstriert. Bei guter Gesundheit zu sein bedeutet, krank zu werden und wieder aufzustehen, wie uns Canguilhem und viele andere gelehrt haben. Die demokratische Gesundheit teilt dieselbe Fähigkeit: Sie muss in der Lage sein, mit ihren inneren Störungen fertigzuwerden, darf nicht von ihnen paralysiert werden und muss einen Weg finden, um Fortschritte zu machen, auch wenn es immerwährende Gegenwinde gibt. Diese zeugen nicht unbedingt von einem gesunden Pluralismus. (S 261)

Sobald man das Ressentiment als eines der gefährlichsten Übel für die psychische Gesundheit des Subjekts und die Funktionsfähigkeit der Demokratie bezeichnet, ist es wichtig zu verstehen, wie man sich vor ihm schützen kann, sicher institutionell, aber auch klinisch, … (S 264)

2022-10-23_Inhalte-Postkarte_Institutionalisierter-Pluralismus

Bürgerbeteiligung kommt in Mode

„Der Bürger*innenrat ist eine Form der Zusammenarbeit zwischen Bevölkerung und Politik, stimuliert kommunikativen Austausch und leistet somit auch ein Stück weit politische Bildung (vgl. dazu Lederer 2009). Unter qualitätsvoller Moderation werden mit zufällig ausgewählten 2023-09-11_Telfser-Demokratiewoche_Telfer-Demokratiepfad_2022Bürgerinnen und Bürgern einer Gemeinde, Region oder eines Landes an einem Wochenende Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen ausgearbeitet. Aufgrund der Zufallsauswahl handelt es sich bei den Teilnehmenden um ’normale‘ Personen, die über keinerlei spezielles Vorwissen oder spezielle Qualifikationen verfügen. Insbesondere vertreten sie dadurch keine Interessengruppen, sondern ihre persönliche Meinung. Die Teilnehmenden eines Bürger*innenrats werden dazu motiviert, Themen und Anliegen zu einer bestimmten Ausgangsfrage oder einem definierten Themenfeld an diesen eineinhalb Tagen zu diskutieren. Aufgrund der auswahlbedingt vielfältigen Zusammensetzung der Gruppe geht es mit ziemlicher Sicherheit um Fragen, die viele Menschen in der Gemeinde bewegen. Zu diesen Themen diskutiert der Bürger*innenrat Thesen, Sichtweisen, Lösungsideen und Empfehlungen. …

Der Bürger*innenrat ist ein unparteiisches Sprachrohr der Bevölkerung, bringt Politik und Bürgerinnen und Bürger näher zusammen und ist als Ergänzung zum repräsentativen System zu sehen. …

2023-08-22_Armutskonferenz-2020_Michael-Lederer_Politik-und-Zufall

2023-08-23_buergerrat-de_nenad-stojanovic_buergerraete-sind-eine-antwort-auf-den-populismusAbschließend kann noch einmal festgehalten werden, dass das Zusammenspiel unterschiedlicher Formen der politischen Beteiligung entscheidend für die Demokratiequalität ist. Es geht um eine gute Ausgewogenheit der repräsentativen Demokratie mit Formen der direkten und partizipativen Demokratie. Letzteres bedeutet nicht nur mehr Arbeit, die sich effektiv lohnt, sondern auch eine neue Art der Politik voranzutreiben.“ (Michael Lederer, Die Armutskonferenz et al. [Hrsg.] [2020]: Stimmen gegen Armut. BoD-Verlag)

2023-08-19_baden-wuerttemberg_barbara-bosch_christian-gantner_chancenreicher-lebensraum

2023-09-20_Postkarte_Buergerraete-kommen-in-Mode_VS

Kritik und Ausblick

2023-09-18_Zandonella_Ehs_Auswirkungen-soziale-Ungleichheit-auf-DemokratieAngesichts wiederkehrender Erfolge rechtspopulistischer Parteien – Philipp Ther bevorzugt den Begriff „Rechtsnationalisten“ (S 56) – waren die bisherigen Bemühungen um „Demokratie und Toleranz“ im Rahmen von Demokratiebildung unzureichend. Auch die „soziale Schieflage der Wahlbeteiligung“ konnte damit nicht beseitigt werden. Daran wird sich wohl auch in Zukunft nichts ändern. Im Sinne von Willy Brandt sollten wir daher endlich „mehr Demokratie wagen„, indem wir institutionelle Reformen zuerst anstreben, vorbereiten und dann durchführen.

2023-09-11_Buendnis-Demokratie-Toleranz_Treptow-Koepenick_Berlin

Fallweise durchgeführte Bürgerforen wie die „Citizens‘ Assemblies“ in Irland oder Bürgerräte des Deutschen Bundestages ab 2023 sind dafür ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer gleichwertigen Mitbestimmung der Vielen. Weiter unten werden wir sehen: es geht allerdings noch mehr.

Während die Beratungsergebnisse in Irland in der Legislative durchaus Berücksichtigung finden, ist in den meisten Fällen von Bürgerbeteiligungen nicht einmal dieser Aspekt gewährleistet. Ein besonders krasses Beispiel stellt diesbezüglich der im ersten Halbjahr des Jahres 2022 stattgefundene Klimarat in Österreich dar. Armin Schäfer und Michael Zürn bezeichnen die „Einführung von Bürgerhaushalten in Deutschland“ gar als „Pseudobeteiligungsmöglichkeiten“ (S 210). „Doch wer Beteiligung wünscht“, schreiben sie weiter, „muss die Bürgerinnen tatsächlich entscheiden lassen. Falsche Reformen sind solche, die entweder den Akademikerüberschuss verstärken oder primär symbolischen Charakter haben und somit die Schere zwischen Rhetorik und Realität wachsen lassen.“ Ihr Vorschlag: „Die Beteiligung sollte daher auf Los- oder ähnlichen Verfahren beruhen. Dadurch wird die Mitwirkung von denen befördert, die sonst nicht mitmachen würden.“


2023-08-02_buergerrat-de_ostbelgien_integration_menschen-mit-migrationshintergrund

Wer Bürgerbeteiligung ernst meint, lädt dazu nicht nur „Menschen mit Migrationshintergrund“ ein, sondern stellt dafür auch dauerhafte institutionelle Ressourcen zur Verfügung. Beispiel: Bürgerdialog in Ostbelgien. Noch nicht einmal richtig eingerichtet diente dieser bereits im Jahr 2021 als Vorbild bei der Gründung des Ständigen Bürgerrates in Paris (> paris.fr).


2024-05-21_buergerrat_citizens-assembly_finanz-und-wirtschaftskrise

Demokratie-Liebe versus Krisenpolitik

Bedauerlicherweise brauchte es dazu wie in Irland, so auch in diesen beiden Fällen erst krisenhafte Erfahrungen: in Belgien war die Geburtsstunde der Bürgerbeteiligung im Jahr 2011, nach mehr als einem Jahr ohne Regierung und in Paris waren es die Gelbwesten-Proteste. Im Jahr 2019, „mitten in der Krise um die Gelbwesten, wurde in einer Bürgerbefragung, die nach einer Art ‚großer Debatte‘ auf Pariser Ebene organisiert wurde, die Schaffung eines Gremiums gefordert, das den Bürgern die Möglichkeit geben sollte, an der Gestaltung der Politik mitzuwirken.

‚Wir befinden uns in einer sehr angespannten Situation mit einer Rekordzahl an Nichtwählern und einem großen Misstrauen in der Gesellschaft gegenüber den Institutionen, daher war es der richtige Zeitpunkt, diesen Bürgerrat einzuberufen‘, meint der gewählte Vertreter des 15. Arrondissements.“ (buergerrat.de)


Am Ende ist zwar klar erkennbar, dass ein Land nicht länger demokratisch regiert wird, weil die Medien nicht frei, die Opposition behindert, die Gewaltenteilung untergraben wird und Gerichte gleichgeschaltet sind, aber wann genau der erste Schritt in diese Richtung erfolgt, entgeht den Zeitgenossen häufig (vgl. Przeworski 2020, Kap. 10). Wann der ‚Vorkrieg‘ um das Überleben der Demokratie beginnt, ist auch deshalb schwierig zu erkennen, weil die neuen Autokratinnen für sich reklamieren, mehr Demokratie wagen zu wollen, und weil sie auf reale Probleme existierender Regime verweisen können. Funktionierte die Demokratie einwandfrei, böte sie ihren Gegnerinnen weniger Angriffsflächen.

Armin Schäfer/Michael Zürn
in: Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus.
Bonn, 2021, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, S 57 f


2023-08-20_Philipp-Ther_Das-andere-Ende-der-Geschichte_seid-wachsam-und-engagiert-euch
Siehe auch Liste an Aufzählungen zum Thema: „Was von der Kurz-Regierung bleibt …„. Ergänzender Hinweis zur UN-Behindertenrechtskonvention: „Rückschritte zeigen sich auch bei inklusiven Maßnahmen: Das vielversprechende Projekt der inklusiven Modellregionen wurde 2019 eingestellt, neue Ideen sind nicht in Sicht.

Aktiv-Demokrat:innen sollten nicht länger warten bis sich bestehende Krisen zu einer Staatskrise auswachsen. Sinnvoller ist das präventive Engagement in Richtung Reform und Ausbau der (insbesondere in der Schweiz) bewährten Konkordanzdemokratie als „Gegenmodell zu[r] Konkurrenzdemokratie„. 2023-08-07_momentum-quarterly_tamara-ehs_Die-demokratische-Gleichheit-des-Loses_Aus-der-Nische-des-Rechtswesens-zurueck-in-die-PolisVorreiter in dieser Hinsicht ist das Bundesland Vorarlberg mit seinem Erfolgsmodell bürgerlicher Beteiligung: „Viel Erfahrung mit diesem Instrument hat Vorarlberg. Es gilt, was die institutionelle Verankerung von Bürgerbeteiligungsprozessen angeht, international als Vorbild.

2023-08-09_Frankfurter-Hefte_Initiativrecht_Buergerbeteiligung_2021

Bereits vor fünfzehn Jahren hat das Büro für Zukunftsfragen, eine Stabstelle, die direkt dem Landeshauptmann zugeordnet ist, erstmals einen Bürgerrat einberufen. Ein voller Erfolg, weshalb konsultative Bürgerbeteiligungsverfahren 2013 in der Landesverfassung verankert wurden.“ (ORF, 2021)

Der andere BürgerRat: ein legislatives Kontrollorgan

Zumeist werden beratende (konsultative, deliberative) Ansätze diskutiert, ausprobiert und im besten Fall auch realisiert. Daneben bietet sich einem Land mit einem Zweikammerparlament noch die Möglichkeit eines Bundes-BürgerRates als zweite Kammer im Sinne eines Gemeinwohlcontrollings*. Siehe dazu Hinweise weiter unten in den Schlussbemerkungen zum Thema Birepräsentative Modelle mit Losverfahren.

*| Der Begriff „Gemeinwohlcontrolling“ wurde in einem vergleichbaren Zusammenhang erstmals von Prof. Birger Priddat in einem 3sat-Interview im Jahr 2017 verwendet. Siehe hier eingebettetes Interview.

2023-07-28_Furche_Tamara-Ehs_Mit-der-Gleichheit-des-Loses-gegen-elitaeren-Populismus

Das sagt die Forschung

2023-08-02_Armin-Wolf_ZiB2_Michael-J-Sandel_Vom-Ende-des-GemeinwohlsSo deutlich wie sonst kaum jemand beschreibt Michael J. Sandel, US-amerikanischer Moralphilosoph und Professor an der Elite-Universität Harvard, den Zustand der Leistungsgesellschaft in den USA. Im Interview mit dem ORF meinte er: „Denen, die straucheln und zurück bleiben wird das Gefühl gegeben, sie sind selbst Schuld. Diese Haltung zerstört die Idee einer solidarischen Gesellschaft. Das nenne ich die ‚Tyrannei der Leistung‚.“ In seinem Buch „Vom Ende des Gemeinwohls – Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt“ aus dem Jahr 2020 wird er deutlicher:

„Die Reichen und Mächtigen haben das System manipuliert, um ihre Privilegien zu behalten; die Akademiker haben herausgefunden, wie sie ihre Vorteile an ihre Kinder weitergeben können, wodurch die Meritokratie zu einer Erbaristokratie geworden ist.“ (S 191; vgl. Philipp Blom)

Wir müssen nicht erst über den großen Teich blicken, um zu sehen, was auf uns zukommen wird. Denn die gespaltene Gesellschaft ist bereits in Europa angekommen.

2023-08-01_pw-portal_Tamara-Ehs-rezensiert-Schaefer-Zuern_demokratische-RegressionVgl. Cornelia Koppetsch: Die durch Deklassierung „verlorenen Einsätze und Investitionen des Subjekts“ sollen durch „Re-Klassifizierungsangebote“ wieder zurückgebracht werden.

Krise der repräsentativen Demokratie

Bereits im Jahr 2012 stellte Hubert Kleinert „Auszehrungserscheinungen“ der „klassischen Demokratien des Westens“ fest. In seiner Ursachenanalyse weist er darauf hin, „dass eine Reihe von Bedingungen, die für den Erfolg der Parteiendemokratie und die Integrationskraft des repräsentativen Systems in Deutschland und anderen vergleichbaren Ländern nach 1945 vorlagen, so nicht mehr vorhanden sind.“ Am Tag vor Weihnachten 2013 titelt Wolfgang J. Koschnik gar: „Die repräsentative Demokratie frisst ihre Kinder„.

2023-08-01_bpb_armin-schaefer_michael-zuern_die-demokratische-regressionTamara Ehs am Schluss ihrer Rezension des Buches „Die demokratische Regression“ von Armin Schäfer und Michael Zürn: „Politiker*innen von nicht-autoritärpopulistischer Prägung, welche dieser Tage noch knapp Wahlen gewinnen (Joe Biden, Emmanuel Macron und andere), sollten nicht froh sein, dass es ’noch mal gut gegangen ist‘, sondern dringend an der Demokratisierung der 2023-08-01_Armin-Wolf_Heinz-Fischer_2023-01-03Demokratie arbeiten.“ Die „Entfremdung von der Demokratie“ begünstigt den „Aufstieg autoritär-populistischer Parteien. […] Das Gefühl des Nicht-gehört-Werdens hat dabei eine klar sozioökonomische Komponente, die wiederum auf die Schieflage in der parlamentarischen Repräsentation repliziert (126).“

2023-08-01_pw-portal_Tamara-Ehs-rezensiert-Schaefer-Zuern_demokratische-Regression_Empfehlungen_Reformvorschlaege

Im folgenden Plädoyer für Bürgerräte als – ganz im Sinne von Jürgen Habermas – deliberative Institutionen wird versucht, Fragen zu beantworten, die es vor der Planung und Durchführung von Bürgerräten zu beantworten gilt:

„Wie inklusiv sind Bürgerräte, wer nimmt an ihnen teil, wie lassen sich diese mit den repräsentativen Institutionen wie dem Parlament kombinieren, welches Design der Bürgerräte verstärkt die demokratisierenden Effekte, welche Regelungen produzieren problematische Konsequenzen?“

Wolfgang Merkel, Filip Milačić und Andreas Schäfer haben in ihrer Studie „Bürgerräte“ versucht, diese für uns zu beantworten. Hier eine Sammlung von Textstellen aus deren Einleitung:

203-07-26_FES-Studie_Buergerraete_Sept-2021

Fakten versus negative Kritik

Mittlerweile gibt es auch zunehmend Kritik an „mehr Bürgerbeteiligung“. So würden Bürgerräte sogar „das Vertrauen in die Politik“ zerstören. Weil die Fakten allerdings eindeutig für eine flächendeckende Mitbestimmung durch verschiedene Modelle der Bürgerbeteiligung sprechen, ist die Kritik daran – aus durchaus verständlichen Beweggründen – mitunter polemisierend und/oder inhaltlich unrichtig. Schließlich aber heben jahrhundertelange Anwendungen die Vorteile von Losverfahren durch mehr „Wohlstand, Prosperität und Kultur“ noch dadurch hervor, dass sie gleichzeitig „politische Stabilität“ gewährleisten, „trotz großer interner Unterschiede zwischen rivalisierenden Gruppen“. (Gegen Wahlen, 7. Aufl., 2021, S 83)


2023-03-08_eutopia-ruft_eine-einladung-zur-mitwirkung


Schlussbemerkungen

2023-09-23_Kulturstrategie-Steiermark_Zitat_DeuflhardAuf dem Weg zu mehr Demokratie durch institutionalisierte Bürgerbeteiligung liegt noch viel Arbeit vor engagierten Demokratiearbeiter:innen. Um erfolgreich im Sinne von „dauerhaft mitbestimmend“ sein zu können, ist es nach Erica Chenoweth förderlich, 3,5 Prozent der im jeweiligen Land lebenden und Steuer zahlenden Mitmenschen zu motivieren. Diesbezüglich können Demokratie-Festivals wertvolle Beiträge liefern.

Hilfreich sind dabei auch Überlegungen der Politikwissenschafterin Tamara Ehs. Sie hat im ersten Pandemiejahr ihren Essay „Krisendemokratie“ veröffentlicht, in dem sie sieben Lektionen aus der Coronakrise beschreibt. Eine davon lautet: „Pluralismus der Meinungen ist das Wesen der Demokratie. Die Vielfalt zu hören und aufzunehmen ist Gelingensvoraussetzung des demokratischen Staates und führt zu besseren Entscheidungen.“ Das gilt nicht nur für Wahlen in Krisenzeiten, auf die sie diese Lektion bezieht. Deutlich wird dies im Schlusskapitel „Utopie“, in dem sie festhält: „Im Grunde ist es auch egal, wo wir mit der Demokratisierung beginnen; wichtig ist nur anzufangen.“

2023-08-11_Beteiligungsstrategie-Land-Vorarlberg_Mitentscheiden-statt-nur-beraten_S-23

Birepräsentative (Zweikammer-)Modelle mit Losverfahren

Nachfolgend beschreibt sie verschiedene Ansatzpunkte für demokratiestärkende Veränderungen und zivilgesellschaftliches Engagement. Einen für mich zentralen Punkt formuliert sie so: „Um Lehren aus der Krise zu ziehen, muss man bereits den Regelzustand verändern. Hierzu könnte man […] auch ohne Gesetzesänderung die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer interpretieren.“ (Krisendemokratie, S 101 f) Zudem müssen im Unterschied zu Deutschland die Mitglieder des Bundesrates in Österreich nicht als Abgeordnete in die jeweiligen Landtage gewählt worden sein. Sie müssen lediglich zum Landtag wählbar sein (Art. 35 (2) B-VG).

An anderer Stelle konkretisiert Tamara Ehs mit den Worten: Für Österreich würde dies auf Nationalstaatsebene bedeuten, den Bundesrat als Bürgerrat neu zu gründen.

2023-08-18_derstandard_Milo-Tesselaar_Buergerrat-statt-Bundesrat
Milo Tesselar schließt mit den Worten: „Um gestärkt aus der gegenwärtigen Krise unserer Demokratie zu gehen, sollten wir diese Möglichkeit des Bürgerrats im Parlament ernsthaft diskutieren. Österreich muss dabei aus Eigeninteresse vorausgehen. Mit einem Bürgerrat statt des Bundesrats können wir unsere Demokratie wesentlich verbessern und nebenbei ein Vorreiter in Europa und Vorbild für die Welt werden.“

2023-08-04_Land-Stmk_Kulturstrategie_Primas-Schrempf_lebendige-Demokratie
Beispiele für „Formate und Übungsfelder“, die es zu etablieren gilt

„Wenn die Parteien sich dafür entscheiden, die in den Bundesrat zu entsendenden Personen aus einem per Los bestimmten Pool von Anwärter*innen auszuwählen und diese dann gemäß den gesetzlichen Regeln des B-VG durch den Landtag zu wählen, ist diese Vorgehensweise grundsätzlich zulässig.“ (Gemini, 2025-12-12)

Die Idee eines partizipativeren Parlamentarismus ist nicht neu. So haben bereits Anthony Barnett & Peter Carty im Jahr 2008 (s. Anmerkung 7) darauf hingewiesen, das House of Lords, die zweite Kammer des britischen Parlaments, „nicht abzuschaffen oder ihre Kompetenzen einzugrenzen, sondern den Bestellungsmodus dahingehend zu ändern, dass ein Teil seiner Mitglieder künftig unter allen britischen Bürgern ausgelost würde.“ (Hubertus Buchstein, 2009) Siehe auch Überlegungen des WBGU zur Einführung einer „Zukunftskammer„. Das war im Jahr 2011. Im selben Jahr wurde der „ursprünglich für Wien tätige VerbandAktion 21 – pro Bürgerbeteiligung „auf ganz Österreich ausgeweitet“.

2023-07-31_aktion21-pro-buergerbeteiligung

Besonders ausführlich sind die Überlegungen des belgischen Politikwissenschaftlers und Sachbuchautors David Van Reybrouck in seinem Buch „Gegen Wahlen“:

2022-11-29_Van-Reybrouck_Vertrauenskrise

Diese Lehren zieht David Van Reybrouck ua aus seinem „flüchtige[n] Überblick über die Geschichte“: „Der Gebrauch des Losverfahrens fiel häufig mit dem Höhepunkt von Wohlstand, Prosperität und Kultur zusammen“, das Losverfahren sorgte für „weniger Konflikte und größere Beteiligung der Bürger“, es wurde „immer in Kombination mit Wahlen praktiziert, um Kompetenz zu garantieren“* und „Staaten, die das Losverfahren anwandten, erlebten häufig Jahrhunderte der politischen Stabilität, trotz großer interner Unterschiede zwischen rivalisierenden Gruppen.“ (S 82 f)

*| Sich auf Montesquieu und Rousseau beziehend schlussfolgert Van Reybrouck: „Die zwei wichtigsten Bücher über politische Philosophie aus dem achtzehnten Jahrhundert stimmen […] darin überein, dass das Losverfahren demokratischer sei als Wahlen und dass eine Kombination beider Methoden für eine Gesellschaft von Vorteil sei. Die aleatorischen und elektoralen Verfahren könnten einander stärken.“ (a. a. O., S 85; vgl. Hubertus Buchstein)

2023-09-29_Van-Reybrouck_Demokratie-Blaupause_Terrill-Bouricius

Auf dem Weg zu einer partizipativen Demokratie gilt es „zahlreiche Hindernisse“ zu überwinden. Diese beiden stellen dabei die größten Herausforderungen dar:

  • Herkömmliche politische Eliten sind von sich aus allenfalls in Sonntagsreden vom wohlstandsverbessernden Stabilisierungsfaktor einer Loskammer (House of Lots) überzeugt.
  • Das Fehlen einer attraktiven Kultur der Beteiligung macht es schwierig, dem Erfinden von „irgendwelche[n] Ausreden“ konstruktiv zu begegnen.

Eine Plattform PRO Bundes-BürgerRat könnte beispielsweise einen Arbeitskreis mit der Erstellung von Konzepten zur Überwindung dieser Hindernisse beauftragen. Let’s do it!


2023-10-18_Stiftung-Mitarbeit_Demokratie-wirksam-foerdern_Repraesentativitaet_mit-Anmerkung

Da die besseren Lösungen komplexer Aufgabenstellungen insbesondere in einer individualisierten Welt ganzheitliche Herangehensweisen erfordern, darf am Schluss auf diese Hinweise von Papst Franziskus, Michael Landau und Kurt Remele nicht verzichtet werden:

2023-10-02_Kurt-Remele_Aufrufe-zu-Handeln

Die gesellschaftliche Eingliederung der Armen

Der private Besitz von Gütern rechtfertigt sich dadurch, dass man sie so hütet und mehrt, dass sie dem Gemeinwohl besser dienen; deshalb muss die Solidarität als die Entscheidung gelebt werden, dem Armen das zurückzugeben, was ihm zusteht. Wenn diese Einsichten und eine solidarische Gewohnheit uns in Fleisch und Blut übergehen, öffnen sie den Weg für weitere strukturelle Umwandlungen und machen sie möglich. Eine Änderung der Strukturen, die hingegen keine neuen Einsichten und Verhaltensweisen hervorbringt, wird dazu führen, dass ebendiese Strukturen früher oder später korrupt, drückend und unwirksam werden.

EvG 189

2023-10-13_Radikale-Solidaritaet


Der Inhalt dieser Webseite als pdf-Datei mit einem Vorwort vom 7. Oktober 2023, dem „Welttag für menschenwürdige Arbeit„.

EuTopia ruft

Jeweiliger Link zu den Inhalten: Druck von unten durch fortschrittliche soziale Bewegungen, Losverfahren und Diskussion


Zu Eutopia, dem Land des Glücks, fühlen wir uns schon immer hingezogen. Wen wundert es also, dass bereits verschiedene Projekte danach benannt wurden. Die Sehnsucht nach dem Paradies, dem „guten Ort“, um eine weitere Bedeutung des Begriffs Eutopia zu verwenden, wird uns auch weiterhin begleiten. Wenn wir versuchen wollen, diesen Wunsch lebendig werden zu lassen, dann dürfen wir uns allerdings nicht die Mühe ersparen, die gegebenen Verhältnisse zu analysieren und allfällige Realisierungschancen zu erörtern. Danach erst sollten wir zur Tat schreiten bzw dazu einladen. Das Paradies auf Erden fällt schließlich nicht ohne unser Zutun vom Himmel.

Zunächst also die Analyse:

Beginnen wir unsere Untersuchungen bei den aktuellen Preissteigerungen, wie wir sie seit einem Menschenleben nicht mehr erlebt haben. Die damit verbundene Krise ist aber nur eine von mehreren, die uns seit einigen Jahren herausfordern.

Wie kam es dazu und welche Schritte können wir setzen, um deren Vermehrung einzubremsen und ihre Auswirkungen zu lindern?

Offensichtlich hat die zunehmende Krisenanfälligkeit unserer westlichen Gesellschaften etwas mit unseren politisch-wirtschaftlichen Gegebenheiten zu tun. Weil nur der Erfolg zählt haben wir uns in Abhängigkeiten begeben, durch die ein einziger Unfall im Suezkanal zu weltweiten und monatelangen Lieferverzögerungen führt. Hinzu kommen soziale Ausgrenzungen von Menschen und die zerstörerische Ausbeutung der Natur.

Lange Zeit wurden die Schattenseiten der willkommenen Wohlstandsvermehrung verschwiegen oder gar in Abrede gestellt. So veröffentlichte das Magazin Spektrum der Wissenschaft bereits im November 2015 die Hintergrundrecherche: „Wie Exxon den Klimawandel entdeckte – und leugnete“. Doch erst Jahre später wird breit darüber berichtet und diskutiert. Kaum bekannt sind auch die Analysen von Per Molander und Michael J. Sandel. Beide beschreiben dasselbe gesellschaftsimmanente Phänomen der Erbaristokratie. Wie sehr das in Leistungsgesellschaften unter Druck geratene Gemeinwohl mittlerweile Demokratien gefährdet, darauf weist der US-amerikanische Moralphilosoph Sandel in seinem 2020 erschienenen Werk „Vom Ende des Gemeinwohls“ hin: „Die Reichen und Mächtigen haben das System manipuliert, um ihre Privilegien zu behalten; die Akademiker haben herausgefunden, wie sie ihre Vorteile an ihre Kinder weitergeben können, wodurch die Meritokratie zu einer Erbaristokratie geworden ist.“ (S 191)

Drei Jahre davor berichtete Per Molander in der Originalausgabe von „Condorcets Irrtum – Warum nur ein starker Staat die Demokratie retten kann“ über Vergleichbares in Venedig:

„In bestimmten Situationen kann eine Meritokratie über die Aristokratie gestellt werden. Ein bekanntes Beispiel ist die spätmittelalterliche Verwandlung der Handelsrepublik Venedig von einer regionalen Großmacht mit dynamischer Ökonomie in einen Stadtstaat unter vielen. Die Entwicklung des Überseehandels im 9. und 10. Jahrhundert hatte dazu geführt, dass das Amt des Dogen, das in der Praxis vererbbar gewesen war, seit dem Jahr 1032 durch Wahlen besetzt wurde. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts wurde ein Kontrollgremium gebildet, der große Rat, das Machtzentrum der Republik. Er wurde jedoch zunehmend von einer Gruppe mächtiger Familien dominiert, und gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurden nach und nach mehrere Verfassungsänderungen vorgenommen, um den Zugang zu begrenzen. Die 1297 verfügte Schließung des Rats, La Serrata, die Venedig zu einer Erbaristokratie machte, wurde im Jahr 1319 endgültig besiegelt.“ Die Folgen waren damals wie heute dieselben: „… die Wirtschaftspolitik entfernte sich von den Prinzipien der Offenheit und des Wettbewerbs.“ (S 190, mehr dazu in: Erbaristokratie versus Gemeinwohl)

Genau an dieser Stelle befinden wir uns heute wieder. Das von Hans Kelsen mit besonderem Nachdruck eingeführte Kontrollgremium Bundesrat konnte in mehr als 100 Jahren kaum jemals im ursprünglichen Sinne wirksam werden. Deshalb gibt es die nicht in der Verfassung genannte Landeshauptleutekonferenz, wodurch die Interessen der Bundesländer nicht wie vorgesehen in die Gesetzgebung des Bundes eingebracht werden. Der Bundesrat als zweite Kammer des Parlaments erfüllt damit und aufgrund des praktizierten Klubzwangs innerhalb der politischen Parteien nur fallweise und mehr zufällig seine Funktion im Rahmen des föderalen Verfassungsprinzips. Viele fragen sich, wie diese Kontrollinstitution zu reformieren sei. Eine Überlegung dazu betrifft das Gemeinwohl als einen Ausdruck des republikanischen Verfassungsprinzips. Darüber später mehr.

Kommen wir zurück zu den Schattenseiten einer willkommenen Wohlstandsvermehrung und den jahrelang vernachlässigten Berichten über Exxon:

Am Ende des fossilen Zeitalters folgen nun – mittlerweile unvermeidlich – die Tage der Abrechnung. Hoffen wir, dass in klimapolitischen Fragen endlich mehr auf das sogenannte „einfache Volk“ gehört wird. Dieses wäre nämlich – das zeigen die Ergebnisse der Beratungen des Klimarates – durchaus bereit zu selbstbegrenzenden Maßnahmen. Der Appell des Klimaforschers Georg Kaser bei der Präsentation am 4. Juli 2022 lautete nämlich: „Und das möchte ich allen Entscheidungsträgern ans Herz legen: Sie würden um vieles weiter gehen, als es die Entscheidungsträger bisher geglaubt haben, weil sie verstanden haben, dass es notwendig ist.“ Zur Kritik an der Auswahl der Teilnehmenden ist folgendes anzumerken: zwar wurde keine Methode einer „aufsuchenden Beteiligung“ gewählt und dennoch war die Gesamtbevölkerung durch die mehr als 80 Teilnehmenden „breit repräsentativ“ vertreten.

Schicksal Bürgerbeteiligung am Beispiel Klimarat

2022-01-10_SDGs_Global-Marshall-Plan-Initiative-Land-SteiermarkObwohl die Durchführung des Klimarates auf einem Entschließungsantrag des Nationalrats beruhte, in dem „Abgeordnete von ÖVP, Grünen und Neos die Bundesregierung um die Einsetzung eines Klimarats ersucht[en], wie er im Klimavolksbegehren gefordert worden war“, meinte der ÖVP-Umwelt- und Klimasprecher Johannes Schmuckenschlager einen Monat vor Veröffentlichung der Beratungsergebnisse: „Ich kritisiere nicht die Bürger, die sich da engagieren, aber ich kritisiere das Gremium als Institution.

Hier sind wir an einem interessanten Kritikpunkt angelangt. Denn nach Hans Kelsen, dem „Vater der Verfassung“ Österreichs, sind „nicht das Volk (dessen Wille ohnehin nur ein fiktiver sei), sondern die Republik und ihre Institutionen“ souverän.

2023-05-22_Rousseau_englische-Volk-glaubt-frei-zu-sein_Gesellschaftsvertrag

2023-12-13_SN_Parteitaktik-versus-Gemeinwohl_Auszug
Zudem gibt es Repräsentationslücken, die nicht einfach durch neue Parteien behoben werden können: https://demokratiefestivals.net/2023/10/19/mitentscheiden/#comment-4

Genau darum geht es aber in einer Demokratie, dass – ganz im Sinne von Jean Jacques Rousseau – der Gemeinwille regiert und nicht die „Summe der individuellen privaten Einzelinteressen„, die sich aus „familiäre[n] oder wirtschaftliche[n] Bindungen […] bilden. […] Diese Mahnung lässt sich auch gegen politische Parteien wenden, sofern sie Klientelpolitik treiben.“

Wie bereits erwähnt, zählt heute mehr denn je nur der private Erfolg jedes Einzelnen. Von „einer spezifischen vertu oder Tugend, an das Gemeinwohl des Ganzen zu denken“ ist in wirtschaftsliberalen Kreisen nichts zu erkennen. Dies wäre ja geradezu blasphemisch hinsichtlich der zu vertretenden Ideologie eines grenzenlosen Wachstums. Das gilt für profitmaximierende Unternehmen ebenso, wie für politische Parteien. Während uns noch die Worte von Papst Franziskus aus seinem apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium aus dem Jahr 2013 gut in Erinnerung sind, die da lauten: „Diese Wirtschaft tötet.“ (S 238), träumt derselbe Papst mittlerweile von einer „anderen Wirtschaft“, wenn er sagt: „Die Wirtschaft muss immer sozial sein und dem Sozialen dienen.

Um dies erreichen zu können, braucht es das demokratische Gegenüber als Regulator für den wirtschaftlichen Wettbewerb. Stattdessen führte dieser zu einer Demokratie, von der Emanuel Towfigh im Jahr 2015 meinte: „Aber die Parteiendemokratie hat sich offenkundig überlebt, die Nachteile dieses Systems werden immer deutlicher sichtbar.“

Fast drei Jahrhunderte davor formulierte Jean Jacques Rousseau daher folgende Überlegungen: „Um wirklich die Aussage des Gemeinwillens zu bekommen, ist es deshalb wichtig, dass es im Staat keine Teilgesellschaften gibt und dass jeder Bürger nur seine eigene Meinung vertritt. […] Wenn es aber Teilgesellschaften gibt, ist es wichtig, ihre Zahl zu vervielfachen und ihrer Ungleichheit vorzubeugen […].“ (Vom Gesellschaftsvertrag …, 320 ff) Wollen wir nun – endlich -, dass mehr das Gemeinwohl „regiert“ und weniger die Partikularinteressen der großen Einflüsterer, dann stellt sich uns diese nächste Frage:

2023-05-08_UNRISD_Krisen-der-Ungleichheit_Allianzen

Wie bringen wir nun den aus zwei Kammern bestehenden Vertretungskörper Parlament dazu, mehr auf alle Menschen im Land zu hören, und nicht nur auf ihre jeweiligen Teilgesellschaften?

2024-05-17_Standard_Jugendstudie-Oe3_Zukunft-der-WeltGemäß den Erhebungen der Politikwissenschafterin Erica Chenoweth müssen wir lediglich 3,5 Prozent der Bevölkerung mobilisieren (vgl. Harald Welzer), um ein „Umschwenken der Politik“ zu erzielen. Wichtige Nebenerkenntnis ihrer Forschungen: „Gewaltfreie Bewegungen führten in 53 Prozent zu politischen Veränderungen, verglichen mit nur 26 Prozent bei den gewalttätigen Protesten.“

Von diesen Untersuchungsergebnissen dürfen wir uns aber auch nicht blenden lassen für unser eigenes Tun. Denn aus dem Lichtermeer vom 23. Jänner 1993 in Wien ging zwar die NGO SOS Mitmensch hervor, doch Helmut Schüller als einer ihrer Initiatoren stellt 30 Jahre danach ernüchtert fest: „Denn so, wie es aussieht, ist es noch einigermaßen weit zu einer Politik für Geflüchtete, die ihr Maß an den Menschenrechten nimmt.“ (MO 69: Geflüchtete als Spielball)

Seit 2013 bietet dieselbe Flüchtlingsorganisation daher allen Steuerzahlenden ohne österreichischen Reisepass die Möglichkeit einer Stimmabgabe via „Pass Egal Wahl„. Trotz des hohen Bekanntheitsgrades der Organisation und der bisherigen Erfolge wurde erst neun Jahre nach Beginn der Aktion erstmals im Jahr 2022 ein Wahllokal in der AK Wien eingerichtet.

Neben den bekannten Abwehrmechanismen zur Verteidigung der bereits erwähnten Klientelpolitik gilt es auch noch Widerstände in der „medialen Berichterstattung“ zu berücksichtigen. Co-Autor Quirin Dammerer zu den Ergebnissen der im Mai 2021 publizierten Studie „Die Vermögenssteuer-Debatte in österreichischen Tageszeitungen“: „Es ist interessant, dass wir auf der einen Seite sehen, dass es Mehrheiten für eine Vermögenssteuer in der Bevölkerung gibt und gleichzeitig diese veröffentlichte Meinung stark von dieser befürwortenden Haltung abweicht.“

2023-12-11_SN_Alexander-Purger_Durchsetzbarkeit-von-Reformen-in-der-Demokratie_vorausschauende-Politik

Wo setzen wir also an, wenn es darum geht, sich als Gesellschaft für kommende Krisen besser vorzubereiten?

Mit dieser Frage verlassen wir nun endgültig die Analyse und gelangen zum konstruktiveren Teil, genauer: zu konstruierenden Aspekten, die uns künftige Krisen leichter bewältigen helfen sollen oder gar vermeiden. Vielleicht sind es wieder die Jungen wie Greta Thunberg, die den älteren Generationen darin ein Vorbild sein können, aktiv zu werden. So stellt auch Selina Thaler in ihrem UniStandard-Beitrag „Nur nicht abstürzen“ fest: „In all den Krisen seien viele Junge politisch aktiv geworden. Die Welt zu einem besseren Ort zu machen sei für einige ein Antreiber.“

Die nächste Frage wird noch deutlicher:

Wo könnten wir ansetzen und wie sollten wir uns dann engagieren, um 3,5 Prozent unserer Mitmenschen zu motivieren, politisch aktiv und damit auch erfolgreich zu werden?

Die Politikwissenschafterin Tamara Ehs hat im ersten Pandemiejahr ihren Essay „Krisendemokratie“ veröffentlicht, in dem sie sieben Lektionen aus der Coronakrise beschreibt. Eine davon lautet: „Pluralismus der Meinungen ist das Wesen der Demokratie. Die Vielfalt zu hören und aufzunehmen ist Gelingensvoraussetzung des demokratischen Staates und führt zu besseren Entscheidungen.“ Das gilt nicht nur für Wahlen in Krisenzeiten, auf die sie diese Lektion bezieht. Deutlich wird dies im Schlusskapitel „Utopie“, in dem sie festhält: „Im Grunde ist es auch egal, wo wir mit der Demokratisierung beginnen; wichtig ist nur anzufangen.“ Nachfolgend beschreibt sie verschiedene Ansatzpunkte für demokratiestärkende Veränderungen und zivilgesellschaftliches Engagement. Einen für mich zentralen Punkt formuliert sie so: „Um Lehren aus der Krise zu ziehen, muss man bereits den Regelzustand verändern. Hierzu könnte man […] auch ohne Gesetzesänderung die Geschäftsordnungen des National- und des Bundesrats partizipativer interpretieren.“ (S 101 f)

Tamara Ehs konkretisiert an anderer Stelle mit den Worten: „Für Österreich würde dies auf Nationalstaatsebene bedeuten, den Bundesrat als Bürgerrat neu zu gründen.

Die Idee eines partizipativeren Parlamentarismus ist nicht neu. So haben bereits Anthony Barnett & Peter Carty im Jahr 2008 (s. Anmerkung 7) darauf hingewiesen, das House of Lords, die zweite Kammer des britischen Parlaments, „nicht abzuschaffen oder ihre Kompetenzen einzugrenzen, sondern den Bestellungsmodus dahingehend zu ändern, dass ein Teil seiner Mitglieder künftig unter allen britischen Bürgern ausgelost würde.“ (Hubertus Buchstein, 2009)

Losverfahren

Fünf Jahre später veröffentlichte der Belgier David Van Reybrouck sein Buch „Gegen Wahlen„, in dem er die Vorteile des Losverfahrens (s. a. Hubertus Buchstein) bereits in der Athener Demokratie verortete und dabei folgendes hervorhob: sein Gebrauch „fiel häufig mit dem Höhepunkt von Wohlstand, Prosperität und Kultur zusammen“, es sorgte „in der Regel für weniger Konflikte und größere Beteiligung der Bürger“ und „wurde immer in Kombination mit Wahlen praktiziert, um Kompetenz zu garantieren“. Schließlich stellt er fest: „Staaten, die das Losverfahren anwandten, erlebten häufig Jahrhunderte der politischen Stabilität, trotz großer interner Unterschiede zwischen rivalisierenden Gruppen.“ (S 83) Sich auf Montesquieu und Rousseau beziehend meint Van Reybrouck: „Die zwei wichtigsten Bücher über politische Philosophie aus dem achtzehnten Jahrhundert stimmen […] darin überein, dass das Losverfahren demokratischer sei als Wahlen und dass eine Kombination beider Methoden für eine Gesellschaft von Vorteil sei. Die aleatorischen und elektoralen Verfahren könnten einander stärken.“ (a. a. O., S 85; vgl. Hubertus Buchstein) Diese Kombination bezeichnet Van Reybrouck als „birepräsentatives Modell“ oder „birepräsentatives System“.

Übertragen auf Österreich hieße das: die Wahl von Abgeordneten in den Nationalrat erfolgt wie bisher, die Entsendung in den Bundesrat als zweite Kammer des Parlaments jedoch erfolgt nicht mehr per indirekte Wahl in den Landtagen, sondern per Los.

 

Demokratie der Zukunft

2023-09-05_Markt-der-Zukunft_Festival

Mit einer partizipativer gestalteten Wahl der Abgeordneten zum Bundesrat könnten wir damit beginnen, unsere Gesetzgebung dem funktionierenden Bikameralismus in der Schweiz anzunähern. Die Ergebnisse des Klimarates stützen diese Überlegung ebenso wie der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) in Deutschland. Dieser hatte bereits im Jahr 2011 in seinem Hauptgutachten „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ die Einrichtung einer Zukunftskammer (Anm.: nicht zu verwechseln mit dem Zukunftsrat) empfohlen:

2023-03-26_mehr-demokratie-huerden„Um Zukunftsinteressen institutionell zu verankern, empfiehlt der WBGU zu erproben, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren um eine deliberative ‚Zukunftskammer‘ zu erweitern: Um interessens- und parteipolitische Einmischung zu vermeiden, könnte die Zusammensetzung dieser Kammer beispielsweise durch Losverfahren ermittelt werden.“ (S 10 f)

Damit sind wir an einem Punkt, an dem wir aufgerufen sind zu handeln. Unser politisches Engagement ist gefragt. Das gilt übrigens auch für die katholische Kirche und ihre Gläubigen. Denn anlässlich der „Ansprache von Papst Franziskus an die Schüler der von Jesuiten geführten Schulen in Italien und Albanien“ antwortete dieser auf eine Frage des Spanischlehrers Jesús Maria Martínez: „Wir müssen uns in die Politik einmischen, denn die Politik ist eine der höchsten Formen der Nächstenliebe, denn sie sucht das Gemeinwohl. Und die Laien müssen sich in der Politik einsetzen.“ Wir sind somit gefordert, uns für eine krisenresistentere Zukunft in einer resilienten Demokratie zu engagieren. Meine bisherigen Ausführungen mögen dabei unterstützend wirken.

2023-03-15_Paul-Ginsborg_Wie-Demokratie-leben_Zivilgesellschaft_aktive-und-kritische-Buerger

Abschließend habe ich nur noch folgende Hinweise:

Sofern die im Nationalrat, der Kammer mit gewählten Abgeordneten, getroffenen Entscheidungen nicht ausreichend partizipativ zustande gekommen sind, gilt das Wort: „Macht braucht Kontrolle“. In einem Artikel aus dem Jahr 2003 zur Reform des Bundesrates in Deutschland heißt es dazu:

„In vordemokratischen Zeiten wurde die Fähigkeit der Gemeinwohlsicherung sozial hervorgehobenen Persönlichkeiten zugeschrieben. Mit dem britischen Oberhaus hat sich bis heute eine solchermaßen geprägte Institution erhalten. Die Form der Bestellung, die sich mit der Idee der Gemeinwohlkorrektur von Parlamentsentscheidungen verbindet, ist diejenige der vererbten Mitgliedschaft in der Zweiten Kammer oder moderner: der Ernennung.“ In den beiden Jahrzehnten seither hat sich viel getan. Es wurden nicht nur Bücher und zahlreiche Artikel über die Verwendung von Losverfahren als Ersatz für die erwähnte „Ernennung“ geschrieben, es wurden mittlerweile auch unterschiedliche Bürgerbeteiligungsmodelle in verschiedenen Ländern erfolgreich in bestehende Entscheidungsstrukturen implementiert.

Weil EuTopia, das Paradies auf Erden, nicht vom Himmel fällt, liegt Krisenbewältigung weiterhin und weitestgehend in unseren Händen. Naturbedingte Krisen, beispielsweise aufgrund von Erdbeben, sind hier keine Ausnahme, denn durch erdbebensicheres Bauen kann viel Leid vermieden werden. Wer sich nicht um entsprechenden Erkenntnisgewinn bemüht, um ihn dann in steigende Lebensqualität zu transformieren anstelle von Wohlstandsvermehrung um jeden Preis, macht sich mitverantwortlich für vermeidbare Folgen. Um die zu bewältigenden Aufgaben gemeinsam besser lösen zu können, bedarf es einer stärkeren Demokratie als bisher. Neben der Wahrung von Bundesländerinteressen braucht es zur Abwehr von Spaltungstendenzen in einer immer differenzierteren Gesellschaft in gleichem Ausmaß eine Institution zur Durchsetzung nichtterritorialer Gemeinwohlinteressen. Wer sich dafür begeistern kann und engagieren will ist herzlich eingeladen zur Gründung eines interdisziplinären Arbeitskreises Demokratie. Glück Auf!

2023-03-08_eutopia-ruft_eine-einladung-zur-mitwirkung

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Diskussion

Abseits einer liberalen Demokratie lebt es sich weniger frei. Jede und jeder ist davon betroffen. Dies wird von Regierenden zum Teil erkannt, doch in vielen Ländern wird darauf – sofern überhaupt – nur halbherzig reagiert. Wer will schon ohne entsprechenden politischen Druck (von der Straße) etwas von seiner Macht abgeben? So werden „Mitbestimmung, Teilhabe und Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung“ im deutschen Entwurf für ein Demokratiefördergesetz (S 18) zum Idealfall einer Kultur erklärt. Institutionelle Vorkehrungen, die eine über die Bundesländer hinausreichende Mitbestimmung durch die Vielen (zB via Gemeinwohlkontrolle) auch ermöglichen, sind keine vorgesehen. Annäherungen an diesen Idealfall gibt es aber mittlerweile in einigen Ländern Europas. Um dies auch anderswo erreichen zu können und um die zivilgesellschaftlichen Bemühungen zu verstärken, bieten Demokratie-Festspiele eine ebenso unterhaltsame wie kulturell nachhaltige Möglichkeit. Karl R. Popper:

Wir dürfen nicht mehr andere Menschen tadeln, wir dürfen auch nicht die dunklen ökonomischen Dämonen hinter der Szene anklagen. Denn in einer Demokratie besitzen wir den Schlüssel zur Kontrolle der Dämonen. Wir können sie zähmen. Es ist wichtig, daß wir diese Einsicht gewinnen und die Schlüssel gebrauchen; wir müssen Institutionen konstruieren, die es uns erlauben, die ökonomische Gewalt auf demokratische Weise zu kontrollieren und die uns Schutz vor der ökonomischen Ausbeutung gewähren.

Karl R. Popper, in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2; geschrieben während des Zweiten Weltkriegs im Exil in Christchurch, Neuseeland

Unterstützt werden diese Überlegungen durch den im Jahr 2022 veröffentlichten UNRISD Flagship-Bericht „Krisen der Ungleichheit„. Darin lesen wir auf S 26:

Die Schlüsselfrage ist nun, wie wir die politische Unterstützung und die finanziellen Mittel für die Umsetzung dieser Vorschläge in die Praxis erreichen können. Die Bildung von Allianzen ist von entscheidender Bedeutung, um die Macht der Vielen wirksam zu nutzen, um den Einfluss der Wenigen zu zügeln und die bestehenden Machtstrukturen neu auszutarieren. […] UNRISD-Forschungen haben gezeigt, dass eine Kombination aus fortschrittlicher Führung, die vom Gemeinwohl und dem öffentlichen Interesse inspiriert ist, und Druck von unten durch protestierende Bürgerinnen und Bürger, fortschrittliche soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen, unterstützt von multilateralen Organisationen und Rahmenwerken, einen großen Beitrag zu nachhaltigeren und inklusiveren Entwicklungsansätzen leisten kann.

Die Durchführung von Veranstaltungen oder die Veröffentlichungen von Publikationen wie jene des „Zivilgesellschaftlichen Zukunftsbudgets 2017 – 2019“ oder des UNRISD-Berichts sind allenfalls ein Anfang auf dem Weg zu einer fortschrittlichen sozialen Bewegung in einer Größenordnung wie sie Erica Chenoweth beschrieben hat.

2024-04-28_KLeine-Zeitung_Tag-der-Arbeit_Streikminuten-Laendervergleich

2024-02-08_Die-Furche_Craftivism_Winiwarter_AusschnittVermutlich braucht’s noch mehr als bisher die Aktivierung einer Protestkultur mit ausreichend Sexappeal als die bessere Alternative zu Cocooning-Angeboten. Im Sinne einer Weiterentwicklung der Demokratie könnte ihr Ziel die institutionalisierte Gemeinwohlkontrolle sein, zB in Form der bereits ausführlich beschriebenen Zukunftskammer.

Daher zum Schluss nochmals der Hinweis auf diesen Gedanken von Tamara Ehs:

„Im Grunde ist es auch egal, wo wir mit der Demokratisierung beginnen; wichtig ist nur anzufangen.“

2023-05-08_fes_Allianzen-des-Fortschritts

Eine Kirche für das Volk!

Eine der beiden Kammern eines Parlamentes kann im übertragenen Sinne wie eine Kirche für das Volk verstanden werden. Das entsprechende Bild dafür lieferte uns Ildefonso Falcones in seinem Historienroman „Die Kathedrale des Meeres„:

„Gefällt sie dir?“, fragte Berenguer de Montagut unvermittelt.
Ob sie ihm gefiel? Diese Frage hatte er sich nie gestellt. Er sah, wie die Kirche wuchs, ihre Mauern, ihre Apsiden, ihre herrlichen schlanken Säulen, ihre Strebepfeiler, aber … Gefiel sie ihm?
„Es heißt, sie wird die schönste aller Kirchen werden, die je auf der Welt für die Jungfrau errichtet wurde“, sagte er schließlich.
Berenguer sah Arnau an und lächelte. Wie sollte er einem Jungen, einem Bastaix, erklären, wie diese Kirche aussehen sollte, wenn nicht einmal Bischöfe und Adlige imstande waren, die Größe seines Projekts zu erahnen?
„Wie heißt du?“
„Arnau.“
„Nun gut, Arnau, ich weiß nicht, ob es die schönste Kirche der Welt wird.“ Arnau vergaß seinen Fuß und sah den Baumeister an. „Aber ich versichere dir, dass sie einzigartig sein wird, und einzigartig bedeutet weder besser noch schlechter, sondern einfach nur das: einzigartig.“
Berenguer de Montagut ließ seinen Blick über den Bau schweifen, dann sprach er weiter: „Hast du schon einmal von Frankreich oder der Lombardei gehört, von Genua, Pisa, Florenz?“ Arnau nickte. Natürlich hatte er von den Feinden seines Landes gehört. „Nun, an all diesen Orten werden ebenfalls Kirchen erbaut. Es sind große Kathedralen, prächtig und über und über mit Schmuckelementen verziert. Die Herrschenden dieser Orte wollen, dass ihre Kirchen die größten und schönsten auf der ganzen Welt sind.“
„Wollen wir das denn nicht?“
„Ja und nein.“ Berenguer de Montagut sah ihn an und lächelte. „Wir wollen, dass dies die schönste Kirche der Menschheitsgeschichte wird. Doch das wollen wir mit anderen Mitteln erreichen als die anderen. Wir wollen, dass das Haus der Schutzpatronin des Meeres das Haus aller Katalanen ist, im selben Geist ersonnen und erbaut, der uns zu dem gemacht hat, das wir sind, indem wir auf unsere ureigenen Elemente zurückgreifen: das Meer und das Licht. Begreifst du?“
Arnau dachte einige Sekunden nach. Dann schüttelte er den Kopf.
„Wenigstens bist du ehrlich“, lachte der Baumeister. „Die Herrschenden handeln zu ihrem eigenen, persönlichen Ruhm. Anders hingegen wir. Ich habe gesehen, dass ihr eure Lasten manchmal zu zweit mit Hilfe einer Stange tragt statt auf dem Rücken.“
„Ja, wenn sie zu groß sind, um sie auf dem Rücken zu tragen.“
„Was würde geschehen, wenn wir die Länge der Stange verdoppelten?“
„Sie würde zerbrechen.“
„Nun, genauso ist es mit den Kirchen der Herrschenden … Nein, ich will damit nicht sagen, dass sie einstürzen“, erklärte er angesichts der erschreckten Miene des Jungen. „Aber weil sie so groß, so hoch und so lang sein sollen, muss man sie sehr schmal bauen. Hoch, lang und schmal, verstehst du?“ Diesmal nickte Arnau. „Unsere wird das genaue Gegenteil sein. Sie wird weder so lang werden noch so hoch, dafür aber sehr breit, damit alle Katalanen hineinpassen, vor ihrer Jungfrau vereint. Wenn sie eines Tages fertig ist, wirst du es sehen. Es wird Raum für alle Gläubigen da sein, ohne Unterschiede, und der einzige Schmuck wird das Licht sein, das Licht des Mittelmeeres. Mehr Schmuck brauchen wir nicht. Nur den Raum und das Licht, das dort hineinfallen wird.“ Berenguer de Montagut deutete auf das Gewölbe und beschrieb eine Handbewegung bis zum Boden. Arnau folgte seiner Hand mit dem Blick. „Diese Kirche wird für das Volk erbaut werden, nicht zum höheren Ruhme eines Fürsten.“
„Meister …“ Einer der Gesellen war zu ihnen getreten. Die Pflöcke und Schnüre waren wieder in Ordnung gebracht.
„Begreifst du nun?“
Eine Kirche für das Volk!

2022-06-24_Beitragsbild_Mehr-Demokratie-Wagen

Ein Bundesrat als Zweite Kammer eines nationalen Parlaments könnte in der Form eines Gemeinwohlrates Teil einer „säkularisierten Ekklesia“ sein, sofern dessen Mitglieder „per Zufallslos […] ausgewählt [werden], um deskriptive Repräsentation zu gewährleisten.“ Tamara Ehs weiter: „Mit dem Einbezug gewöhnlicher Bürger*innen sollen Meinungen von Menschen in den Diskurs Eingang finden, die ansonsten aufgrund ihrer sozialen Herkunft in der politischen Elite kaum abgebildet sind.“ Zusätzlich ist „Demokratie [auch] als Alltagserfahrung [zu] gestalten, insbesondere durch Betriebsdemokratie. Positive Teilhabeerfahrungen im Job schützen nachweislich vor Radikalisierung.“ Beide Aspekte entsprechen jenen Forschungsergebnissen, über die Martina Zandonella am 12. November 2024 im Bundesrat berichtete:

Schließlich scheint die Erkenntnis ewig gültig zu sein, wonach die Demokratie als permanenter Prozess der Beteiligung und Aushandlung (vgl. Jakobinerformel) zu verstehen ist.

Das Soziale ist die beste Medizin!

Auf der Suche nach einem guten Leben für alle bietet uns die Geschichte von Dr. Faust eine interessante Vorlage, die wir uns näher ansehen wollen:

Als Margarete ihre Kleider einräumen wollte entdeckt sie ein Schmuckkästchen und fragt sich: „Wie kommt das schöne Kästchen hier herein?“ Verführerisch „hängt ein Schlüsselchen am Band“, sie benützt dieses und probiert schließlich die „Herrlichkeit“ von einer Kette, mit der „eine Edelfrau am höchsten Feiertage gehn“ könnte. Margarete fragt sich: „Was hilft euch Schönheit, junges Blut?“ und kommt zur Erkenntnis: „Man lobt euch halb mit Erbarmen. Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Ach wir Armen!“

Reich durch unser Engagement für andere

Werden wir in dem Moment, als unser Herz dem äußeren Glanz verfällt zu lebloser Materie? Was sonst könnte Johann Wolfgang von Goethe mit „alles“ gemeint haben? Jedenfalls sind wir arm, sobald wir nach irdischem Reichtum streben.

Reich hingegen werden wir durch unser Engagement zur Abwendung von absoluter und relativer Armut. Doch an dieser Stelle scheiden sich bereits die Geister. Christoph Butterwegge:

Erfolge im Kampf gegen die relative Armut sind viel schwerer zu erringen als im Kampf gegen die absolute Armut, weil die Einkommensverteilung so beeinflusst werden muss, dass niemand zu weit nach unten vom Mittelwert abweicht. Denn im Unterschied zur absoluten Armut, der man auf karitativem Wege, das heißt mit Lebensmitteltafeln, Kleiderkammern und Möbellagern begegnen kann, erfordert die Bekämpfung der relativen Armut, dass man den Reichtum antastet.

Quelle: Die Verharmlosung der Armut, 2016-10-21

 

Solidarität, die sich rechnet

Der Kampf gegen Armut und für sozialen Frieden muss nicht mit Entbehrungen verbunden sein, die als belastend empfunden werden. Er darf auch intelligent geführt werden. So, dass am Ende alle siegen.

Beispiel: „Housing first“. Dieses politische Konzept der Unterstützung von Obdachlosen (über-)fordert diese nicht, sondern es gibt. Andere würden stattdessen von den Betroffenen erwarten, „sich einen Job zu suchen und sich von psychischen Problemen oder Suchterkrankungen selbst zu befreien. Erst dann gibt es Hilfe bei der Wohnungssuche.“1

2021-03-18_kontrast-at_housing-firstDabei wäre es so einfach und gleichzeitig hilfreich für die Mitte der Gesellschaft wie für die sozial Ausgegrenzten:

Soziale Ungleichheit schadet allen, also auch den Reichen

Um den Blick frei zu bekommen dafür, müssen wir uns verabschieden von verschiedenen Überzeugungen, die wir uns angeeignet haben im Glauben an die Versprechungen nach mehr Freiheit für alle. Darin ist eine ganz andere Kette verborgen als die, mit der wir uns zu schmücken versuchen. Denn am Ende aller Flexibilisierung steht Burnout, am Ende aller Ausbildungserfolge 2021-03-22_Einband_Das-Gift-der-Ungleichheit_Dierk-Hirschel_smallbleiben die guten Arbeitsplätze knapp und für viele fehlen sie ganz. Dierk Hirschel: „Die unzähligen Taxifahrer und Paketboten mit akademischem Abschluss legen davon Zeugnis ab. Hier werden häufig Ursache und Wirkung verwechselt. Ein gerechtes Bildungssystem, das alle Kinder zum Abitur und Studium führt, schafft nicht automatisch mehr Verteilungsgerechtigkeit. […] Das spricht nicht gegen notwendige Bildungsreformen, aber gegen die weit verbreitete Illusion, mit Bildungspolitik für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen zu können.“ (Das Gift der Ungleichheit, 2020, S 126 f)

Wir müssen keinem Wachstumsfetisch um jeden Preis anhängen, um Studienergebnisse des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der OECD zu akzeptieren, wonach soziale Ungleichheit der Prosperität eines Landes schadet. Anika Stitz und Silke Birgitta Gahleitner in ihrer Rezension zu Gleichheit ist Glück (…) von Richard Wilkinson und Kate Pickett: „Soziale Probleme sind zwar, wie die AutorInnen hervorheben, vermehrt in den ärmeren Schichten einer Gesellschaft festzustellen, aber häufiger in Gesellschaften, die eine hohe Ungleichheit aufweisen.“3

Reich durch den Kampf gegen Erwerbsarmut und Arbeitslosigkeit

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In diesem Sinne machen wir uns allen einen Gefallen, indem wir uns gewerkschaftlich organisieren, auf der Basis von solidarisch-nachhaltigen Konzepten zivilgesellschaftlich vernetzen und gemeinsam mobilisieren. Dazu müssen wir aufklären. Mitunter auch darüber, dass es Gesetze gibt, die es einzuhalten gilt. Wir müssen aber auch aufklären darüber, dass wir der Souverän in unseren Demokratien sind, die hier Lebenden und Arbeitenden, und nicht das Finanzkapital4. Dessen letzter Zweck darf nicht die Maximierung des Profits um jeden Preis sein, sondern es soll uns ein gutes Leben ermöglichen. Andernfalls wären wir als Menschen genauso arm wie Margarete, wenn sie den gefundenen Schmuck nicht von sich weisen würde, indem sie Marthe gegenüber meint: „Ach Gott! der Herr ist gar zu gut: Schmuck und Geschmeide sind nicht mein.“

So gesehen bereichern wir uns im doppelten Sinne, wenn wir einerseits gegen soziale Ausgrenzung auf den Arbeitsmärkten kämpfen und andererseits dafür volkswirtschaftlich prosperieren. Kulturelle Bildung kann uns dabei helfen, sofern wir „unseren Blick für die Potentiale öffnen, die im Spiel der Wirklichkeit stecken.


Anmerkungen

1 | In: „Finnland hat es geschafft: Es gibt fast keine Obdachlosen mehr!„, veröffentlicht am 10. 11. 2020, 9:21 MEZ

2 | Dierk Hirschel in Das Gift der Ungleichheit: „Die Lohnspreizung spiegelt sich auch in den Monatslöhnen wider. Monatslöhne sind ungleicher verteilt als Stundenlöhne, da die Arbeitnehmer unterschiedlich lange arbeiten. Niedriglohnbezieher schufteten unfreiwillig weniger.“ (S 27) Wie sich Ungleichheit zudem negativ auf alle Steuerzahlenden auswirkt: „Die Ungleichheit in der Primärverteilung ist gewaltig. Was in der ersten Runde der Einkommensverteilung schiefläuft, kann der Staat anschließend nur mühsam mittels Steuern, Abgaben und Transfers korrigieren. Umgekehrt entlastet eine egalitäre Primärverteilung den Staat, da er dann weniger bedürftige Bürger unterstützen muss. Der soziale Ausgleich und somit die Wirksamkeit des Sozialstaats lässt jedoch nach.“ (S 29)

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3 | Anika Stitz/Silke Birgitta Gahleitner. Rezension vom 07.06.2011 zu: Richard Wilkinson, Kate Pickett: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Haffmans & Tolkemitt (bei Zweitausendeins) 2009. 2. Auflage. ISBN 978-3-942048-09-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11444.php, Datum des Zugriffs 30.03.2021

4 | Zwei Aspekte sind hier zu erwähnen, die einander verstärken: einerseits führt Arbeitslosigkeit und materielle Armut neben gesundheitlichen Folgen auch zu sozialer und politischer Ausgrenzung zB durch eine geringere Wahlbeteiligung und andererseits wirkt „selektive Responsivität“ im Rahmen der Gesetzgebung.

Dr. Joseph Kuhn am Schluss seines Beitrages „Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Ergebnisse aus der bayerischen Gesundheitsberichterstattung“ resümierend: „Zu starke soziale Ungleichheit scheint, wie internationale Studien zeigen, gesundheitlich für alle abträglich zu sein, auch für die wohlhabenderen Gruppen (Wilkinson/Pickett 2010). Von einer erfolgreichen Umsetzung des „Health in all Policies“-Ansatzes würde also die Gesellschaft insgesamt profitieren.“ (S 15)

Mit anderen Worten: Das Soziale ist die beste Medizin! (S 6)

Dieser mittlerweile oft zitierte Gedanke wurde vermutlich erstmals von Ilona Kickbusch als Bezeichnung verwendet für ihren gleichnamigen Vortrag auf dem Kongress „Armut und Gesundheit“ im Dezember 2000.

Aus der Fülle konkreter Anwendungen seien Social Prescribing und gesellschaftliche Teilhabe genannt. Die Rahmenbedingungen dafür und für jede weitere soziale Innovation sind so zu gestalten, dass sie diese zeitnah und bundesweit fördern.


Nachsatz

Was muss geschehen, dass Gesetze und Verordnungen „das Soziale als die beste Medizin“ fördern? Aktionismus wird dazu nicht reichen, denn wie wir gesehen haben, konnten 100.000 Demonstrierende gegen den 12-Stunden-Tag diesen nicht verhindern. Jahre später gibt es ihn noch immer, inklusive der geöffneten Tür zur Sonntagsarbeit. Vermutlich werden wir so etwas wie eine zivilgesellschaftliche Mitentscheidung brauchen, zB in Form von Räten bei der Formulierung von Gesetzen und Verordnungen oder als Kontrollinstanz.

Auch innerhalb der Interessensvertretungen gilt es hinsichtlich der Zielabwägungen aufzupassen. Insbesondere dann, wenn der „Health in All Policies„-Ansatz als Argument dafür dient, um in einer zunehmend von Erwerbslosigkeit und prekären Arbeitssituationen gebeutelten Arbeitswelt einen späteren Pensionsantritt zu unterstützen (siehe FSG-Antrag 8).

Glasperlenspiel

2017-03-03_kulturpreis_empfehle-uns-deine-favoritinUm postdemokratischen Tendenzen in unseren Gesellschaften proaktiv zu begegnen, benötigen wir nach Colin Crouch u. a. „Maßnahmen, die darauf zielen, die wachsende Dominanz der ökonomischen Eliten zu begrenzen.“

Im Vorfeld derselben – zB eines Rates zur Förderung von Gemeinwohl – könnte ein Veranstaltungsformat das Ziel haben, Mitglieder dafür zu werben und zu wählen. Eine Aufgabe dieser Institution sollte dabei die Förderung von Chancengerechtigkeit sein. Für Margit Fischer bedeutet sie, „den einzelnen Menschen in Wettbewerbssituationen – sei es der Zugang zur Bildung oder der Zugang zu gesunden Lebensbedingungen etc. – gleichartige Ausgangspositionen einzuräumen.“ Soziale Ungleichheit würde sich damit allerdings noch nicht aus der Welt schaffen.

Die von John Kenneth Galbraith erstmals in diesem Zusammenhang erwähnte und von Sir Anthony B. Atkinson in Ungleichheit mehrfach genannte „Gegenmacht“ ist insofern zu organisieren und attraktiv zu gestalten, wenn wir ausgehend von der Mitte unserer Gesellschaften auch deren Ränder wieder stärken wollen. Hermann Hesse gibt uns in seinem Werk Glasperlenspiel diese Hinweise, die es dabei zu berücksichtigen gilt:

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Neben der erforderlichen Attraktivität dieser Veranstaltungen lässt die von Hesse beschriebene Zukunftswelt noch weitere Vergleiche zu. Einer davon ist das Spiel an sich: spielerisch lernen wir uns zu entwickeln. Ein weiterer ist die mögliche Konsequenz für uns im Einzelnen, als auch für unsere Zivilisationen, wenn wir die Zeichen der Zeit missachten: verzückt durch die „schöne Sonne“ (S 469) wollen wir nicht wissen, wie der Wettkampf mit ihr durch eiskalte Gletscherwasser endet.

Dabei könnten wir unser Glück auch auf friedlichen Wegen erreichen, ohne eigene oder fremde Opfer zu riskieren. Sir Karl R. Popper entwarf hierzu folgendes Bild:

Um einer weiteren „Versklavung der ökonomisch Schwachen“* erfolgreich Einhalt zu gebieten, „müssen wir die ‚bloß formale Freiheit‘ einführen. Und sobald uns das gelungen ist, sobald wir gelernt haben, sie zur Kontrolle der politischen Gewalt zu verwenden, von diesem Augenblick an hängt alles von uns selbst ab. Wir dürfen nicht mehr andere Menschen tadeln, wir dürfen auch nicht die dunklen ökonomischen Dämonen hinter der Szene anklagen. Denn in einer Demokratie besitzen wir den Schlüssel zur Kontrolle der Dämonen. Wir können sie zähmen. Es ist wichtig, daß wir diese Einsicht gewinnen und die Schlüssel gebrauchen; wir müssen Institutionen konstruieren, die es uns erlauben, die ökonomische Gewalt auf demokratische Weise zu kontrollieren und die uns Schutz vor der ökonomischen Ausbeutung gewähren.“*

2017-03-03_postkarten_oekonomie-des-vertrauens_spielende-kinder-auf-der-stiegeGewiss bezieht sich Karl Popper hier insbesondere auf „die Kontrolle der physischen Gewalt und der physischen Ausbeutung“* als „zentrale(s) politische(s) Problem“*. Und dennoch liegt er – trotz der Kenntnis um die verschiedensten Formen von Gewalt – damit sehr nahe am Kern, an dem der erste Hebel anzusetzen ist, wenn wirtschaftliche Rahmenbedingungen Gesundheit gefährden und Leben verkürzen. Peter Schallenberg beschreibt das so:

„Papst Gelasius I. (492-496) entfaltet schließlich die augustinische Zwei-Reiche-Lehre zur Zwei-Gewalten-Lehre, und dies ist dann in der Tat neu gegenüber dem politischen Denken der heidnischen Antike, aber konsequent in der Weiterentwicklung der politischen Eschatologie des Alten Testaments. Zugleich damit entfaltet sich die Differenzierung von sakramentalem forum internum und politischem forum externum, die zwar voneinander unterschieden bleiben – und daher auch Staat und Kirche, Politik und Religion unterschieden sind – und dennoch aufeinander bezogen sind, und zwar in der augustinischen Rangfolge des Innen vor dem Außen: erst eine innere Bekehrung verwandelt die äußeren Umstände, aber zugleich stützen und ermöglichen äußere gerechte Zustände eine innere Bekehrung des Menschen zum Guten, der ohne äußere Gerechtigkeit der inneren Lieblosigkeit zum Opfer fiele.“**

Aktiv an der FAIRänderung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen mit zu gestalten heißt, das Wohl der sonst Leidenden zu verbessern, „da soziale Sicherheit zu wirtschaftlicher Effizienz, Stabilität und Kontinuität in der Gesellschaft beitragen“***. Sich mit voller Kraft dafür einsetzen gefährdet den sozialen Frieden weniger, als dies zu unterlassen, denn mit Popper können wir sagen: in der Demokratie besitzen WIR durch die Herrschaft des Staatsvolkes die Schlüssel zur Kontrolle der Dämonen und aus unseren Erkenntnissen heraus MÜSSEN wir Institutionen konstruieren, die die ökonomische Gewalt auf demokratische Weise kontrollieren und so Schutz gewähren vor ökonomischer Ausbeutung!

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*| Karl R. Popper, in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, München: Francke, 1980, 6. Aufl., S 159 – weitere Textausschnitte

**| Peter Schallenberg, in seinem Vorwort: „Die franziskanische Spiritualität und eine christliche Moralökonomie“ zur deutschen Ausgabe: Zivilökonomie, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2013, S 23  – weitere Textausschnitte

***| Harald Bretschneider, in seinem Referat „Diakonie und Wettbewerb“ während der 3. Tagung der 9. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Münster, 1. bis 6. Nov. 1998

2017-03-05_die-folgen-wirtschaftlicher-rahmenbedingungen

communio

logo_communio-bosolei-com Aus Sicht der Katholischen Soziallehre ist Armut zumeist Ergebnis von strukturellen Barrieren, die Menschen in ihren Möglichkeiten begrenzen und sie somit in ihrer persönlichen Entwicklung und Freiheit, in Würde zu leben, einschränken. Sie zeigt sich in vielfältiger Weise und lässt sich nicht allein auf einen Mangel an finanziellen Mitteln reduzieren, sondern bezieht sich auf alle Aspekte des Lebens, die persönliche Entwicklung hemmen. Dies schließt einen unzureichenden Zugang zu Bildung, Sozialdienstleistungen und Energie, aber auch die Folgen der Umweltzerstörung mit ein. aus: COMECE-Erklärung vom 12.12.2016 „Verschafft Recht den Unterdrückten“ (Psalm 82,3)

… es geht um einen Ausgleich (2Kor 8,13)

Um den verschiedenen Formen struktureller Ausgrenzung wirksam begegnen zu können, bedarf es in einem demokratischen Staatswesen einer reflektierendenlebendigen Kraft aus der Mitte der Gesellschaft. In ihr spiegelt sich „eine Vielfalt und eine Verschiedenheit, die der Einheit nicht nur nicht im Wege stehen, sondern ihr im Gegenteil den Charakter der ‚Communio‘ verleihen“ (Communionis notio 15). Wie die europäischen Bischöfe in ihrer COMECE-Erklärung vom 12.12.2016 die EU auffordern, „ihren Dialog mit allen relevanten Akteuren zu verstärken„, ebenso sehr sind wir im Rahmen der diakonie Diakonie auf nationaler Ebene aufgefordert, den Interessensausgleich zwischen verschiedenen Anspruchsgruppen zu suchen und strukturell zu manifestieren. Ohne diese Bemühungen blieben viele weiterhin arm! Dazu ist auch jene Wortspende von Diözesanbischof Manfred Scheuer anlässlich des Tages der Arbeitslosen 2017 zu zählen: „Durch die Erwerbsarbeit und die Höhe des daraus resultierenden Einkommens werden Menschen bewertet. In einer solchen Gesellschaft werden arbeitslose Menschen und Menschen ohne Erwerbschance buchstäblich ‚wertlos‘ gemacht.“ 2019-11-17_Oeko-Sozial-Rat_legitimiert-zur-Gemeinwohlkontrolle

„Ein Christentum, das unpolitisch ist, ist kein Christentum.“ (Wolfgang Pucher)

Aus der Mitte der Gesellschaft empfohlene und gewürdigte Organisationen aus der Zivilgesellschaft oder Menschen aus Politik, Wirtschaft, Kunst & Kultur oder ökosozialen Diensten können die mit dem Interessenausgleich verbundenen Aufgaben zB im Rahmen eines nationalen ÖkoSozialRates – zB in der Version eines Bundes- & Gemeinwohlrates – leisten und so die erforderlichen Brückenfunktionen erfüllen. Diese bestehen zuerst darin, die Themen der Ausgegrenzten & Randgruppen in den Vordergrund zu rücken, ganz nach dem Motto des schwächsten Gliedes, an dem die Kette – in unserem Fall die Gemeinschaft – zu brechen droht. Denkbar ist auch ein Meinungsaustausch mit parteipolitischen Interessenvertreter*innen im Sinne von Town-Hall-Meetings. Dies erfordert jedenfalls unser Engagement für die Wahl unserer Vertreter*innen in einen ÖkoSozialRat als GemeinWohlRegierung, denn die Verantwortung für die Gestaltung eines friedlichen Miteinander beginnt bei uns. 2017-06-08_wiener-zeitung_bahnticket-geht-unter-die-haut Friedrich L. Sell und Marcus Wiens in Gesellschaftspolitik: Überwindung des Vertrauensdilemmas kann erfolgen durch
  • gegenseitige Sympathie
  • Information/hoher Wissensstand übereinander
  • wiederholte Interaktionen und
  • Moral
Aus einer christlich-moralökonomischen Sicht liest sich das so: „… erst eine innere Bekehrung verwandelt die äußeren Umstände, aber zugleich stützen und ermöglichen äußere gerechte Zustände eine innere Bekehrung des Menschen zum Guten, der ohne äußere Gerechtigkeit der inneren Lieblosigkeit zum Opfer fiele.“ (Peter Schallenberg, in: Zivilökonomie, 2013, S 23) 2017-02-22_ehemaliger-header-auf-twitter_regionale-wirtschaftsstrukturen-fuer-generationen_mit-schallenberg-zitat

Diese und die Seite „FAIRteilung“ zum Download als pdf


Weiterlesen, -sehen & -hören
Im Jahr 2025, nach dem ersten Pontifikat zu Ehren des Heiligen Franziskus, lesen wir bei Christian Brunnthaler (S 9): „Die Sorge um das gemeinsame Haus (die Erde) ist heute ein integraler Bestandteil christlicher Jüngerschaft. Damit verbunden ist die soziale Dimension: Klimagerechtigkeit, Migration, Armut und Ausbeutung stehen im Zentrum kirchlicher Weltverantwortung. Die Option für die Armen wird global neu akzentuiert. Die Kirche ist gerufen, prophetisch zu sein: solidarisch, unbequem und hoffnungsvoll. 6. Ekklesiologische Neuorientierung Theologisch ist all dies Ausdruck einer ekklesiologischen Neuorientierung: Die Kirche versteht sich nicht mehr primär als hierarchische Institution, sondern als Gemeinschaft der Glaubenden, als communio, als Sakrament der Einheit in der Vielfalt.“ Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, wie diese Worte zuerst interpretiert wurden und wieviele Jahrhunderte es brauchte, bis sie begonnen haben sich wirkungsvoll zu verbreiten: „Franziskus, geh hin und stelle mein Haus wieder her, das, wie du siehst, schon ganz verfallen ist.“ (Wikipedia)